Tahiti: »Wir sind Opfer des nuklearen Kolonialismus«

Olympische Surfer:innen bestreiten ihre Wettkämpfe vor den südpazifischen Küsten von Tahiti. Die kolonialen Verbrechen Frankreichs überschatten die friedlichen Wettkämpfe der Gegenwart. Von Simo Dorn

In den letzten zwei Wochen fanden die Olympischen Spiele in Paris statt. Auf der Suche nach geeigneten Küsten für die hochrenomierten, internationalen Surf-Wettkämpfe wurden die Veranstalter:innen in Frankreich selbst nicht fündig. Daher entschied man sich für die Küste von Teahupo’o auf südpazifischen Insel Tahiti.

Französischer Kolonialismus

Tahiti ist eine etwa 1.000 Quadratkilometer große Inselgruppe im Südpazifik. Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Inseln ist seit Mitte des 18. Jahrhundert von europäischen Kolonialmächten und deren gewaltsame Herrschaft über die ansässige Bevölkerung bestimmt. Seit dem 9. September 1842 steht die Insel unter französischer Kolonialherrschaft. Im Ersten Weltkrieg kam es zwischen Deutschland und Frankreich zu Seegefechten um die Inseln, bei denen zahlreiche Zivilist:innen zwischen den Fronten der europäischen Militärs starben. 

Im Oktober 1987 kam es, von einem Streik der Hafenarbeiter:innen ausgelöst, in einigen Vororten der Hauptstadt Papeete zu Ausschreitungen, als sich erwerbslose Jugendliche wegen ihrer Perspektivlosigkeit und schlechter Bildungs- und Berufschancen gegen die französische Kolonialverwaltung auflehnten.

Nukleare Verbrechen in den Kolonien

Als Präsident Jacques Chirac die Wiederaufnahme der französischen Kernwaffenversuche im Tuamotu-Archipel anordnete und am 5. September 1995 die erste Bombe einer neuen Testserie unter dem Mururoa-Atoll detonierte, kam es zu neuen Unruhen in Papeete. Im Anschluss an eine zunächst friedlich verlaufene Proteste blockierten Demonstrant:innen den internationalen Flughafen Tahiti Faa’a. Die Unruhen breiteten sich auf weite Teile der Innenstadt von Papeete aus. Eigens eingeflogene Kräfte der französischen Bundespolizei wurden eingesetzt. Die französische Verwaltung erließ eine Ausgangssperre und zerschlug den Aufstand brutal.

Nicht allein Tahiti hatte unter kolonialer Herrschaft und nuklearer Waffenversuche zu kämpfen. Ebenso wurden systematisch Atomwaffentest im französisch besetzten Algerien durchgeführt. Zwischen 1960 und 1966 detonierte die französische Armee 17 Atomsprengköpfe in der algerischen Wüste. Die Entwicklung der französischen Atombombe geschah während des algerischen Befreiungskrieges von 1954 bis 1962, und darüber hinaus. Die französische Armee ermordete mehr als eine Million Algerier:innen im Versuch ihre Kolonie weiter zu unterdrücken. 

Die Gegenwart der nuklearen Katastrophe

Die sich zuspitzende imperialistische Konkurrenz und die daraus resultierende Gefahr einer nuklearen Eskalation in der nahen Zukunft ist eine reale Bedrohung. Wie die alte ist auch die neue Blockkonfrontation eine nukleare Konfrontation. Gleichwohl wäre diese Eskalation nicht der erste Nuklearwaffeneinsatz auf Zivilist:innen seit dem Zweiten Weltkrieg. 

Koloniale Gewalt ist stets eine auslöschende Gewalt

»[Was der Westen Hitler nicht verzeihe, sei] nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen gegen den Menschen, […] nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern das Verbrechen gegen den weißen Menschen, die Erniedrigung des weißen Menschen, und dass er, Hitler, kolonialistische Methoden auf Europa angewandt hat, denen bislang nur die Araber Algeriens, die Kulis Indiens und die Schwarzen Afrikas ausgesetzt waren.« – Aimé Césaire, afrokaribisch-französischer Schriftsteller und Politiker

Gewalt, Folter, Entmenschlichung, Versklavung, Vertreibung, Völkermord bis hin zu nuklearer Vernichtung, waren und sind der Kern jedes kolonialistischen Projekts. Es ist kein Zufall, dass ein Knesset-Abgeordneter im Frühjahr 2024 sich für einen israelischen Atomwaffenabwurf auf Gaza aussprach.

Die Atomwaffentest in allen französischen Kolonien hatten erhebliche gesundheitliche Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung, aber auch auf das militärische Personal. Hinzu kommen die ökologischen Folgen der Tests. Unzählige indigene Menschen wurden, teils bewusst, radioaktiver Strahlung ausgesetzt, um sie hinterher medizinisch zu untersuchen – nicht mit dem Zweck, diese Menschen zu heilen, sondern um Erkenntnisse zu Strahlungsschäden zu gewinnen. Diese Menschenversuche sind über Generation bis heute sichtbar und haben auch noch in Zukunft entmenschlichende Folge für die Betroffenen.

»Wir sind Opfer des nuklearen Kolonialismus« – Oscar Temaru, the founder of a pro-independence political party, in his office in Tahiti.

Der Kampf um nationale Befreiung von kolonialen Fesseln wird an einem Kampf gegen den Kapitalismus als globales Weltsystem nicht vorbeigehen können. Um diesen auf den Müllhaufen der Geschichte zu beseitigen, wird die Klasse arbeitender Menschen von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich werden müssen und in einer sozialen Revolution die gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse kollektiv brechen. Dabei ziehen arbeitende Menschen in den imperialistischen Zentren keinen Nutzen aus der kolonialen Gewalt ihrer kapitalistischen Klasse. Ein nuklearer Weltkrieg wird sie ebenso vernichten wie ihre Herrschenden. 


Titelbild: WikiCommons/NASA