Was ist Rassismus?

Eine marxistische Analyse von systemischer Unterdrückung namens Rassismus. Von Alex Callinicos

Karl Marx über die Ursachen des Rassismus

Marx und Engels setzten sich früh mit dem Phänomen des modernen Rassismus auseinander, mit dem sie beispielsweise in Gestalt der Spaltung zwischen englischen Arbeitern und irischen Einwanderern konfrontiert waren.

In einem berühmten Brief vom 9. April 1870 an Meyer und Vogt erläuterte Marx, wie rassistische Spaltungen zwischen einheimischen und ausländischen Arbeitskräften die Arbeiterklasse schwächen können. Marx argumentiert, dass der irische Befreiungskampf für nationale Selbstbestimmung für die britische Arbeiterklasse von entscheidender Bedeutung war:

Und das Wichtigste! Alle industriellen und kommerziellen Zentren Englands besitzen jetzt eine Arbeiterklasse, die in zwei feindliche Lager gespalten ist, englische proletarians und irische proletarians. Der gewöhnliche englische Arbeiter hasst den irischen Arbeiter als einen Konkurrenten, welcher den standard of life [Lebensstandard] herabdrückt. Er fühlt sich ihm gegenüber als Glied der herrschenden Nation und macht sich eben deswegen zum Werkzeug seiner Aristokraten und Kapitalisten gegen Irland, befestigt damit deren Herrschaft über sich selbst. Er hat religiöse, soziale und nationale Vorurteile gegen ihn. Er verhält sich ungefähr zu ihm wie die poor whites [armen Weißen] zu den [BIPoC] in den ehemaligen Sklavenstaaten der amerikanischen Union. Der Irländer pays him back with interest in his own money [zahlt ihm mit gleicher Münze zurück]. Er sieht zugleich in dem englischen Arbeiter den Mitschuldigen und das stupide Werkzeug der englischen Herrschaft in Irland.

Dieser Antagonismus wird künstlich wachgehalten und gesteigert durch die Presse, die Kanzel, die Witzblätter, kurz, alle den herrschenden Klassen zu Gebot stehenden Mittel. Dieser Antagonismus ist das Geheimnis der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse, trotz ihrer Organisation. Er ist das Geheimnis der Machterhaltung der Kapitalistenklasse. Letztere ist sich dessen völlig bewusst.

In dieser bemerkenswerten Passage entwirft Marx die Umrisse einer materialistischen Erklärung des Rassismus im modernen Kapitalismus. Wir können sie dahingehend verstehen, dass er drei Hauptbedingungen für die Existenz des Rassismus aufzeigt.

I. Wirtschaftliche Konkurrenz zwischen Arbeitern

»Der gewöhnliche englische Arbeiter hasst den irischen Arbeiter als einen Konkurrenten, welcher seinen standard of life herabdrückt.« (Marx)

Ein bestimmtes Muster der Kapitalakkumulation erfordert eine entsprechende Verteilung der Arbeit, die sich auf dem Arbeitsmarkt in den Lohnunterschieden widerspiegelt. Speziell in Perioden, in denen sich das Kapital neu strukturiert und infolgedessen die Arbeit entqualifiziert wird, tendieren Kapitalisten (wie sie nun einmal sind) dazu, gelernte durch ungelerntere und billigere Arbeiter zu ersetzen. Wenn diese zwei Arbeitergruppen von unterschiedlicher Nationalität sind und deshalb wahrscheinlich verschiedene Sprachen sprechen und andere Traditionen haben, existiert das Potenzial für die Entwicklung rassistischer Antagonismen zwischen den beiden Gruppen.

Dieses Muster hat sich in der Geschichte der amerikanischen Arbeiterklasse oft genug wiederholt. Einen solchen Prozess der Umstrukturierung mit Entqualifizierungstendenzen als Folge hat es in den Jahren 1960-73 in der westdeutschen Industrie gegeben. Die Zahl ausländischer Arbeiter wuchs von 100.000 auf 2,5 Millionen. Parallel dazu nahm der (deutsche) Facharbeiteranteil ab. So ging zwischen 1966 und 1971 der Anteil männlicher Facharbeiter in Industrie und Handel um 5 Prozent zurück, der Anteil der un- und angelernten Arbeiter stieg um 2 bis 3 Prozent. Die neuen Angelernten bestanden fast ausschließlich aus industrieungewohnten Menschen aus ländlichen Gegenden Anatoliens, Siziliens und Südspaniens.

Im Jahr 1973 kam es zu einem »Aufstand der neuen Angelernten«, das heißt zu einer Welle von sehr kämpferischen, spontanen Streiks gegen unmenschliches Arbeitstempo und Niedriglöhne. Die Tatsache, dass das Gros der Streikenden aus Immigranten bestand, erlaubte es jedoch den Bossen und Medien von »Türkenstreiks« (Bild-Zeitung) zu sprechen und (deutsche) Facharbeiter teilweise gegen die Streikenden aufzuhetzen.

Die rassistischen Spaltungen brauchen jedoch nicht immer von den gelernten Arbeitern, die ihre Position verteidigen, auszugehen. Verschiedentlich wurden im 19. und 20. Jahrhundert amerikanische Schwarze von weißen Arbeitern aus ihren Facharbeitermischen heraus gedrängt, in denen es ihnen gelungen war, sich zu etablieren, so zum Beispiel von ungelernten irischen Arbeitern in der Zeit vor dem Bürgerkrieg.

II. Warum findet die rassistische Ideologie Anklang bei weißen Arbeitern?

»Der gewöhnliche englische Arbeiter […] fühlt sich ihm gegenüber als Glied der herrschenden Nation.«

Der bloße Tatbestand der ökonomischen Konkurrenz zwischen den unterschiedlichen Gruppen von Arbeitern reicht alleine nicht aus, um die Entwicklung rassistischer Gegensätze zu erklären. Warum finden rassistische Ideen Anklang bei weißen Arbeitern? Eine Antwort lautet, weil dies in den wirtschaftlichen Interessen der weißen Arbeiter eine Grundlage hat: Weiße Arbeiter profitieren mit anderen Worten materiell von rassistischer Unterdrückung. Diese Erklärung ist, wie ich noch aufzeigen werde, falsch.

Die Basis für eine bessere Erklärung ist von W. E. B. Du Bois in seinem großen Werk »Black Reconstruction in America« (1935) umrissen worden. Du Bois hat versucht, die Spaltung der schwarzen und weißen Arbeiter nach dem Scheitern der »Radical Reconstruction«, also der Bemühungen, ein Bündnis von ehemaligen Sklaven und weißen Radikalen aufzubauen, um den Rassismus im amerikanischen Süden nach dem Bürgerkrieg auszumerzen, zu erklären. Er schreibt:

Die [marxistische] Theorie der Einheit der Arbeiterklasse […] hat im Süden versagt […], weil die Theorie der Rasse mit einer sorgfältig geplanten und langsam entwickelten Methode […] einen so tiefen Keil zwischen weiße und schwarze Arbeiter trieb, dass heutzutage wahrscheinlich nirgendwo auf der Welt zwei Arbeitergruppen existieren, die einerseits tatsächlich praktisch gleiche Interessen haben und andererseits so einander hassen und fürchten und so weitgehend voneinander getrennt sind, dass keine von beiden irgendein gemeinsames Interesse sehen kann.

Es muss daran erinnert werden, dass die weiße Gruppe von Arbeitern, wenngleich sie auch niedrige Löhne bezog, einen Ausgleich in der Form eines politischen und psychologischen Lohns erhielt. Weil sie weiß waren, wurden sie in der Regel besser behandelt und geachtet. Sie konnten wie alle Weißen unabhängig von ihrer Klassenposition öffentliche Veranstaltungen, Parks oder Schulen nutzen. Die Polizei rekrutierte sich auch aus ihren Reihen und die Gerichte, die bei der Wahl von Richtern und von Geschworenen von ihren Stimmen abhängig waren, behandelten sie mit Nachsicht und ermutigten sie dadurch sogar zu Gesetzeswidrigkeiten. Mit ihren Stimmen wurden hohe Beamte gewählt, und während dies nur geringfügige Auswirkung auf ihre wirtschaftliche Lage besaß, hatte es eine große Wirkung auf die persönliche Behandlung und die Achtung, die ihnen entgegengebracht wurde. Die weißen Schulen waren die besten in der Gemeinde, lagen in den besten Wohngegenden und die Kosten pro Schüler reichten vom Zwei- bis Zehnfachen der farbigen Schulen. Die Zeitungen waren auf Meldungen spezialisiert, die den armen Weißen schmeichelten und die Schwarzen fast völlig ignorierten, außer wenn es um Kriminalität und Sport ging.

Auf der anderen Seite wurde der Schwarze öffentlich beleidigt. Er fürchtete den Mob, wurde von Kindern verspottet, war den unberechtigten Ängsten weißer Frauen ausgesetzt und musste sich fast ununterbrochen verschiedenen Formen der Diskriminierung unterwerfen. Das Resultat war, dass die Löhne beider Klassen niedrig gehalten werden konnten. Die Weißen fürchteten, durch schwarze Arbeitskräfte ersetzt zu werden, und die Schwarzen waren andauernd durch die Verdrängung durch weiße Arbeiter bedroht.

Du Bois stellt einen besonderen Extremfall von Rassismus dar, den des amerikanischen Südens in der »Jim Crow« Ära (der Zeit der formalen Rassendiskriminierung nach Aufhebung der Sklaverei), die eindrucksvoll von Richard Wright in Büchern wie »Onkel Toms Kinder« beschrieben wurde. Aber seine Ausführung erlaubt eine Verallgemeinerung. Sie besteht aus zwei Elementen: Erstens bedeutete Rassismus, dass »zwei Arbeitergruppen mit praktisch gleichen Interessen« gespalten wurden, sodass »die Löhne beider Klassen niedrig gehalten werden konnten«. Du Bois weist nach, dass weiße Arbeiter kein Interesse an der Unterdrückung von Schwarzen haben. Zweitens erhielten weiße Arbeiter als Kompensation für ihre niedrigen Löhne eine Art »politischen und psychologischen Lohn«, insofern sie, wie Marx es ausgedrückt hatte, Mitglieder der »herrschenden Nation« waren. Marx ermöglicht es uns in der Tat mit einer berühmten Passage aus der Einleitung zu seinem Beitrag »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« von 1843, den Mechanismus zu verstehen, der in dem Prozess der Kompensation enthalten ist:

Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.

Religiöser Glaube ist somit nicht nur eine Erfindung, die den Massen durch eine klerikale Verschwörung aufgedrängt wurde, wie die Philosophen der Aufklärung argumentierten; er wird angenommen, weil er eine imaginäre Lösung für reale Widersprüche anbietet. Religion gewährt Trost für die Übel dieser Welt in einer himmlischen Welt jenseits des Todes. Ihre Macht liegt in der Anerkennung der Existenz von Leid und Unterdrückung, auch wenn ihre Lösung eine falsche ist.

Marx deckt hier einen der Mechanismen auf, die Ideologien im Allgemeinen anhaften, einschließlich der rassistischen Ideologie. Rassismus bietet den weißen Arbeitern den Trost an, zu glauben, selbst Teil der herrschenden Gruppe zu sein.

Zusätzlich bietet er in Zeiten der Krise einen Sündenbock in Gestalt der unterdrückten Gruppe an. Rassismus als solcher gibt den weißen Arbeitern eine Identität, die sie darüber hinaus mit den weißen Kapitalisten vereinigt. Wir haben hier also eine Art von »eingebildeter Gemeinschaft«, wie sie Benedict Anderson in seiner einflussreichen Analyse des Nationalismus darstellt. Die Nation, schreibt er, ist »eine imaginäre politische Gemeinschaft«. Insbesondere »wird die Nation ungeachtet der aktuellen Ungleichheit und Ausbeutung, von der jeder betroffen sein mag, immer verstanden als eine tiefe, horizontale Kameradschaft«.

Die ausschlaggebende Phase in der Entwicklung von populärem Nationalismus setzte in den entwickelten kapitalistischen Ländern im späten 19. Jahrhundert als Teil eines Prozesses ein, in dem die europäischen herrschenden Klassen versuchten, eben als Vollbürger anerkannte und zunehmend organisierte Arbeiter in dieselbe Gemeinschaft zu integrieren.

Vor dem Hintergrund einer wachsenden Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten wurden die Arbeiter angehalten, ihre Interessen in diesen Rivalitäten mit denen »ihrer« herrschenden Klasse gleichzusetzen. Es war in derselben Periode, in der die pseudowissenschaftliche Rassenbiologie ihre entwickelteste Ausformulierung fand: Sie diente nicht nur dazu, die Rechtfertigung für die westliche imperialistische Beherrschung der Welt zu liefern, sondern auch dazu, die Konflikte zwischen den großen Mächten als einen Aspekt des Überlebenskampfes der Rassen zu rechtfertigen. Rassismus stützte den Nationalismus und brachte Arbeiter dazu, sich selbst wie ihre Ausbeuter als Mitglieder höherer Rassen zu sehen, die gegeneinander um die Vormacht in der Welt kämpfen. Anderson hat Recht, wenn er darauf besteht, dass Nationalismus im Allgemeinen nicht dasselbe ist wie Rassismus, denn viele Nationalisten, speziell solche, die sich an antikolonialen Befreiungsbewegungen beteiligen, haben eine Identifizierung mit ihrer eigenen Nation mit einem ernsthaften Glauben an die Gleichheit der Völker kombiniert. Imperialistischer Nationalismus aber bereitet den Boden, auf dem Rassismus unter bestimmten Umständen gedeihen kann.

III. Die Bemühungen der kapitalistischen Klasse die Spaltung zwischen den Arbeitern zu etablieren und zu bewahren

»Dieser Antagonismus wird künstlich wachgehalten und gesteigert durch die Presse, die Kanzel, die Witzblätter, kurz, alle den herrschenden Klassen zu Gebot stehenden Mittel.«

Marx macht klar, dass der Rassismus im Interesse des Kapitals ist, bezeichnet es als »das Geheimnis der Machterhaltung der Kapitalistenklasse« und betont, dass diese Klasse »sich dessen völlig bewusst« ist. Das klingt ein bisschen so, als ob Marx sagte, Rassismus sei nur das Resultat einer kapitalistischen Verschwörung. Dem ist nicht so. Wie wir gesehen haben, gibt es einen objektiven ökonomischen Zusammenhang, in dem rassistisch begründete Spaltungen auftreten, namentlich die permanent wechselnde Nachfrage des Kapitals nach verschiedenen Arten von Arbeit, die oft nur durch Einwanderung befriedigt werden kann. Wir haben auch gesehen, dass der Rassismus den Arbeitern der unterdrückenden »Rasse« als eingebildete Entschädigung für die Ausbeutung, die sie erleiden, die Zugehörigkeit zur »herrschenden Nation« bietet. Es ist darüber hinaus eine objektive Tatsache des Kapitalismus, dass Rassismus dem Kapitalismus hilft, weiterzuleben, indem er die Arbeiterklasse spaltet und damit schwächt. Der Spruch »Teile und herrsche«, den der römische Kaiser Tiberius im 1. Jahrhundert u. Z. prägte, ist eine alte Weisheit herrschender Klassen.

Kapitalistische Herrschaft stellt sich nicht von alleine her – sie muss aktiv organisiert werden. Ein Weg, das zu bewerkstelligen, ist die Förderung des Rassismus. Man braucht nur an die »Das Boot ist voll«-Kampagne der CDU/FDP-Regierung ab 1991 zu denken, die keinem anderen Zweck diente, als aus dem politischen Tief herauszukommen, in das sie zwei Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands geraten war. Damals erschütterte eine Streik- und Demonstrationswelle Ost- und Westdeutschland und die CDU verlor eine Landtagswahl nach der anderen. Das Unternehmermagazin »Wirtschaftswoche« schrieb dazu im August 1991:

So konnte es wirklich nicht mehr weitergehen: Alle Welt redete nur noch von Inflation und Rezession, höheren Steuern. […] Die Wähler wandten sich in Scharen der Opposition zu. Es musste etwas geschehen. Und es geschah. Bundesinnenminister Schäuble schob ein neues Thema ins Rampenlicht der Öffentlichkeit: Die Asylantenfrage.

Kapitalismus ist nicht einfach eine Verschwörung der Unternehmer, aber Kapitalisten benutzen den Rassismus ziemlich oft, um die Arbeiterklasse zu spalten.


Titelbild: addn.me

Dieser Beitrag erschien erstmals auf Deutsch in der Broschüre »Rassismus: Eine marxistische Analyse« bei Edition Aurora im Januar 1999.