Die Entwicklungen in der Türkei haben ein schwindelerregendes Tempo angenommen. Wir dokumentieren die Erklärung der Revolutionäre Sozialistische Arbeiterpartei – DSİP zur aktuellen Lage in der Türkei
Die Entwicklungen in der Türkei haben ein schwindelerregendes Tempo angenommen. Während alle darauf warteten, ob es eine Gezi-Operation (1) oder eine neue HDK-Operation (2) geben würde, nahm der regierende Block direkt die CHP (3) und ihren Präsidentschaftskandidaten ins Visier.
Während ein Journalist im Zusammenhang mit den Gezi-Ermittlungen verhaftet wurde, wurden mehr als 100 CHP-Mitglieder im Rahmen einer Aktion gegen Bestechung festgenommen. Sieben Personen, darunter Imamoğlu, wurden aufgrund von Terroranschuldigungen im Zusammenhang mit der städtischen Versöhnungspolitik (4) inhaftiert.
Die AKP-MHP-Regierung ist sich so sicher, dass sie die Wahlen verlieren wird, dass sie Maßnahmen ergreift, um dies mit Hilfe der Justiz zu verhindern, was die Kaperung der Demokratie bedeutet. Die derzeitige Welle des Autoritarismus wird über den Weg der Justiz vertieft, um Millionen von Menschen, die vom Hunger geplagt, wütend über die Armut und wütend über die Ungerechtigkeit sind, zu lähmen und einzuschüchtern. Es geht auch darum zu verhindern, dass die Kritik gegen die Regierung sich zu einem allgemeinen Kampf und zu einem Wahlbündnis entwickelt.
Imamoğlus Wahlkampf
Es ist offensichtlich, dass der regierende Block nicht will, dass İmamoğlu als Kandidat gegen Erdoğan antritt. İmamoğlu hingegen hat seinen Wahlkampf bereits begonnen und organisiert wirkungsvolle Kundgebungen, indem er von Provinz zu Provinz reist. Einer der Pfeiler dieser Kampagne war, dass die CHP – die sozialdemokratische Partei der Türkei, die 1.700.000 Mitglieder hat – wachsam vorging und ihren Kandidaten durch eine Vorwahl am 23. März bestimmen wollte.
Verhaftungswelle kam genau zu diesem Zeitpunkt
Bevor İmamoğlu in Gewahrsam genommen wurde, wurde sein Universitätsdiplom (5) rechtswidrig annulliert. Bei einer Razzia im Morgengrauen wurden Imamoğlu und viele Bürgermeister und Bedienstete am nächsten Morgen festgenommen, noch bevor darüber diskutiert wurde, was gegen die Annullierung des Diploms getan werden könnte. Gegen diese eklatante Rechtswidrigkeit muss eine kräftige Stimme erhoben werden.
Alle Aufrufe zur Aktion gegen diese Rechtswidrigkeit müssen vereint, umfassend und entschlossen sein.
Wir werden uns an all diesen Kämpfen beteiligen. Um an diesen Aktionen teilzunehmen, ist es nicht notwendig, İmamoğlu als Kandidat zu sehen oder Mitglied der CHP zu sein.
Es ist wichtig, sich gegen eine Ungerechtigkeit zu wehren. Bei den Wahlen 2019 haben wir nicht dazu aufgerufen, für İmamoğlu zu stimmen, aber als die Wahlen auf Drängen der AKP-Mitglieder wiederholt wurden, haben wir İmamoğlu unterstützt, um unsere demokratischen Rechte zu schützen. Jetzt gibt es einen direkten Eingriff gegen das grundlegendste Recht der Demokratie, das Wahlrecht.
Einigungsprozess, der Hunger und die Möglichkeit von vorgezogenen Wahlen
Während eine Reihe von Schritten im Einigungssprozess unternommen wurden, wird dieser schwere repressive Angriff gegen die CHP auch den Einigungssprozess belasten. Seit dem Moment, in dem von einem Prozess die Rede ist, wurden die Politik der Treuhänder (7) und die Verhaftungen der HDK bereits sofort in die Tat umgesetzt. Jetzt, mit der Imamoğlu- Operation, erklärt der regierende Block, dass der »neue Einigungssprozess« (6) nicht von radikalen demokratischen Schritten von unten begleitet werden wird, wie im vorherigen Prozess.
Es handelt sich um einen Einigungsprozess, der dadurch vorangetrieben werden soll, dass der Repressionsapparat in Alarmbereitschaft gehalten und die Möglichkeit verhindert wird, dass die Masse des Volkes Mut fasst.
Daher werden die repressive Politik einerseits und der Einigungsprozess andererseits bis zu einem bestimmten Stadium gleichzeitig ablaufen. Aber wir müssen sicher sein, dass es unvermeidlich ist, dass in einer bestimmten Phase des »neuen Einigungsprozesses« demokratische Schritte ins Spiel kommen werden. Der herrschende Block versucht, diese Schritte so weit wie möglich hinauszuzögern.
Die Armee der Hungernden wird immer größer
Andererseits hat die Inflation in der Türkei die Grenzen überschritten. Armut und Lebenshaltungskosten steigen gleichzeitig. Millionen von Menschen lassen ihre Wut raus. Deshalb fürchtet der regierende Block seit langem die Möglichkeit, dass diese Wut über die demokratischen Wege hinaus – auf die Straße überschwappt. Sie versucht, die Opposition mit einer dauerhaften Schock- und Schreckensoperation wie heute zu lähmen. Eine Mauer aus Angst wird weiter aufgebaut und die Menschen werden eingeschüchtert.
Die kämpferische Dynamik, die ein vorgezogener Wahlprozess gegen den gegenwärtig herrschenden Regierungsblock entwickeln könnte, wird als Quelle aller Probleme gesehen und es wird alles getan um diese Möglichkeit zu untergraben. Dies ist der Grund für die Beharrlichkeit, mit der versucht wird eine Verbindung zum Terrorismus herzustellen.
Überschreiten einer Schwelle
Weder die Annullierung des Diploms von İmamoğlu noch seine Verhaftung sind ein alltägliches Ereignis. Wir müssen feststellen, dass mit dieser Verhaftungswelle eine Schwelle überschritten wurde und dass die Welle des Autoritarismus in eine neue Phase eingetreten ist. Natürlich haben die Treuhandpolitik, der starke Druck auf HDP- und kurdische Politiker, die gesetzlichen Angriffe auf LGBTI+, die Bemühungen, die Repressionsgewalt zu erhöhen, das Massaker-Gesetz (8) gegen Tiere, die auf der Straße leben, usw. gezeigt, dass die Bedingungen sehr ernst waren. Jeder Schritt war ein Angriff auf die Demokratie. Wir haben unsere Stimme gegen jeden dieser Schritte erhoben.
Aber was wir jetzt erleben, ist die Inhaftierung des Bürgermeisters der größten Oppositionspartei, der vielleicht der nächste Präsident sein wird, durch die Regierung und der Versuch, das einzige politische Bündnis zu werden, das nach eigenem Gutdünken an den Wahlen teilnimmt, indem es das Recht, gewählt zu werden und Politik zu machen, durch die Justiz kapert.
Mit diesem Angriff hat der regierende Block eine Schwelle überschritten. Die derzeitige Situation impliziert einen politischen Raum, in dem es keine Garantie für die Freiheit von irgendjemandem außer der Kerngruppe in den Tiefen des regierenden Blocks gibt. Wir müssen diesen Prozess rasch umkehren.
Türkische Regierung ist schwach, nicht stark
Auf der einen Seite wird der Gezi-Widerstand kriminalisiert, auf der anderen Seite versucht die Justiz, das Potenzial, bei den Wahlen mitzumischen, zu zerstören, indem sie neue Mauern der Angst aufbaut. Diejenigen, die diese Verhaftungsentscheidungen getroffen haben, wissen auch, dass İmamoğlu, andere Stadtratsmitglieder und Verhaftete nichts mit Terrorismus zu tun haben. Es muss uns gelingen, Seite an Seite gegen diesen Versuch zu stehen, das Wahlrecht, den Willen von Millionen von Menschen und unsere restlichen demokratischen Rechte zu kapern. Weder ist die HDK eine terroristische Organisation, noch sind Wahlbündnisse ein Verbrechen, noch ist der derzeitige Bürgermeister von Istanbul, für den Millionen von Menschen gestimmt haben, ein Krimineller. Diese Verhaftungswelle muss ein Ende haben, und die Regierung muss aufhören, den Wahlprozess in eine extrem rechte, autoritäre Machtdemonstration zu verwandeln.
Wir sind uns sicher, dass diese Machtdemonstration des regierenden Blocks nicht deshalb erfolgt, weil er wirklich stark ist, sondern im Gegenteil, weil er schwach ist, weil er weiß, dass er schwach ist. Jeder Schritt dieses Vorgehens wird den regierenden Block noch schwächer machen. Die Erhöhung des Drucks seitens der Regierung kann nach hinten losgehen, wenn es eine massenhafte Reaktion gegen die herrschenden Zustände gibt.
Wir müssen begreifen, dass die Regierung nicht so stark ist, wie sie glaubt, und dass Millionen von Menschen nicht so schwach sind, wie die Opposition glaubt, dass sie es sind.
Jetzt ist es an der Zeit für einen gemeinsamen Kampf gegen die Kaperung der letzten Krümel der Demokratie.
- Die grobe Willkür der Justiz muss sofort ein Ende haben. Schluss mit diesen absurden Ermittlungen.
- Schluss mit der Treuhandpolitik.
- Imamoğlu und seine Freunde sowie der Journalist İsmail Saymaz müssen sofort freigelassen werden.
- Dringende Demokratie. Alle autoritären Hindernisse für die Meinungs- Demonstrations-, und Organisationsfreiheit müssen beseitigt werden.
- Die antidemokratische Einmischung der Justiz in den Wahlprozess muss sofort beendet werden.
- Alle, von Selahattin Demirtaş bis hin zu den im Rahmen der HDK-Ermittlungen Verhafteten und den wegen der Gezi-Proteste Verhafteten, müssen frei sein.
- Das Gouvernement muss das Demonstrationsverbot in Istanbul, das einem Ausnahmezustand gleichkommt, sofort aufheben.
- Die Arbeiter:innenklasse und ihre Organisationen müssen sich die in diesem Prozess stattfindenden Solidaritätsaktionen zu Eigen machen.
Revolutionäre Sozialistische Arbeiterpartei – DSİP
Verweise:
- 2013 gab es eine Massenbewegung von unten, gegen die Erdoǧan Regierung, die das ganze Land umfasste und an der hunderttausende teilnahmen. Auslöser und Ausgangspunkt war die gewaltsame Auflösung eines Protestcamps im Istanbuler Gezi- Park gegen dessen Zerstörung zugunsten eines Einkaufszentrums. Der angrenzende Taksim Platz wurde zeitweilig – inspiriert auch vom »arabischen Frühling« – besetzt.
- Die staatliche Repression richtet sich gerade gegen all jene, die seit Jahren unter dem Dach des demokratischen Kongresses der Völker (HDK) – ein Bündnis für Frieden und Freiheit mit dem kurdischen Volk – arbeiten. Erst Mitte Februar 2025 gab es diesbezüglich eine Verhaftungswelle.
- CHP (Republikanische Volkspartei), sie gibt sich säkular und sozialdemokratisch, besitzt aber auch ein nationalistisches Profil und sieht sich stark in der Tradition des Staatsgründers Atatürk (Kemalismus).
- Unter »städtischer Versöhnungspolitik« ist die strategische Zusammenarbeit zwischen der kurdischen DEM Partei und der CHP im Rahmen der Kommunalwahlen 2024 gemeint, bei der es Abmachungen zwischen den Parteien gab und bei der die DEM Partei zugunsten von CHP Kandidaten, selbst auf eine Kandidatur verzichtete. Regierung und Staatsanwaltschaft sehen darin eine Zusammenarbeit mit der PKK, die sie als »Terrororganisation« einstufen.
- Um als Präsident kandidieren zu können, ist das Universitätsdiplom in der Türkei Voraussetzung.
- Die türkische Regierung aus AKP und der faschistischen MHP drängte auf einen Einigungsprozess mit der kurdischen Seite auch aus außenpolitischen Gesichtspunkten, der sich ändernden Kräfteverhältnisse in Nahost. Nach Gesprächen mit der im türkischen Parlament vertretenen kurdischen DEM Partei, rief Öcalan aus dem Gefängnis dazu auf, die Waffen niederzulegen und die PKK zugunsten eines demokratischen Einigungsprozesses aufzulösen.
- Die Politik der Treuhänder meint die zwangsweise Absetzung z.B. von aus Sicht der Regierung unliebsamen kurdischen Bürgermeistern und die Einsetzung regierungstreuer Treuhänder.
- Das neue »Massaker-Gesetz« gegen Straßentiere betrifft in der Hauptsache Straßenhunde, die die Regierung per Gesetz in Tierheime zwingt in denen sie häufig grausam umkommen und ermutigt zum Massenmord an Straßenhunden. Dagegen hat sich auch eine starke Protestbewegung entwickelt.
Titelbild: DSiP