Was ist eine Revolution?

»Thawra, thawra, hatt an-nasr!«, arabisch für »Revolution bis zum Sieg!«, erschallte es auf den Straßen Ägyptens 2011. Die Ereignisse des »Arabischen Frühlings« zeugen ebenso wie die Massenaufstände im Jahr 2019 von der Aktualität der Revolution. Aber was ist eigentlich eine Revolution? Von der Svu-Redaktion

»Der unbestreitbarste Charakterzug der Revolution ist die direkte Einmischung der Massen in die historischen Ereignisse. In gewöhnlichen Zeitläufen erhebt sich der Staat, der monarchistische wie der demokratische, über die Nation; die Geschichte vollziehen die Fachmänner dieses Handwerks: Monarchen, Minister, Bürokraten, Parlamentarier, Journalisten. Aber an jenen Wendepunkten, wo die alte Ordnung den Massen unerträglich wird, durchbrechen diese die Barrieren, die sie vom politischen Schauplatz trennen, überrennen ihre traditionellen Vertreter und schaffen durch ihre Einmischung die Ausgangsposition für ein neues Regime.«

Diese Zeilen notierte der russische Sozialist Leo Trotzki im Vorwort seiner »Geschichte der Russischen Revolution«.

Sie umschreiben treffend, was 2011 in Ägypten in den Wochen vor dem Sturz Husni Mubaraks geschehen ist, ebenso wie die Geschehnisse im Sudan, dem Irak oder Algerien knapp acht Jahre später. Eine revolutionäre Bewegung zeichnet sich dadurch aus, dass sie alles in Frage stellt, untergräbt, hinwegfegt, was jahrzehntelang unveränderbar schien. So wie die Herrschaft der Diktatoren in Nordafrika, die sich fest im Sattel wähnten.

Revolution als Zuspitzung der Krise

Dem russischen Revolutionär Lenin zufolge ist das wesentliche Merkmal einer revolutionären Situation, dass »die ›Unterschichten‹ nicht in der alten Weise leben wollen, und die ›Oberschichten‹ nicht in der alten Weise leben können«. Die allgemeine Krise der Gesellschaft spitzt sich zu.

Wesentliche Triebfeder für die Massenaufstände sind die sozialen Verwerfungen, die aus jahrelanger neoliberaler Politik und autokratischer Herrschaft resultieren: Zunehmende Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen, und steigende Lebenshaltungskosten. Der Drang nach sozialer Gerechtigkeit drückt sich vordergründig aus im Schrei nach Demokratie, nach dem Sturz der Diktatoren und der korrupten Elite. Die Bewegungen entwickeln eine solche Dynamik, dass die Despoten sie selbst durch harte Repressalien nicht mehr eindämmen können.

Doch auch die aktuellen Umbrüche im Sudan, dem Irak oder im Libanon, lassen sich bisher, wie die Rebellionen während des »Arabischen Frühlings« 2011, nur als politische Revolution bezeichnen, nicht jedoch als soziale Revolution.

Die Herrschenden werden entmachtet

Letztere kennzeichnet einen Zustand, in dem die herrschende Klasse entmachtet und das gesamte Gesellschaftssystem umgekrempelt wird. Klassisches Beispiel ist die Französische Revolution von 1789, in der sich das Bürgertum gegen Adel und Klerus als neue herrschende Klasse durchsetzte. Die Epoche des Feudalismus wurde abgelöst vom Kapitalismus. In der Russischen Revolution von 1917 wurde das Rad der Geschichte noch weiter gedreht: Die Revolution der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern stürzte nicht nur den Zaren, sondern ging auch über die Grenzen bürgerlicher Herrschaft hinaus, indem Großgrundbesitzer:innen und Fabrikherren enteignet wurden. Der Anlauf zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, der allerdings später scheiterte, wurde genommen.

Durch die politische Revolution wird zunächst ein personeller Wechsel an der Spitze der Staatsgewalt erzwungen und Kurs genommen auf weitergehende Veränderungen der staatlichen Ordnung. Das geht nicht zwingend einher mit der Entmachtung der gesamten herrschenden Klasse oder dem Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse. In den arabischen Revolutionen stehen zunächst Forderungen nach Demokratie und bürgerlichen Freiheiten im Vordergrund. Es entstehen neue Parteien, freie Wahlen werden ausgerufen, unabhängige Gewerkschaften gründen sich. Revolutionär ist dieser Prozess, weil er sich außerhalb der vorgesehenen Rechtsformen des alten Systems vollzieht und nach dessen Definition illegal ist.

Revolution gegen das Kapital

Revolutionär im sozialistischen Sinne wird eine Bewegung, sobald der Grundpfeiler der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in Frage gestellt wird: die Verfügungsgewalt des Kapitals über die Fabriken und Büros. Dann gerät die Bewegung nicht nur in Konflikt mit den Eigentümern dieser Produktionsmittel, sondern auch verschärft mit dem Staatsapparat, der geschaffen ist, um diese Verhältnisse aufrecht zu erhalten.

Die Länder, in denen die Menschen rebellieren, haben gemeinsam, dass politische und wirtschaftliche Herrschaft sehr eng verflochten sind. Über Jahrzehnte hat sich eine Vetternwirtschaft von hohen Militärs und Kapitalisten entwickelt. Ob in Ägypten oder im Sudan: Auch die Armeeführung kontrolliert wichtige Teile der Ökonomie. Ohne weitreichende Eingriffe in die Wirtschaft, also in die Eigentums- und Vermögensverhältnisse, können die sozialen Verwerfungen nicht behoben werden.

Der Staat, ob er nun ein despotischer oder parlamentarisch-demokratischer ist, kann dabei kein Instrument für den Kampf um eine andere Gesellschaftsordnung sein. Karl Marx schrieb im »Bürgerkrieg in Frankreich«, dass der bürgerliche Staat den »Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiter:innenklasse, einer Maschine der Klassenherrschaft« habe. Im Kern sei er undemokratisch, denn hinter der Fassade der parlamentarischen Demokratie verbergen sich wesentliche Bereiche, die keiner demokratischen Kontrolle durch die Bevölkerung unterlägen: »(…) stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Richterstand.« Der neutrale Schein der parlamentarischen Form verschwinde, sobald die unterdrückten Klassen aufbegehrten. Dann benutze »die vereinigte besitzende Klasse (…) die Staatsmacht rücksichtslos als das nationale Kriegswerkzeug des Kapitals gegen die Arbeit«.

Der Staat und das Militär

In allen Ländern zeigt sich dies an der Rolle des Militärs. Für einige Zeit betrachteten die Aufständischen das Militär als Verbündeten. Doch je tiefer die Bewegung an den Grundfesten der Eigentumsverhältnisse rüttelt, desto mehr tritt der eigentümliche  Charakter der Armee zu Tage und die Herrschenden nutzen die Staatsmacht zur Konterrevolution. Gleichzeitig kann die Bewegung durch ihre soziale Zusammensetzung eine Kraft erreichen, die das Militär entlang der Klassenlinien spaltet und somit lähmt. Dies erfordert jedoch eine Vertiefung des revolutionären Prozesses.

Da sich die Dynamik der Revolution aus den drastischen sozialen und politischen Widersprüchen im Kapitalismus speist, vermischen sich politische und soziale Forderungen und die Bewegung steht vor neuen Herausforderungen. Der revolutionäre Prozess ist längst nicht in ein paar Wochen abgeschlossen, sondern jede Revolution durchläuft verschiedene Phase.

Unterschiedliche Akteure treten auf den Plan, mit unterschiedlich weitreichenden Forderungen. Zum einen gibt es die bürgerlich-liberalen Kräfte, die sich über demokratische Reformen mehr Gestaltungsspielraum als Akteure auf dem kapitalistischen Markt versprechen. Zum anderen entwickelt sich aus der Arbeiterbewegung eine antikapitalistische Stoßrichtung, die über die Grenzen des Kapitalismus hinausweist.

Revolution der Arbeiter:innenklasse

Die Arbeiter:innenklasse hat aus zwei Gründen eine entscheidende Bedeutung für den Verlauf der Revolution. Erstens verfügt sie aufgrund ihrer ökonomischen Stellung über enorme Machtressourcen im Kampf gegen das Establishment.

Die großen Streikbewegungen der Arbeiterinnen und Arbeiter während des »Arabischen Frühlings« 2011 haben den Despoten in Tunesien und Ägypten den Todesstoß versetzt. Auch heute sind die betrieblichen Aktionen der Lohnabhängigen die Triebkraft der Revolten in Algerien, dem Irak oder im Sudan.

Zweitens kann die Arbeiter:innenklasse als kollektiver Akteur effektive Strukturen von Gegenmacht aufbauen, über die der Widerstand sich organisiert: in Betrieben, in Wohnvierteln und auf öffentlichen Plätzen. Diese Strukturen sind einerseits entscheidend, um weitere Zugeständnisse zu erzwingen. Zweitens können dadurch von unten Ansätze einer sozialistischen Gesellschaftsordnung entstehen und die Demokratie auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausgedehnt werden. Marx meinte, der revolutionäre Prozess habe eine Doppelfunktion: »(…) dass sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewusstseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen notwendig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; dass also eine Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.«

Die Bedingungen des Erfolgs

Die bisher erkämpften Errungenschaften können ein Schritt auf dem Weg zu noch grundlegenderen Veränderungen werden. Diese sind auch notwendig, um die gewonnenen Freiheiten abzusichern. Denn die derzeit Herrschenden werden versuchen, die alten Ausbeutungsverhältnisse gegen das Aufbegehren der Massen abzusichern. Entscheidend hierfür ist, dass die Arbeiter:innenklasse als eigenständiger politischer Akteur eingreift, sich mit eigenen Parteien von der Führung durch bürgerliche Kräfte und reformistische Parteien emanzipiert.

Die Notwendigkeit einer revolutionären Partei ergibt sich aus diesen Anforderungen. Eine Massenorganisation von Revolutionärinnen und Revolutionären, die bereits über ausreichend Kampferfahrung verfügt, ist viel eher in der Lage, die sich bietenden Gelegenheiten zu nutzen und die Gefahren, die sich für jede revolutionäre Bewegungen ergeben, zu erkennen und somit der Massenbewegung eine andere Führung zu geben als die bürgerlichen oder sozialdemokratischen Parteien. Es sollte selbstverständlich sein, dass diese Organisationsform kein Ersatz für die demokratischen Massenorgane der Arbeiter:innenklasse und der Armen ist, die der Motor der revolutionären Bewegung sind.

So schrieb Karl Marx bereits 1850 angesichts der Unfähigkeit des Bürgertums, die revolutionäre Welle gegen den Feudalismus in Europa zum Erfolg zu führen, über die Aufgabe der revolutionären Sozialistinnen und Sozialisten: Während die demokratischen Vertreter des Bürgertums die Sache möglichst schnell über die Bühne bringen wollten, um ihr politisches Mitspracherecht gegenüber den feudalen Herrschern durchzusetzen, »ist es unser Interesse, und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind.«


Dieser Beitrag erschien zuerst im August 2021 auf marx21.de.

Titelbild: Hossam el-Hamalawy