Am 28. Februar 2023 kollidierten zwischen Athen und Thessaloniki zwei Züge auf offener Strecke miteinander. Die Schuld für die zahlreichen Toten und Schwerverletzten wurde von der Konzernseite den Beschäftigten zugeschoben. Damals formierten sich umgehend massive Proteste, die sich zu landesweiten Streiks verbanden. Zum zweiten Jahrestag der Katastrophe veröffentlichen wir erneut unser Interview mit Minoas Andriotis, ergänzt um eine aktuellen Bericht zu den jüngsten Protesten
Minoas Andriotis ist ehrenamtlich aktiv in der Gewerkschaft ver.di.
Svu: Aktuell gibt es massenhafte Proteste in Griechenland. Kannst du uns erzählen, was passiert ist?
Minoas: Am späten Abend des 28. Februar [2023] gab es auf der Strecke zwischen Athen und Thessaloniki einen schweren Zugunfall. Ein Güter- und ein Personenzug sind mit voller Geschwindigkeit gegeneinander gefahren. 57 Menschen starben. Die Trauer um die Opfer ist groß, aber viele Menschen sind auch wütend, weil sie den Unfall nicht als Unglück ansehen, sondern als Folge einer Politik, für die Menschenleben wenig zählen.
Trotz Trauer und Schock gab es deshalb schon nach wenigen Tagen die ersten großen Demonstrationen. Diese halten seitdem an und verbinden sich mit Streiks von Beschäftigten der Bahn und aus anderen Branchen.
Wieso löste der Zugunfall solche Proteste aus?
Am Tag nach dem Unfall sagte der konservative Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis, dass der Grund für die Tragödie »hauptsächlich ein menschlicher Fehler« gewesen sei. Damit meinte er den Fehler des Bahn-Beschäftigten, der dafür verantwortlich gewesen war, zu koordinieren, welcher Zug auf welchem Gleis fährt. Es stimmt, dass dem Bahn-Beschäftigten ein Fehler unterlaufen ist, aber Mitsotakis‘ Aussage war für viele wie ein Schlag ins Gesicht.
Denn wie kann es sein, dass so viele Menschenleben davon abhängen, ob ein einzelner Beschäftigter bei der Bahn fehlerfrei arbeitet? Es kann passieren, dass der Kollege übermüdet oder für einen Moment unkonzentriert war. Für solche Fälle sollte es dennoch genug Personal geben, sodass die Kolleg:innen sich gegenseitig unterstützen können. Darüber hinaus sollte es IT- und Telekommunikations-Systeme geben, die eine mehrfache Absicherung ermöglichen.
Die Bahn in Griechenland hat aber weder genügend Personal, noch laufen die notwendigen IT- und Telekommunikations-Systeme. Im Fall des jüngsten Unfalls gab es für den Streckenabschnitt sogar vor einigen Jahren noch entsprechende Systeme – sie wurden aber abgestellt, um Kosten zu sparen.
Der Unfall war also offensichtlich kein Unglück, sondern nur eine Frage der Zeit
Allgemein sind in Griechenland weite Bereiche der Infrastruktur und der Grundversorgung durch Privatisierung und Sparpolitik in den Jahren der Krise stark heruntergewirtschaftet worden. Dies geschah vor allem auf Betreiben des deutschen Staates, der EU und der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds. Die Regierung SYRIZA-ANEL hat den Bahnverkehr im Jahr 2017 in diesem Rahmen für nur 45 Millionen Euro an die staatliche Bahngesellschaft Italiens verkauft und damit effektiv privatisiert.
Der gefährliche Zustand der Bahn in Griechenland war bekannt. Bahn-Gewerkschafter:innen hatten sich mit ihrer Kritik deshalb auch vielfach an die Unternehmensführung und die Regierung gewendet – zuletzt am 7. Februar 2023. Die Kolleg:innen haben aus diesem Grund sogar mehrmals gestreikt. Auch im Parlament wurde der Zustand der Bahn zum Thema gemacht – vor allem von der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE). Als die Sicherheit des Bahnverkehrs acht Tage vor dem Unfall im Parlament diskutiert wurde, bezeichnete der Minister für Infrastruktur und Verkehr es aufgebracht als eine »Schande«, dass diese Sicherheitsfragen überhaupt aufgeworfen wurden.
Der Unfall war also offensichtlich kein Unglück, sondern nur eine Frage der Zeit. Deshalb ist die Wut so groß. Viele sprechen von einem »Verbrechen«, einem »staatlichen Mord«. Die Wut hat sich noch dadurch gesteigert, dass die Regierung die politische Verantwortung von sich gewiesen hat und dass große Medien zu unkritisch berichtet haben – mal wieder.
Wann kam es zu den ersten Protesten?
Direkt am Tag nach dem Unfall gab es Kundgebungen in Trauer um die Opfer – unter anderem vor der Zentrale von Hellenic Train, dem ehemals öffentlichen Bahnverkehrsunternehmen. Schon da konnte man Banner sehen, auf denen stand: »Eure Gewinne sind unsere Toten!«
Außerdem sind die Bahn-Beschäftigten in Reaktion auf den Unfall für mehrere Tage in den Streik getreten. Sie kritisieren, dass die Regierungen jahrelang nichts gegen den gefährlichen Zustand gemacht haben, obwohl die Gewerkschaften ihn immer wieder zum Thema gemacht haben.

Wie ging es dann weiter?
Auch in den Folgetagen sind täglich Tausende auf die Straßen gegangen – und es wurden immer mehr. In vielen Städten waren die Demonstrationen die größten der letzten Jahre, teilweise sogar der letzten Jahrzehnte. Die Polizei ging an einigen Orten und vor allem in Athen mit Gewalt gegen friedliche Proteste vor. Sie feuerte Tränengas und Blendgranaten in die Menge und versuchte, die Versammlungen zu zerstreuen.
Da unter den 57 Opfern des Unfalls viele junge Menschen waren, geht die Tragödie der Jugend besonders nahe. Deshalb gab es innerhalb weniger Tage nach dem Unfall auch Schulstreiks und in einer Reihe von Städten wurden Universitäts-Gebäude und Schulen besetzt.
Linke Organisationen beteiligen sich natürlich an den Protesten und Aktionen, aber der Antrieb kommt in erster Linie aus der Bevölkerung selbst. Es beteiligen sich auch viele Menschen, die sich vorher nicht groß mit Politik beschäftigt haben oder die bisher kaum auf einer Demonstrationen gewesen sind. Aber sie wollen es einfach nicht mehr hinnehmen, dass Menschenleben für Profit aufs Spiel gesetzt werden. Eine viel gerufene Parole dieser Tage lautet: »Ihr sprecht über Gewinn und Verlust – wir sprechen über Menschenleben.«
Die Dynamik hat sich so weit gesteigert, dass Gewerkschaften für den 8. März zum landesweiten Streik aufgerufen haben. Es gibt in Griechenland zwei Gewerkschafts-Dachverbände – einen für den öffentlichen Sektor (ADEDY) und einen für den privaten Sektor (GSEE). Aufgerufen hat für den 8. März die ADEDY, die GSEE nicht. Trotzdem haben aus dem privaten Sektor aber eine Reihe von Branchengewerkschaften und lokale Gewerkschafts-Gliederungen zum Streik aufgerufen.
In 70 Städten sind Streik-Demonstrationen bzw. -Kundgebungen angemeldet.
Das Ergebnis war die größte Streik-Demonstration seit den Jahren der Krise. Allein in Athen haben sich über 40.000 Menschen beteiligt, aber auch in Thessaloniki und Patras seien mehr als 10.000 auf der Straße gewesen. An vielen Orten wurden die Demonstrationen zum internationalen feministischen Kampftag, dem 8. März, dabei mit dem politischen Streik zusammengeführt.
Auch nach dem großen Streik gingen die Massenproteste weiter. Für den 16. März haben nun beide Gewerkschafts-Dachverbände zum Generalstreik aufgerufen. In 70 Städten sind Streik-Demonstrationen bzw. -Kundgebungen angemeldet. Selbst wenn nicht-kämpferische Teile der Gewerkschaftsbewegung keinen politischen Streik wollen – bei der Wut, die breite Teile der Bevölkerung verspüren, und bei der Stärke der Proteste kommen sie jetzt nicht mehr daran vorbei.
In Griechenland zahlen Gewerkschaften den Streikenden übrigens kein Streikgeld, wie das in Deutschland der Fall ist. Jeder Tag Streik bedeutet also einen Tag ohne Lohn. Das zeigt nochmal die Entschlossenheit der Kolleg:innen.

Was sind die Inhalte der Proteste? Was sind die Forderungen der Teilnehmenden?
Zentraler Antrieb der Proteste ist meiner Einschätzung nach für viele Menschen erst einmal die Wut. Die Wut darüber, dass die öffentliche Infrastruktur des Landes in den letzten 15 Jahren an vielen Stellen kaputtgespart wurde. Dabei wird nicht nur die aktuelle Regierung der rechten Nea Dimokratia als verantwortlich gesehen, sondern auch ihre Vorgängerregierungen, die Privatisierung und Sparpolitik umgesetzt haben.
Auch SYRIZA steht aktuell nicht gut da. Die Oppositionspartei versteht sich zwar als links, hat aber von 2015 bis 2019 an der Regierung eine ähnliche Politik verfolgt wie die anderen Regierungsparteien vor ihr – und schließlich hat sie den Bahnverkehr 2017 effektiv privatisiert. Auch hier drückt eine Parole der Proteste treffend aus, was viele Menschen denken: »SYRIZA, PASOK, Nea Dimokratia – dieses Verbrechen hat eine Geschichte.«
Die Protestierenden fordern dementsprechend auch, dass die Vorgeschichte des Unfalls aufgearbeitet wird und dass die Verantwortlichkeiten bei der Bahn und in der Politik benannt werden. Die ADEDY fordert auf ihrem Plakat für den Generalstreik, »dass die Schuldigen bezahlen – wie ›hoch‹ sie auch stehen.«
Die allgemeine Forderung in Bezug auf die Bahn ist, dass sie ein sicheres Verkehrsmittel wird. Die IT- und Telekommunikations-Systeme sollen in Betrieb genommen werden, Sicherheitsstandards sollen eingehalten werden. Außerdem sollen Bus und Bahn als lebenswichtige Infrastruktur günstig sein. Viele kritisieren auch grundlegender die Privatisierungs-Politik, fordern den Stopp jeglicher Privatisierungen und die Rückführung der Bahn in die öffentliche Hand.
Bei den Protesten geht es aber bei Weitem nicht nur um die Bahn. Es geht grundlegend um die Frage, wie Infrastruktur organisiert sein soll und nach welcher Logik die Politik sich richten soll. Denn für die Protestierenden ist der Zugunfall Ausdruck allgemeiner gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Probleme. Der Satz »Unsere Leben stehen über ihren Profiten!« steht sogar auf dem Generalstreik-Plakat der ADEDY.
Die Forderung »Leben über Profite« weist über den Kapitalismus hinaus.
Welche Perspektive siehst du für die Bewegung, dass ihre Forderungen umgesetzt werden?
Die Protestbewegung hat bereits erreicht, dass die Regierung und regierungsnahe Medien zurückrudern musste. Die Geschichte vom individuellen »menschlichen Fehler« war bei dem starken Gegenwind nicht haltbar. Mehrmals mussten sich Politiker:innen und Journalist:innen aufgrund des öffentlichen Drucks für unangemessene Aussagen entschuldigen. In den Medien wird jetzt außerdem vermehrt über die politischen Ursachen des Unfalls gesprochen. Die Kritik an Privatisierungen kommt dort allerdings nur von Linken.
Für den April waren eigentlich Wahlen angesetzt, die wegen des Zugunfalls aber wahrscheinlich nach hinten verschoben werden. In den neusten Umfragen ist die rechte Nea Dimokratia noch an erster Stelle, aber der Abstand zwischen ihr und SYRIZA verringert sich. Es besteht die Möglichkeit, dass SYRIZA dieses Jahr schafft, eine Mitte-Links-Koalition zu bilden und die rechte Alleinregierung der Nea Dimokratia abzulösen.
Positiv daran wäre, dass die Nea Dimokratia ihren autoritären Kurs nicht mehr aus der Regierung weiterverfolgen könnte – teils war in den letzten Jahren sogar von »Polizeiherrschaft« die Rede. Aber auch von SYRIZA können Linke nicht viel erwarten. Die Partei hat in ihren viereinhalb Jahren an der Regierung den kapitalistischen Staat verwaltet wie die anderen kapitalistischen Parteien auch. Der Großteil der linken Kräfte hat die Partei längst verlassen.
Die sozialistische Linke sollte sich darauf konzentrieren, die Kraft der aktuellen Proteste in dauerhafte Bahnen zu lenken. Denn auch wenn die Regierungsfrage nicht ohne Bedeutung ist – sie wird die Probleme, um die es aktuell geht, nicht lösen. Die Forderung »Leben über Profite« weist über den Kapitalismus hinaus. Der Kampf gegen den Kapitalismus findet nicht im Parlament statt, sondern in den Betrieben, den Stadtteilen, den Schulen, den Universitäten und auf der Straße.
Danke dir.
Die Fragen stellte Simo Dorn. Die Recherche unterstützte Tina Soupo.
Erstveröffentlicht am 15.03.2023. Aktualisiert mit redaktioneller Anmerkung am 28.02.2025
Redaktioneller Bericht zum zweiten Jahrestag der Zugkollision (Februar 2025):
Zwei Jahre nach der Tragödie von Tempi brennt die Wut in der griechischen Bevölkerung erneut. Die Ausmaße der Mobilisierung vor zwei Jahren waren beeindruckend: Etwa 2,5 Millionen Menschen beteiligten sich an landesweit politischen Streiks (in Griechenland ohne Lohnausgleich) und Demonstrationen nach der Kollision. Das waren Massenproteste, wie sie Griechenland seit den Jahren der (deutschen) Austeritätspolitik nach 2008 nicht mehr gesehen hatte.
Zugkollision: Keine Konsequenzen
Die Proteste bündelten die gesamte gesellschaftliche Frustration über ein System, in dem Profit über Menschenleben gestellt wird. Umfragen bestätigten, was auf der Straße längst offensichtlich war: 87 Prozent der Bevölkerung sahen nicht allein den Fahrdienstleiter in der Verantwortung – entgegen der anfänglichen Darstellung der rechts-neoliberalen Regierung. Für 58 Prozent trug die Privatisierung der Eisenbahn eine klare Mitschuld an der Katastrophe.
Besonders erschütternd ist, dass sich auch nach zwei Jahren praktisch nichts an den Zuständen geändert hat. Laut einer aktuellen Umfrage vertrauen 81 Prozent der Bevölkerung den Eisenbahnen nach wie vor nicht und sind überzeugt, dass die Regierung seitdem nichts verbesserte Sicherheit getan hat. 72 Prozent werfen der Regierung eine systematische Vertuschung des Falls vor.
»Wir haben keinen Sauerstoff!«
Diese Vertuschung begann unmittelbar nach dem Kollision: Das Katastrophengebiet wurde eilig mit Erde bedeckt, um den ausgetretenen Gefahrstoff, den der Cargo-Zug geladen hatte, zu vertuschen. Es kann nur spekuliert werden, ob und wie viele Zugreisende durch den Gefahrstoff an der Unfallstelle und nicht die Kollision selbst zu Tode kamen. »Wir haben keinen Sauerstoff!« – ist einer von vielen Slogans, die auf die Gefahr am Unfallort durch Gefahrstofftransport aufmerksam gemacht werden. Unmittelbar nach der Bekanntwerdung der versuchten Vertuschung Ende Januar diesen Jahres. Die Polizei ging vor zwei Jahren und auch heute wieder brutalst gegen Proteste vor. Eine Aufarbeitung wird seitdem staatlich verhindert, die Verantwortlichen geschützt und der Fahrdienstleiter des Personenzuges wurde zum allein Schuldigen erklärt. Die Untersuchungsausschüsse entpuppten sich als Farce. Besonders skandalös: Beteiligte Abgeordnete der Regierungspartei Nea Dimokratia wurden später zu stellvertretenden Ministern befördert. Bis heute gab es keine staatliche Aufarbeitung der Vorfälle an jenem abend.
Die Familien der Opfer, allen voran Maria Karystianou, kämpfen trotz vulgärer und sexistischer Angriffe weiterhin für Gerechtigkeit. Besonders zynisch erscheint im Nachhinein die Erklärung des damaligen Ministers Georgiades: »Wenn ich gesagt hätte, dass die Züge problematisch sind, wäre niemand eingestiegen.« Ministerpräsident Mitsotakis erklärte die 57 Toten zu einem »Opfer«, das nötig sei, um die Eisenbahn zu einem »sicheren Verkehrsmittel« zu machen.
Privatisierungen töten
Zum zweiten Jahrestag formiert sich erneut internationaler Protest. In mehr als 80 Städten und 30 Ländern in ganz Europa sind Demonstrationen angekündigt. Die Forderung ist klar und unmissverständlich: »Privatisierungen töten. Verstaatlichung der Züge ohne Entschädigung für Hellenic Train unter Arbeiterkontrolle.«
Die Tragödie von Tempi ist längst mehr als ein verheerender Unfall – sie steht symbolisch für die tödlichen Auswirkungen eines Wirtschaftssystems, in dem Profitinteressen systemisch über Menschenleben gestellt werden.




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Titelbild: Ergatiki Allilegii, ergatiki.gr