Zum Verhältnisse von Revolutionär:innen und parlamentarischen Wahlen. Von Joseph Choonara
Verschiedene Entwicklungen haben im Jahr 2023 das Interesse an einer möglichen Wahlbeteiligung revolutionärer Sozialist:innen in Großbritannien neu geweckt.1 Dazu zählen die fortgesetzte Rechtsentwicklung der Labour Party unter Keir Starmer, unabhängige linke Kandidaturen zu den Kommunalwahlen im Mai und der Rücktritt von Nicola Sturgeon als Ministerpräsidentin Schottlands nach dem Scheitern ihres Ansatzes zur Erlangung der Unabhängigkeit Schottlands.2 Diese Debatte wird sich noch verstärken, sollte Jeremy Corbyn tatsächlich gegen seine eigene Partei, deren Vorsitzender er war, in Islington North antreten, nachdem Starmer ihm bereits mitgeteilt hat, ihn keinesfalls als Labour-Kandidaten zu den Parlamentswahlen aufzustellen. Diane Abbott, eine weitere prominente linke Labour-Abgeordnete, wurde ebenfalls von der Partei suspendiert, nachdem sie eine unbedachte Bemerkung zum Thema Rassismus gemacht hatte, was Starmer sofort aufgriff, um sie loszuwerden.3
Aktivist:innen der Socialist Workers Party (SWP) und der revolutionären Linken insgesamt dürfen sich mit Blick auf parlamentarische Wahlen nicht nur von Vermutungen und kurzfristigen Erwägungen leiten lassen. Wir müssen auch von den Erfahrungen der Revolutionär:innen lernen, die in Wahlen eingegriffen haben. In diesem Artikel sollen die in einem europäischen Kontext gemachten Erfahrungen bewertet, das theoretische Niveau zum Thema Wahlbeteiligung soll gehoben und dafür gesorgt werden, dass wir unsere nächsten Schritte nach einer gründlichen Debatte unternehmen.4
Das Abc parlamentarischer Wahlen
Wenn es um Wahlpolitik geht, müssen wir zwei wichtige Bereiche beachten: Der erste betrifft die allgemeine Haltung von Revolutionär:innen zu Wahlen. Der zweite betrifft eine spezifische Lesart der in den vergangenen drei Jahrzehnten sowohl in Großbritannien als auch außerhalb dieses Landes gesammelten Erfahrungen, die wiederum auf eine jeweils eigene politische Konjunktur zurückzuführen sind.
Bezüglich des ersten Bereichs hat der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin in Arbeiten wie „Der ,Linke Radikalismusʻ, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ schon vor über 100 Jahren Folgendes gesagt:
Der Parlamentarismus ist „historisch erledigt“. Im Sinne der Propaganda ist das richtig. Aber jedermann weiß, daß es von da bis zur praktischen Überwindung noch sehr weit ist. […] aber es kommt gerade darauf an, daß wir das, was für uns erledigt ist, nicht als erledigt für die Klasse […] betrachten. […] Ihr seid verpflichtet, ihnen die bittere Wahrheit zu sagen. Ihr seid verpflichtet, ihre bürgerlich-demokratischen und parlamentarischen Vorurteile beim richtigen Namen zu nennen. Aber zugleich seid ihr verpflichtet, den tatsächlichen Bewußtseins- und Reifegrad eben der ganzen Klasse […] nüchtern zu prüfen. […] Solange ihr nicht stark genug seid, das bürgerliche Parlament und alle sonstigen reaktionären Institutionen auseinanderzujagen, seid ihr verpflichtet, gerade innerhalb dieser Institutionen zu arbeiten […].5
Lenins Rat hat seine Gültigkeit bis heute behalten. Bis zu dem Moment, da der kapitalistische Staat durch einen revolutionären Aufstand zerstört werden kann, müssen sich Sozialist:innen an Wahlen beteiligen und Kandidaten aufstellen, wo es möglich ist. Das hat nichts mit Illusionen in Reformen durch das Parlament zu tun. Die Aufgabe von Revolutionär:innen im Parlament besteht in der Propagierung des Sozialismus, in der Agitation, um die Kampfkraft und das Selbstbewusstsein der arbeitenden Klasse zu stärken, und zu dem Aufbau einer revolutionären Massenpartei beizutragen, die sich in erster Linie auf außerparlamentarische Aktivitäten stützt. Das Ziel ist, das Parlament im Rahmen eines revolutionären Umsturzes der kapitalistischen Klasse und ihrer Institutionen aufzulösen und es mit einer viel umfassenderen Form der Demokratie zu ersetzen. Diese neue Form der Demokratie würde aus dem Massenkampf der arbeitenden Klasse entstehen, die auf dem Höhepunkt ihres Kampfes ihre Räte und ähnliche sowjetartige Institutionen schafft.6
Das Parlament sollte dennoch, wie von Lenin vorgeschlagen, von Revolutionär:innen genutzt werden, eben weil die Masse der Arbeiter:innen in nichtrevolutionären Zeiten und in parlamentarischen Demokratien Illusionen in das Parlament und in die Möglichkeit der Erringung von Reformen durch das Parlament hegen. Deshalb sind Parlamentarier:innen wichtige Tribune für den Sozialismus, und das Parlament und Wahlen sind nützliche Plattformen für Sozialist:innen. Revolutionär:innen, die in nichtrevolutionären Zeiten für ein Parlament kandidieren, sollten gegenüber den Arbeiter:innen ihre Politik auch offen vertreten.
Das heißt natürlich nicht, dass ihre Wählerschaft auch das ganze revolutionäre Programm der Partei teilen muss – das würde die Unterstützung auf jene beschränken, die ebenfalls der Meinung sind, das Parlament sei „historisch erledigt“. Revolutionär:innen müssen mit einem „Minimalprogramm“ antreten und für die Massenaktion der Arbeiter:innenklasse argumentieren, um Reformen zu erringen, die so weitreichend sind, dass sie in Konflikt mit der Logik des kapitalistischen Systems geraten. Mit fortschreitendem Kampf würde dieses Programm radikaler werden. Solch ein Programm sollte selbstverständlich keine Unterstützung für Maßnahmen enthalten, denen Revolutionär:innen nicht zustimmen könnten, zum Beispiel Zuwanderungskontrollen.
In nichtrevolutionären Zeiten sollte es keine Erwartung geben, dass Revolutionär:innen eine parlamentarische Mehrheit erringen und eine Regierung bilden.7 Ferner sollten ins Parlament gewählte Revolutionär:innen das Eingehen prinzipienloser Bündnisse oder einer Koalition mit prokapitalistischen Parteien vermeiden – um nicht, wie es in einem bolivianischen trotzkistischen Programm über Arbeiterminister denkwürdig hieß, „gewöhnliche Zuhälter der Bourgeoisie“ zu werden.8 Angesichts des Drucks, der von dem Wahlsystem ausgeht, sollten parlamentarische Repräsentanten der revolutionären Partei der Organisation untergeordnet werden, um sie dem heilsamen Gegendruck durch Teilnahme an dem lebendigen Kampf der Arbeiter:innen auszusetzen.9
Eine Position wie die von Lenin, Leo Trotzki und anderen Marxist:innen behält dem Grundsatz nach ihre Gültigkeit. In dem vergangenen Jahrhundert waren revolutionär-sozialistische Organisationen in Großbritannien meist weder groß genug noch tief genug in der arbeitenden Klasse verankert, um halbwegs glaubwürdig zu Wahlen anzutreten. Die Organisation der International Socialists (IS), die sich im Jahr 1977 in Socialist Workers Party (SWP) umbenannte, stellte allerdings von 1976 bis 1978 Kandidat:innen auf. In dieser Zeit war Labour an der Macht und organisierte einen scharfen Angriff auf die arbeitende Klasse, um die Ende der 1960er Jahre einsetzenden Klassenkämpfe wieder in den Griff zu bekommen. Die IS erhielt bei einigen Nachwahlen 0,5 bis 1,9 Prozent der Stimmen. Paul Foot, wohl das bekannteste Mitglied der Organisation, erhielt in Birmingham Stechford nur 1 Prozent der Stimmen, peinlicherweise weniger als der Kandidat der konkurrierenden International Marxist Group. Ein weiterer Kandidat erhielt im April 1978 1 Prozent in Lambeth Central und landete damit leicht hinter der Revolutionary Party und dem Kandidaten der Socialist Unity.
Angesichts dieser Ergebnisse verfasste Duncan Hallas eine Stellungnahme für die Führung der SWP, in der er gegen die weitere Beteiligung an Wahlen argumentierte: „Wir haben uns an Wahlen nicht in erster Linie beteiligt, um viele Stimmen zu bekommen, aber wir haben es bestimmt nicht deshalb getan, um solche Ergebnisse zu bekommen.“ Die Schlussfolgerung lautete, in der großen Mehrheit der Wahlkreise, in denen es keine ernsthafte linke Kandidatur gab, zur Wahl von Labour aufzurufen, „um die Tories zu verhindern“, ohne die Kritik an der Politik von Labour aufzugeben. Zu den Parlamentswahlen von 1979 war der Ausflug in die direkte Beteiligung an Wahlen beendet.10
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass SWP-Kandidat:innen heute sehr viel bessere Ergebnisse erzielen würden. Demütigende Wahlergebnisse tragen wenig dazu bei, den Klassenkampf zu fördern und die Position von Revolutionär:innen in der arbeitenden Klasse zu stärken.
Unter diesen Bedingungen und abgesehen von Zeiten, in denen die SWP sich im Rahmen größerer Wahlbündnisse an Wahlen beteiligte, haben wir meist für die Wahl der Labour-Kandidat:innen argumentiert, wenn es links von diesen keine glaubwürdige Alternative gab. Wir betrachten das als einen Akt der Solidarität mit den am meisten politisierten Arbeiter:innen, die in der Regel Labour gewählt haben – und noch wählen. Wir sagen im Prinzip: „Wir geben euch unsere Stimme, um die Tories rauszuschmeißen oder rauszuhalten, und im Gegenzug verlangen wir eure Solidarität bei Streiks und anderen Kämpfen, die dazu beitragen, die Bewegung der arbeitenden Klasse zu stärken.“ Wir verbinden das mit einer Propaganda, in der wir erklären, warum der „Labourismus“ (die Bindung an die Labour Party) den Kapitalismus letztendlich nicht umgestalten kann.11
Die Balance zwischen Begeisterung und Kritik variiert je nach dem Bewusstseinsstand der Arbeiter:innen und der Politik und Führung der Labour Party, aber die generelle Kritik des „Labourismus“ als Strategie geht über die Frage hinaus, wer gerade die Partei führt. Das gilt auch für sozialdemokratische und linksreformistische Parteien in anderen Ländern.
Die Rechtswende der Sozialdemokratie
Der zweite, sehr viel spezifischere Faktor für unsere Überlegungen zu dieser Frage betrifft die Rechtsentwicklung der Sozialdemokratie in der Nachkriegszeit in Europa (und in anderen Gegenden, aber hier wollen wir uns auf Europa beschränken), wodurch sie ihren Halt in der Arbeiter:innenklasse geschwächt hat und zunehmend offen mit den Bestrebungen von Arbeiter:innen in Konflikt gerät. Dieses Muster hat sich in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere unter Tony Blair und Gordon Brown verstärkt, als „New Labour“ ausdrücklich eine Version des neoliberalen Politikkonsenses befürwortete.12 Die Jahre unter Jeremy Corbyns Parteiführung waren eine bedingte Ausnahme auf diesem Weg nach rechts, als die Parteiführung einen Linksschwenk vollzog, jedoch ohne mit der sozialdemokratischen Logik und der Betonung parlamentarischer Politik zu brechen. Mit dem Zusammenbruch des Corbynismus und der Wahl von Keir Starmer als Parteiführer hat es eine Rückkehr zu dem alten Muster vor Corbyn gegeben.
Dieses Muster hat in Großbritannien und in vielen anderen Ländern deutlich Raum links der Sozialdemokratie geschaffen, den Revolutionär:innen mit unterschiedlichen Taktiken zu füllen versuchten. Es gab, grob gesagt, zwei historische Phasen, in denen Kräfte entstanden, die diese Herausforderung annahmen.
Die erste Phase fällt zusammen mit dem Aufbruch einer Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung Ende der 1990er bis Mitte der 2000er Jahre, zu der nach 2001 auch große Bewegungen gegen die Kriege in Afghanistan und in Irak gehörten.13 Den weitsichtigsten Kräften der radikalen Linken, auch Teilen der International Socialist Tendency (IST), zu der die SWP gehört, und jenen des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale, bot dieses Wiederaufleben einer Kampfansage an das kapitalistische System den Kontext für eine linke Neugruppierung.14 Diese nahm unterschiedliche Gestalt an: Umgruppierung von Revolutionär:innen; breite linke Wahlbündnisse über Revolutionär:innen hinaus; und verschiedene Zwischenstufen wie eine Umgruppierung gestützt auf einen gemeinsamen „antikapitalistischen“ Ansatz. In vielen der unten diskutierten Fälle führten auch Organisationen, die aus dem Committee for a Workers’ International hervorgegangen waren (der mit der Militant Tendency, später Socialist Party, verbundenen Gruppierung in Großbritannien), Diskussionen über eine Umgruppierung. Für sie lag die Anziehungskraft weniger in der Entstehung eines neuen antikapitalistischen Milieus, sondern sie waren der irrigen Ansicht, dass Organisationen wie die Labour Party von einer potenziellen Basis als revolutionärer Massenpartei zu rein prokapitalistischen Parteien geworden waren und damit Raum für eine neue Arbeiter:innenpartei entstanden war.15
Eine zweite Phase der linken Herausforderung an die Sozialdemokratie entstand nach der Wirtschaftskrise von 2008/2009. Jetzt war der Kontext die Sparpolitik, die in den meisten entwickelten kapitalistischen Ländern eingeführt wurde, auch dort, wo traditionelle linke Parteien regierten. Hinzu kam der Aufstieg großer Protestbewegungen gegen die daraus resultierenden sozialen Belastungen und die sich verfestigende Ungleichheit, die der Kapitalismus hervorbringt. Das gab den Anstoß für neue Projekte, um diesen Kämpfen einen politischen Ausdruck zu verleihen, und erhöhte die Beliebtheit einiger schon bestehender radikal-linker, parlamentarisch orientierter Organisationen.
Zu beiden Phasen sind zwei wichtige Punkte festzuhalten: Erstens entstanden zwar starke soziale Bewegungen, verglichen mit früheren Zeiten in der Geschichte des Kapitalismus gab es aber relativ wenig anhaltende Kämpfe der arbeitenden Klasse. Es gibt partielle Ausnahmen wie Griechenland nach der Krise von 2008/2009 und Frankreich 2010 und heute. Daraus erklärt sich der Durchbruch von Formationen der radikalen Linken in dem jeweiligen Kontext (siehe unten).
Verglichen mit der Zeit des französischen Generalstreiks von 1968 bis zur portugiesischen Revolution von 1974, ganz zu schweigen von der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als fast überall in Europa revolutionäre Bewegungen entstanden, gibt es allerdings keinen allgemeinen Aufschwung des Klassenkampfs und des Klassenbewusstseins. Das ist wichtig festzuhalten, denn der Grad der Selbstaktivität von Arbeiter:innen gehört zu den wichtigsten Bestimmungsgrößen für den Einfluss revolutionär-sozialistischer Politik.
Verbunden damit wurde zweitens das Feld links der Sozialdemokratie nicht nur von Revolutionär:innen besetzt – wobei sie angesichts ihrer geringen Größe diese Lücke auch kaum hätten füllen können. Ende der 1990er Jahre hatte die Polarisierung der Politik – die breite Ablehnung des neoliberalen Konsenses der Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien – eine Basis für ein größeres Spektrum radikal-linker Formationen geschaffen, die die traditionelle Sozialdemokratie herausforderten und jene ansprachen, die im Prinzip immer noch glaubten, dass der Kapitalismus reformiert werden könnte. In der Folge mussten Revolutionär:innen entscheiden, wie sie zu den neuen linksreformistischen Organisationen und Strömungen standen.
Der Corbynismus, der sich nach Corbyns Eroberung der Parteiführung im Jahr 2015 entwickelte, scheint in Bezug auf diese neuen linksreformistischen Parteien auf den ersten Blick eine Ausnahme gewesen zu sein. Das Beharrungsvermögen des Labourismus in Großbritannien und das damit verbundene Scheitern früherer linker Umgruppierungsversuche, die relative historische Schwäche der radikalen Linken jenseits der Sozialdemokratie und ein Mehrheitswahlrecht, das neue linksreformistische Organisationen benachteiligt, sprachen allesamt gegen die Entstehung einer neuen linksreformistischen Organisation. Dennoch passt auch der Corbynismus in das breitere Muster einer radikalen Linken, die meist Versionen eines linken Reformismus vertrat – in diesem Fall innerhalb der bestehenden sozialdemokratischen Partei, die zudem einen stark verwurzelten rechten Flügel hat.16
Das Fortbestehen des Reformismus
Der Aufstieg des linken Reformismus spiegelt ein umfassenderes Problem wider, das für die folgenden Ausführungen wesentlich ist. Das Problem des Reformismus bleibt bestehen trotz des Scheiterns und des begangenen Verrats verschiedenster reformistischer Parteien. Das liegt daran, dass der Reformismus, obwohl er sich in Organisationen verkörpert, im Kern kein Produkt einer Organisation ist, sondern des vorherrschenden Bewusstseins der arbeitenden Klasse im Kapitalismus. Der „gesunde Menschenverstand“, den Arbeiter:innen im Kapitalismus verinnerlicht haben, weil sie bisher keine andere Gesellschaftsform kennen und der Vorherrschaft kapitalistischer Kräfte unterworfen sind, über die sie wenig echte Kontrolle haben, beinhaltet mindestens eine partielle Akzeptanz des Systems in seiner derzeitigen, anscheinend natürlichen Form. Arbeiter:innen weisen häufig Aspekte des Systems zurück und machen die Erfahrung, dass sie diese durch ihren Kampf ändern können, oder sie hören in ihrem Umfeld von erfolgreichen Kämpfen. Das führt zu einem widersprüchlichen Gemisch an Ideen, was von dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci als „widersprüchliches Bewusstsein“ bezeichnet wurde.17
Deshalb beginnen die meisten Versuche von Arbeiter:innen, sich zu wehren, mit dem Ruf nach „Reformierung“ des Systems. Selbst in revolutionären Situationen nehmen reformistische Arbeiter:innen nicht über Nacht ein revolutionäres Bewusstsein an. Aufstände wie in der Russischen Revolution von 1905 und viele weitere seitdem begannen mit der Forderung nach „Reformen“. Trotzki schrieb in seiner Geschichte der Revolution von 1917, dass Arbeiter:innen revolutionäre Ideen durch einen Prozess der „sukzessiven Annäherungen“ erfassen, wenn der reformistische Weg zur Sackgasse wird und Revolutionär:innen eingreifen, um die Mehrheit der Arbeiter:innen für sich zu gewinnen.18
Das ist der Grund, warum Revolutionär:innen sich auch an nichtrevolutionären Kämpfen beteiligen müssen, um zu zeigen, dass Arbeiter:innen Reformen durch ihre kollektiven Anstrengungen erringen können. Umgekehrt kann das Streben nach Reformen durch Organisationen wie der Labour Party auf „Reformen von oben“ gelenkt werden.
Es ist wahr, dass verglichen mit der Zeit des langen Nachkriegsaufschwungs die Fähigkeit des Systems, Reformen zu gewähren, und die Bereitschaft der bürgerlichen Politiker, diese anzubieten, sehr viel geringer ist. Dennoch bedeutet das Fortbestehen des reformistischen Bewusstseins in der arbeitenden Klasse, dass reformistische Strömungen und Organisationen sich trotz des geringeren Spielraums für Reformen neu formieren können.
Varianten linker Wahlintervention
Da die revolutionäre Linke weder groß genug ist noch eine ausreichende gesellschaftliche Basis hat, um das Terrain links der traditionellen Sozialdemokratie zu besetzen, erscheint es häufig attraktiv, ein Arrangement mit reformistischen Arbeiter:innen, mit einer reformistischen Führung oder mit reformistischen Organisationen einzugehen, um bei Wahlen in Konkurrenz zu anderen Parteien zu treten. Das beschränkt sich aber nicht nur auf Wahlkämpfe. Sehr viele Aktivitäten von Revolutionär:innen beinhalten solche Übereinkünfte, die den Kern der „Einheitsfront“ bilden. Die antifaschistische Arbeit der SWP zum Beispiel beinhaltet für gewöhnlich die Zusammenarbeit mit reformistischen Persönlichkeiten und reformistischen Arbeiter:innen, während wir gleichzeitig auf kämpferischere Taktiken in der sich anschließenden Kampagne drängen. Allerdings stellen Wahlen, also das Terrain, auf dem Reformisten sich am wohlsten fühlen und wo sie am ehesten Erfolg haben, eine besondere Herausforderung dar, wie noch zu zeigen sein wird.
Wenn Wahlbündnisse von Revolutionär:innen dominiert sind, können wiederbelebte oder neu formierte reformistische Kräfte großen Druck von außen auf das Wahlbündnis ausüben und die Revolutionär:innen dazu zwingen, sich parlamentarischer Politik anzupassen. Sofern sie von Reformisten dominiert sind, übt das einen starken Druck von innen aus, der sich bei einem Wahlerfolg oft selbst verstärkt, was wiederum Revolutionär:innen zur Anpassung ermuntert. Wo Revolutionär:innen und Reformist:innen zusammenkommen, ohne dass eine Seite dominiert, übt der Reformismus meist Druck von innen und außen aus.
Im Folgenden sollen drei verschiedene Ansätze für Wahlinterventionen von Revolutionär:innen in den vergangenen drei Jahrzehnten und die Folgen für die Praxis aufgezeigt werden. Diese Ansätze sind: 1. Formationen mit einer ausdrücklich reformistischen Orientierung, in die Revolutionär:innen einzugreifen versuchen; 2. Formationen, in denen Revolutionär:innen eine „Einheitsfront besonderen Typs“ anstreben und dabei ihre Unabhängigkeit als Revolutionär:innen in diesem reformistischen Wahlbündnis zu wahren versuchen; 3. „strategisch nicht begrenzte“ Formationen, die den Anspruch erheben, die alten Formeln zur Unterscheidung zwischen reformistischen und revolutionären Organisationen hinter sich zu lassen, und in denen Revolutionär:innen oft die Hegemonie zu behalten versuchen.
Revolutionäre in reformistischen Parteien
Der Eintritt von Revolutionär:innen in explizit reformistische Parteien kann in Großbritannien auf eine lange Geschichte zurückblicken.19 Insbesondere die Militant Tendency entwickelte ab den 1960er Jahren einen Ansatz des Eintritts in die Labour Party nicht nur als kurzfristiges Mittel zur Mitgliedergewinnung, sondern als langfristiges Projekt.20 Das beruhte auf der Vorstellung, dass bei einem Anstieg der Klassenkämpfe die Arbeiter:innen die Notwendigkeit politischen Handelns erkennen würden: „Wenn sie erst einmal den Pfad der politischen Aktion betreten haben, gibt es nur noch einen Weg für sie: Sie müssen versuchen, die Organisation, die von den Gewerkschaften aufgebaut wurde [die Labour Party], zu verändern – sie müssen in die Labour Party gehen, um sie entsprechend ihren Bedürfnissen zu verändern.“21 Das war verbunden mit der Vorstellung, der Übergang zum Sozialismus könne durch ein „vom Parlament verabschiedetes Ermächtigungsgesetz zur Verstaatlichung der 200 Monopole, Banken und Versicherungsgesellschaften, die 80 bis 85 Prozent der Volkswirtschaft kontrollieren“, vollzogen werden.22 Die SWP verwarf sowohl die Idee, dass Arbeiter:innen, die anhaltende Arbeitskämpfe führen, die Labour Party zu ihrem Hauptfokus machen würden, als auch dass die Verstaatlichung der Wirtschaft mit Sozialismus gleichgesetzt werden könnte.23
Der Entrismus erlebte eine Art Revival unter Corbyn, als etliche kleine revolutionär-sozialistische Gruppen Labour beitraten, während jene, die schon Mitglied waren, Corbynistas anzuziehen versuchten. Nach dem Corbynismus gab es jedoch keinen echten organisierten Bruch mit dem Labourismus. Unabhängig davon, mit welchen Erwartungen sie eingetreten waren, und abgesehen von dem geringfügigen Zuwachs an Mitgliedern, ist keine dieser Gruppierungen mit einer für revolutionäre Politik gewonnenen Massenanhängerschaft aus Corbynisten daraus hervorgegangen.
Interessanter als diese britischen Erfahrungen sind jene von Revolutionär:innen in reformistischen Organisationen links der traditionellen Sozialdemokratie. Drei beachtenswerte Beispiele sollen hier betrachtet werden: Syriza in Griechenland, Podemos im Spanischen Staat und Die Linke in Deutschland, die nach der Wirtschaftskrise von 2008/2009 jeweils Zulauf verzeichnen konnten.24 An diesen drei Beispielen lässt sich sehr gut aufzeigen, wie im Rahmen einer anhaltenden Polarisierung der Politik linksreformistische Formationen außerordentlich schnell an Bedeutung gewinnen können, aber auf eine harte Probe gestellt werden, sobald sie sich den Gefilden der Macht nähern oder in eine Regierung eintreten. Das spiegelt ihren reformistischen Charakter wider: Was auch immer sie behaupten, sie neigen dazu, systematisch das Streben nach außerparlamentarischer Massenaktivität dem fortgesetzten Wahlerfolg unterzuordnen und dem Versuch, Reformen durch den kapitalistischen Staat durchzusetzen. Die Führungen dieser Organisationen versuchen teils ausdrücklich, die Sozialdemokratie auf linkerer Grundlage zu erneuern, allerdings unter Bedingungen, da die Fähigkeit des Kapitalismus, Reformen zu gewähren, eher begrenzt ist.25
Syriza in Griechenland
Syriza in Griechenland ist das beste Beispiel dafür. Syriza wurde im Jahr 2004 als Bündnis bereits bestehender Gruppierungen gegründet, in deren Zentrum die Partei Synaspismos stand, die aus den zwei Flügeln der Kommunistischen Partei Griechenlands hervorgegangen war.26 Die Eurozonenkrise von 2010 und die folgenden scharfen Klassenkämpfe führten zum Zerfall der alten sozialdemokratischen Partei, der Pasok, die seit 2009 an der Regierung war, was Syriza den Raum gab, ihre Anhängerschaft auszuweiten. Im Jahr 2015 übernahm Alexis Tsipras als erste Person einer Partei links des sozialdemokratischen Spektrums die Führung eines westeuropäischen Landes. Angesichts des Drucks seitens des griechischen Kapitals und der Institutionen des europäischen Kapitalismus, vermittelt durch die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank, kapitulierte Tsipras. Die Durchsetzung des von den Gläubigern Griechenlands geforderten Rettungsprogramms führte zu einem Aufschrei in der Parteilinken.27
In Syriza befanden sich zahlreiche, weit links stehende Strömungen, unter anderem die Internationale Werktätigen-Linke (DEA). Die DEA war eine kleine Abspaltung der Sozialistischen Arbeiterpartei (SEK), der griechischen Schwesterpartei der SWP. Die Führung der DEA erklärte alle für sektiererisch, die außerhalb von Syriza arbeiteten, auch die SEK und andere Teile des antikapitalistischen Bündnisses Antarsya, an dem die SEK beteiligt ist. Bevor Syriza im Jahr 2015 an die Macht gelangte, trat die DEA für eine „linke Regierung“ ein, wie sie es nannte, mit einem Forderungsprogramm zur Unterstützung der Bestrebungen der arbeitenden Klasse „als Übergangsschritt hin zu einem sozialistischen Bruch“.28 Unmittelbar nach Tsipras’ Sieg gab sie eine Erklärung heraus, in der es hieß:
Unter diesen neuen Umständen hat SYRIZA als politische Partei eine durch nichts zu ersetzende Rolle. Die Handlungsfähigkeit der Parteigliederungen und der Mitglieder in ihren Basiseinheiten, eine kollektive Arbeitsweise der gewählten Gremien, die innerparteiliche Demokratie sind keine netten Zugaben, sondern eine Vorbedingung für den endgültigen Sieg von SYRIZA und für den endgültigen Sieg der gesamten Linken und unseres Volks.29
Ein anderer Marxist in Syriza, Stathis Kouvelakis, beschrieb die Perspektive der Linken Plattform, zu der Gruppen wie die DEA gehörten, wie folgt: Sie betrachte „die Aussicht auf den Zugang zur Regierungsmacht als Mittel zur gesellschaftlichen Mobilisierung“. Er ergänzte, Entscheidungen über die Übernahme von Regierungspositionen seien abhängig von der Linie einer Regierung unter Syriza. Kouvelakis vertrat die Position der „Eroberung der Macht durch Wahlen, aber in Verbindung mit gesellschaftlicher Mobilisierung“ und dem „Bruch mit der Vorstellung der Doppelherrschaft als eines aufständischen Angriffs auf den Staat von außen, denn der Staat muss von innen und außen erobert werden, von oben und von unten“.30
Am Ende geschah nichts dergleichen. Ein großer Teil der radikalen Linken in Syriza sah sich gezwungen, nach der Kapitulation der Partei mit ihr zu brechen und etwas Neues zu gründen, die Laiki Enotita (Volkseinheit). Die Gruppe verlor bei den Wahlen wenige Monate nach Tsipras’ Kapitulation prompt ihre 25 Parlamentsmitglieder. Der Erfolg von Revolutionär:innen, die sich selbst als Vertreter einer linksreformistischen Partei präsentieren, übersetzt sich nicht notwendigerweise in einen Erfolg außerhalb der Formation – selbst wenn sie neue und noch linkere linksreformistische Parteien gründen.
Tsipras’ Weg und die Schwierigkeiten, die sich daraus für Revolutionär:innen ergeben können, sollten uns nicht überraschen.31 Schon im Jahr 2012 deutete sich diese Entwicklung an, als Syriza zur größten Oppositionspartei im Parlament wurde. Der Erfolg verstärkte den linksreformistischen Charakter des von der Mehrheit der Führung angestrebten Projekts. Ein Parteisprecher erklärte klipp und klar: „Wir können jetzt, wo wir 27 Prozent der Stimmen bekommen haben, nicht mehr so auftreten wie zu der Zeit, als wir 4 Prozent hatten.“32 Alex Callinicos schrieb seinerzeit als Kommentar zu den Formulierungen von Kouvelakis und Costas Lapavitsas, die meinten, der mögliche Sieg Syrizas schüfe vor dem Hintergrund breiter sozialer Bewegungen das Terrain für einen eventuellen Bruch mit der Eurozone:
Anscheinend steht dahinter die Vorstellung, dass die Logik des Kampfes eine Regierung von Syriza in die richtige Richtung treiben wird. […] In dem Maße, wie Syriza […] Maßnahmen gegen die Sparpolitik ergreifen sollte, bräuchte es sehr starken Druck von unten […]. Doch Kämpfe […] passieren nicht einfach: Sie erfordern das bewusste Handeln organisierter politischer Akteure.33
Der vorherrschende reformistische Ansatz in Syriza mit der Hauptstoßrichtung, innerhalb der Strukturen der parlamentarischen Demokratie um das Regierungsamt zu kämpfen, und die Unfähigkeit der Linken in der Organisation, eine klare und schlüssige Alternative aufzuzeigen, erwiesen sich als zu große Hürden. Der Anschluss an Syriza bremste in der Praxis die radikale Linke in ihrer „Fähigkeit zur unabhängigen Aktion“ aus.34
Podemos in Spanien
Podemos in Spanien sollte ebenfalls eine Warnung sein. Die Organisation wurde im Jahr 2014 von zwei Politikwissenschaftlern gegründet, Pablo Iglesias und Íñigo Errejón. Der kometenhafte Aufstieg der Partei erfolgte wie bei Syriza als Ausdruck intensiver gesellschaftlicher Kampfe im Spanischen Staat nach der Eurozonenkrise. Im Jahr 2011 führte das zur Besetzung öffentlicher Plätze durch die Massenbewegung der „Indignados“ (Empörten), was einer Ablehnung des gesamten politischen Staatssystems gleichkam.
Podemos war stark von den postmarxistischen Ideen Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes beeinflusst und vertrat, was Mouffe einen „linken Populismus“ nannte. Damit sollte nach der Vorstellung der Führung von Podemos eine heterogene Bewegung gegen „la casta“ (die Kaste) geschaffen werden, zu der ihrer Auffassung nach nicht nur die Eliten gehörten, sondern auch die bestehenden Parteien der Linken.35 Die Gruppierung der Anticapitalistas, die mit der Vierten Internationalen verbunden war, hatte sehr früh Einfluss auf Podemos. Sie sahen in der Gründung von Podemos ein „Vehikel, die Empörung der Bürger zu artikulieren“, und „eine einzigartige Gelegenheit, das noch von der Diktatur General Francisco Francos geerbte Elend und die 40 Jahre währende Offensive des neoliberalen und oligarchischen Kapitalismus aus der Welt zu schaffen“.36
Mit dem Abschwung der sozialen Bewegungen konzentrierte Podemos sich zunehmend rigide auf Wahlerfolge, straffte gleichzeitig die internen Strukturen, gab die lockeren „Zirkel“ auf, über die sich die Partei zuvor organisiert hatte, und schuf eine zentralisierte Führung.37 Auf diese Weise gelang es der Führung, die Partei nach rechts zu rücken, zum Beispiel durften zwei Sozialdemokraten ihr Wirtschaftsprogramm formulieren, das nun auf „kurzfristige pragmatische Vorschläge“ ausgerichtet war, statt auf einen Bruch mit dem spanischen Kapitalismus.38 Im Jahr 2015 konnte Iglesias verkünden: „Veränderung kommt durch die Institutionen […]. Dieser Unsinn, den wir als Vertreter der extremen Linken zu sagen pflegten, dass Veränderung auf der Straße und nicht in den Institutionen durchgesetzt wird, ist eine Lüge.“39 Dieser politische Schwenk zahlte sich nicht aus. Der Niedergang der Bewegung und die Stabilisierung der Volkswirtschaft mit der Abschwächung der Krise begrenzten den Stimmanteil der Partei und drängten sie umso mehr in Richtung der traditionellen linken Politik. Das führte anfangs zu der Bildung eines Wahlbündnisses mit der unter der Führung der Kommunistischen Partei stehenden Vereinigten Linken (Izquierda Unida) neben einigen anderen linken Parteien. Im Jahr 2017 gelang es Iglesias sodann, einen weiteren Rechtsschwenk zu vollziehen, wobei er seinen ehemaligen Verbündeten Errejón abservierte und eine weitaus weniger zweideutige Ausrichtung auf den Keynesianismus und die Sozialdemokratie durchsetzte.40 Im Jahr 2019 trat Iglesias für ein „Fortschrittsbündnis“ mit der Sozialistischen Partei (Partido Scialista Obrero Español) ein, der stärksten sozialdemokratischen Kraft des Landes. Dieses Bündnis bildete Anfang 2020 die Regierung. Podemos befand sich jetzt in der Regierung mit einer Partei, die sie zuvor verächtlich als Teil der „Kaste“ bezeichnet hatte.
Damit waren auch für die Anticapitalistas die Grenzen des Zumutbaren überschritten. Sie verließen Podemos mit der Erklärung: „Wieder einmal hat ein linkes Projekt sich der kurzfristigen Logik des kleineren Übels unterworfen, seine Politik im Gegenzug für einen geringen, belanglosen Einfluss auf den Ministerrat aufgegeben. Entgegen der Regierungspropaganda bricht die Koalition nicht mit dem orthodoxen ökonomischen Handlungsrahmen.“41 Ein Video, das Iglesias auf Twitter gepostet hat, zeigt ihn mit Teresa Rodríguez vom Vorstand der Anticapitalistas und wie sie eine Art „einvernehmliche Scheidung“ verkünden.42 In einem eher düsteren Teil des Bulletins der Anticapitalistas vom Dezember 2021 wurde über die Neuausrichtung der Organisation nachgedacht:
Trotz der Niederlage des vorigen Zyklus (der Zeit der Eurozonenkrise und des Aufstiegs von Podemos) hat unsere Organisation wichtige „relative“ Fortschritte gemacht. […] Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hat eine kleine antikapitalistische Organisation große öffentliche Aufmerksamkeit erlangt, Verbindung mit Sektoren geknüpft, die wir zuvor nicht erreicht haben, und die geografische Ausbreitung ihrer Kader konsolidiert. […] Aber auch unsere Schwächen sind deutlich geworden: Wir haben zunehmend Schwierigkeiten, unsere Ansichten in den Medien zu präsentieren, und unser Kadernetzwerk muss erneuert und reaktiviert werden.43
Die Linke in Deutschland
Im Gegensatz zu Podemos und Syriza hat die deutsche Partei Die Linke auf Bundesebene noch nicht mitregiert. Die Partei entstand im Jahr 2007 aus einem Zusammenschluss der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) und einer Organisation namens Wahlalternative für Arbeit & Soziale Gerechtigkeit (WASG). Die WASG wurde gegründet, als Teile der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), der traditionellen linken Partei, wegen der Enttäuschung über die Regierungskoalition von SPD und Grünen mit der SPD brachen. Diese Abspaltung von der SPD zählte zu seinen Mitgliedern Oskar Lafontaine, den ehemaligen Parteivorsitzenden und kurzzeitigen Finanzminister der grün-roten Regierung. Die WASG zog auch eine Schicht antikapitalistischer Aktivist:innen an, einschließlich Mitgliedern von Linksruck, der Schwesterorganisation der SWP.
Schon wenige Monate nach der Gründung verfügte Die Linke über 70.000 Mitglieder und wurde so zur drittgrößten Partei Deutschlands, die in Wahlumfragen schon bald 11 bis 14 Prozent erhielt. Von Beginn an gab es Spannungen in der Partei: Linke Sozialdemokrat:innen und Gewerkschafter:innen überwogen in der Mitgliedschaft Westdeutschlands, während die Anhänger der PDS überwiegend in Ostdeutschland vertreten waren, wo sie auch etliche Stadträte stellten. Die PDS hatte eine aus der kommunistischen Vergangenheit Ostdeutschlands übernommene Sichtweise des „Sozialismus von oben“ mit kommunalpolitischem Engagement verbunden.44 Die PDS befand sich in Berlin bereits in der Regierungskoalition mit der SPD, ein Muster der Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie, das sich fortsetzen sollte und der Glaubwürdigkeit der Linken schadete, weil ihre Abgeordneten Kürzungen und andere Angriffe auf Arbeiter:innen akzeptierten. Auch viele ehemalige WASG-Politiker zeigten sich offen für linke Regierungsbündnisse auf nationaler Ebene, solange eine Regierung auf einer linkssozialdemokratischen Grundlage gebildet würde.
Trotz dieser Probleme beteiligte sich ein Großteil der revolutionären Linken von Anfang an an dem Aufbau der Linkspartei. Linksruck gründete ein Netzwerk in der Linkspartei, das sich marx21 nannte und sich um das Magazin marx21 gruppierte. marx21 war kein formeller Teil der International Socialist Tendency und zu ihrer Führung gehörten Personen, die außerhalb der IST-Tradition standen. Im Nachhinein betrachtet war das wahrscheinlich ein Fehler, wenn auch ein verständlicher, weil er den Geist der Einheit widerspiegelte, wie er durch die Mitte der 2000er Jahre entstandene antikapitalistische Bewegung gefördert worden war. Unschärfen zu Schlüsselfragen wie der Rolle der Gewerkschaftsbürokratie und dem Wesen des Stalinismus erschwerten die Herausbildung einer klaren revolutionären Perspektive innerhalb der breiteren reformistischen Organisation.
Die Arbeit im Rahmen der Linkspartei hatte weitere Folgen: Statt dass marx21 vor allem eigene Initiativen ergriff, wurde ein großer Teil der revolutionären Aktivität durch die Linkestrukturen kanalisiert. Das hatte Vorteile, wenn Unterstützung von Initiativen schnell über diese Strukturen erreicht werden konnte, häufig jedoch verhinderte es ein scharfes, interventionistisches Vorgehen, das für effektiv arbeitende revolutionäre Gruppen mit einer kohärenten Führung charakteristisch ist. Dennoch bot die Linke zunächst ein günstiges Umfeld für Revolutionär:innen und zog ein großes Spektrum der radikalen Linken an. Mitglieder von marx21 erhielten Parlamentssitze als Abgeordnete der Linken mit ihrer lebendigen politischen Kultur, in der marx21 Debatten führen und Unterstützer:innen sammeln konnte.
Bis zu den Bundestagswahlen von 2017 konnte Die Linke Wahlerfolge von um die 10 Prozent der Stimmen verzeichnen. Im Jahr 2021 kam es jedoch zu einer dramatischen Wende bei den Wahlen, als die Partei ihren Stimmanteil halbierte, auf knapp unter 5 Prozent fiel und 30 ihrer 69 Parlamentssitze verlor. Bis dahin hatten Parteien der rechten wie auch der linken Mitte beständig an Unterstützung verloren. Das änderte sich, als Angela Merkel als Kanzlerin abtrat und ihre Mitte-rechts-Nachfolger in der Öffentlichkeit wenig Rückhalt fanden. In diesem Kontext erkannte die SPD die Notwendigkeit einer Linkswendung, um ihren Stimmenanteil zu erhöhen, und erlebte zusammen mit den Grünen vor den Wahlen von 2021 einen plötzlichen Aufschwung. Die begrenzte Wiederbelebung der traditionellen Sozialdemokratie setzte die linken Reformisten unter Druck.
Gleichzeitig kam es aber mit dem Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD) auch zur Stärkung der radikalen Rechten in Deutschland. Dieser doppelte Druck wirkte sich auf die Führung der Linkspartei aus. Statt sich als Partei der radikalen Alternative zu den etablierten Parteien anzubieten, war ein Großteil der Führung zunehmend fixiert auf die Vorstellung einer rot-rot-grünen Koalition mit der traditionellen Linken und versuchte umso mehr, die Respektabilität der Linkspartei und ihre Regierungsbereitschaft zu betonen. Das war ein großer Trugschluss. Warum sollte jemand die Linke wählen, wenn das nur zu einer Regierung unter Führung der SPD führen würde? Anhänger der Linkspartei entschieden sich in großer Zahl für die glaubwürdigeren reformistischen Alternativen: 1,4 Millionen Wähler:innen wanderten von der Linkspartei zur SPD und den Grünen ab.45
Zudem hatte die Partei Schaden genommen durch den Versuch von Sahra Wagenknecht, der bekanntesten Politikerin der Linken, sich Rassismus und Nationalismus anzupassen in dem Irrglauben, damit das Ansehen der Partei als Kampfansage an das Establishment wiederbeleben zu können.46 Für sie war der wahlpolitische Durchbruch der AfD im Jahr 2017 die Folge davon, dass die Linke sich von Sorgen der Arbeitenden abgewandt habe, insbesondere in der Frage der Zuwanderung. Ein Rechtsschwenk in dieser Frage sollte, so schlug sie vor, verbunden sein mit einer „realistischen linken Politik“.47 Wagenknechts Fraktion schaffte es auf dem Bundesparteitag der Linkspartei von 2022 nicht in die Parteiführung, aber sie übte weiterhin öffentlich Kritik an der Partei. Hinzu kamen scharfe Auseinandersetzungen über den Krieg in der Ukraine und deutsche Waffenlieferungen.
Was heißt das für Revolutionär:innen wie die Strömung von marx21? Die langfristige Perspektive für marx21 wurde von einem ihrer Theoretiker, Volkhard Mosler, während der Vereinigungsverhandlungen von WASG und PDS artikuliert. Er wurde gefragt, wie er zu den PDS-Mitgliedern stehe, die in Berlin soziale Kürzungen und Privatisierung durchsetzten:
Wir stehen am Anfang eines historischen Prozesses, der einige Zeit dauern wird, und die Menschen werden durch den Kampf lernen, und wir brauchen ein Haus, wo die gemeinsame Erfahrung auch gemeinsam ausgewertet werden kann. Deshalb brauchen wir eine große Bündnispartei. Sich wegen der Berlinfrage abzuspalten wäre derselbe Fehler, wie ihn Linke wie Antonie Pannekoek in den Niederlanden im Jahr 1910 begingen, als sie mit 500 Leuten die Sozialdemokratische Arbeiterpartei verließen und 35.000 den Rechten überließen. Rosa Luxemburg hatte eine andere, richtige Haltung dazu, als sie mit dem Spartakusbund in der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei blieb und sagte, wir müssen die Erfahrung mit den Massen gemeinsam machen und dürfen nicht außerhalb dieses Prozesses stehen.48
Wie nützlich ist dieser Vergleich? Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) war eine zentristische Massenorganisation, die kurz vor der Deutschen Revolution von 1918 aus der SPD ausgeschlossen worden war.49 Als das Land von der Revolution erschüttert wurde, konnte Luxemburgs sehr viel kleinerer Spartakusbund, der ursprünglich Teil der USPD gewesen war, riesige Demonstrationen anführen und fand Gehör bei den Arbeiter- und Soldatenräten. In diesem Zusammenhang brach der Spartakusbund Ende 1918 mit der USPD und trug zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands bei. Danach und angesichts einer konterrevolutionären SPD-Regierung, erhielt die USPD Zulauf, was zu ihrer weiteren Radikalisierung führte. Im Dezember 1920 spaltete sich die zentristische Partei und etwa die Hälfte ihrer Mitglieder schloss sich der Kommunistischen Partei an, um die Kriterien für die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Internationale zu erfüllen, die von sowjetischen Führern wie Lenin und Trotzki festgelegt worden waren.50 Als die KP als Massenpartei entstand, war Luxemburg bereits tot, umgebracht, als die Regierung die revolutionären Arbeiter:innen zu einem vorzeitigen Aufstand provozierte, die ihre kleine und unerfahrene Gruppe von Kommunisten weder verhindern noch in einen geordneten Rückzug führen konnte.51
Abgesehen von Fragen der historischen Genauigkeit ist dieser Vergleich eher abwegig. Die Linke hat mit der SPD nicht unter dem Druck eines revolutionären Aufstands der arbeitenden Klasse gebrochen; ihre Politik stand deutlich rechts von der sich radikalisierenden USPD, entschieden reformistisch, statt zentristisch. Es ist auch nicht klar, ob die Mitglieder von marx21 voll und ganz für die Idee gewonnen wurden, dass dieses Projekt letztendlich zu einem Bruch mit der Linkspartei unter geeigneten Umständen und zur Bildung einer neuen revolutionären Formation führen sollte.
Letztendlich sind die oben zitierten Umstände nicht eingetreten und die Linkspartei befindet sich nun in einer tiefen Krise. Anfang 2023 wurde marx21 auch von einer internen Auseinandersetzung erschüttert, die zeigte, dass ein Teil der Führung sich offenbar an der Gewerkschaftsbürokratie orientiert.52 Es wird sich zeigen, wie das Netzwerk marx21 aus diesen Debatten hervorgehen wird, sehr wahrscheinlich jedoch nicht als größere revolutionäre Partei.
Die „Einheitsfront besonderen Typs“
In den Jahren 2000 bis 2008, als die SWP besonders intensiv Wahlprojekte verfolgte, bildete die „Einheitsfront besonderen Typs“ den theoretischen Rahmen dafür.53 Zu der Zeit wurde dies als ein Modell betrachtet, die Unabhängigkeit der revolutionären Partei in einer größeren Formation mit ausdrücklich reformistischer Orientierung zu wahren in der Hoffnung, dass die oben genannten Probleme vermieden werden könnten.
Die Taktik der Einheitsfront war von Trotzki, Lenin und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern nach der Russischen Revolution entwickelt worden. Sie setzten sich dafür in der Kommunistischen Internationale ein, die sie 1919 gründeten. In vor allem an die frisch gegründete Kommunistische Partei Frankreichs gerichteten Kommentaren erklärte Trotzki, dass nach einem erfolgreichen Bruch mit der Sozialdemokratie die Revolutionär:innen „den organisatorischen Weg [suchen], in jedem gegebenen Augenblick die gemeinsamen Aktionen der kommunistischen und der nicht kommunistischen (darunter auch der sozialdemokratischen) Massen vorzunehmen“.54 Trotzki antwortete auf die Frage, ob eine Einheitsfront nur für reformistische Arbeitermassen oder auch für die reformistische Führung gelten sollte:
Selbstverständlich wäre es am besten, wenn wir einfach die Arbeitermassen um unsere Fahne oder um unsere praktischen Tageslosungen ohne die reformistischen politischen bzw. gewerkschaftlichen Organisationen versammeln könnten. In diesem Falle würde aber das Problem der Einheitsfront in seiner gegenwärtigen Gestalt überhaupt nicht bestehen.
Das Problem entsteht eben dadurch, dass bestimmte, sehr bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse den reformistischen Organisationen angehören oder sie unterstützen. Ihre bisherige Erfahrung reicht noch nicht zum Austritt aus den reformistischen Organisationen und zum Anschluss an unsere aus.55
Dieser Ansatz stellt für die reformistische Führung ein Dilemma dar: „Die Reformisten fürchten den potenziellen Revolutionarismus der Massenbewegungen. Parlamentstribüne, Trade Union Councils [Gewerkschaftsverbände], Schlichtungsausschüsse, das Vorzimmer des Ministers sind ihre Lieblingsarenen.“56 Das sollte Revolutionär:innen einen Vorteil verschaffen. Wenn die reformistische Führung sich weigert, mit Revolutionär:innen zusammenzuarbeiten, dann würde der Mangel an Bereitschaft, die Interessen der arbeitenden Klasse zu verteidigen, entlarvt. Wenn sie jedoch auf den Appell zur Einheit eingeht, besteht die Möglichkeit, die reformistischen Arbeiter:innen, die auf ihre Führung schauen, in eine organisatorische Beziehung mit Revolutionär:innen zu bringen. Ausgehend von ihrem gemeinsamen Kampf können Revolutionär:innen dann den Arbeiter:innen die Überlegenheit ihrer Ideen und Taktiken beweisen. Zum Schluss warnte Trotzki jedoch:
[…] alle organisatorischen Abkommen, die unsere Freiheit der Kritik und der Agitation schmälern, [sind für uns] vollkommen unannehmbar. […] Eben im Kampfe sollen sich die breiten Massen tatsächlich überzeugen, dass wir besser als andere kämpfen; sie sollen einsehen, dass wir klarer, kühner und entschlossener als andere sind.57
Diesen Ansatz verallgemeinerte Trotzki später in seinen Schriften über den Kampf gegen den Faschismus in Deutschland.58 Die Einheitsfrontpolitik bildete die Grundlage für den Großteil der SWP-Aktivitäten, auch für die zwei großen Erfolge der revolutionären Linken Großbritanniens in der Nachkriegszeit: die Anti-Nazi-Liga und die Stop the War Coalition.
Die Anwendung dieses Ansatzes auf die wahlpolitische Arbeit hatte mehrere Vorteile: Das Ziel der SWP in den 2000er Jahren bestand darin, die historisch gewachsene Kontrolle des Labourismus über die arbeitende Klasse zu brechen, der in entscheidenden Momenten den Klassenkampf zurückgehalten und eingefangen hatte. Den Labourismus aufzubrechen konnte letztendlich in die Schaffung einer größeren, radikal-linken Formation münden, in der Revolutionär:innen eine wichtige Rolle spielen könnten. Wenn das jedoch nicht nur die Probleme des Labourismus in neuer Form reproduzieren sollte, müsste aus diesem Prozess eine größere und besser verankerte Revolutionäre Linke hervorgehen. Teil der Dynamik dieser neuen Formationen war deshalb nicht nur die Notwendigkeit von Zusammenschlüssen, sondern auch der Spaltung. Um glaubwürdig auftreten zu können, war es nötig, dass die Revolutionär:innen sich die Möglichkeit zur unabhängigen Diskussion und Organisation erhielten.
Ein zweiter Vorteil ist, dass Sozialist:innen nicht nur auf dem Terrain von Wahlen aktiv sind, diese häufig sogar zweitrangig sind, insbesondere in Zeiten schärferer Klassenkämpfe. Die Wahrung der Unabhängigkeit der Revolutionär:innen ermöglicht auch andere Formen der Einheitsfrontpolitik mit Arbeiter:innen und ihren reformistischen Vertretern, selbst wenn diese noch nicht bereit sind, ein Wahlbündnis mit Revolutionär:innen einzugehen. Dass die SWP mit einer Gruppe von Reformisten zusammenarbeitete, um Labour bei den Wahlen herauszufordern, schloss beispielsweise nicht aus, in Unite Against Fascism mitzuarbeiten, einem Bündnis, das sich auf Personen stützte, die noch mit Labour verbunden waren.59
Das sind echte Vorteile, doch Mitte der 2000er Jahre zeigte sich, dass mit dem Einheitsfrontansatz ein zentrales Problem für Revolutionär:innen, die sich mit Reformisten in einem wahlpolitischen Bündnis befinden, nicht gelöst wird. Um das zu verstehen, können wir die Logik der Einheitsfronttaktik in vier Punkten zusammenfassen:
Erstens suchen Revolutionär:innen das Bündnis mit reformistischen Organisationen und deren Führung, um gemeinsame Aktivitäten zu entfalten.
Zweitens: Wenn dieser Ansatz ein glaubwürdiger ist und die Reformisten sich dem verweigern, dann zeigen sie, dass sie nicht ernsthaft bereit sind, die arbeitende Klasse zu verteidigen. Revolutionär:innen können dann versuchen, über die Köpfe ihrer Führung hinweg Arbeiter:innen in Aktion zu bringen. Wenn die reformistische Führung jedoch darauf eingeht, dann wird eine größere Zahl von Arbeiter:innen durch gemeinsame Aktivitäten in Kontakt mit der revolutionären Partei kommen.
Drittens kann die revolutionäre Partei durch diese gemeinsame Aktivität ihre überlegene Taktik, ihre theoretischen Erkenntnisse und die Entschlossenheit im Vergleich zu den Reformisten beweisen.
Viertens wird dadurch der Klassenkampf nicht nur vorwärtsgebracht, sondern vor allem wächst die revolutionäre Partei und verankert sich tiefer in der arbeitenden Klasse.
Das Einheitsfrontmodell auf Wahlpolitik angewandt hat wenig Einfluss auf den ersten und zweiten Punkt. Bei dem dritten Punkt bricht das Argument in sich zusammen. Der Erfolg der wahlpolitischen Arbeit bemisst sich vor allem an dem Gewinnen von Wahlen. Klassenkampf kommt darin nur in vermittelter und besonders lauer Form vor; Wahlkämpfe nehmen üblicherweise die Form der Überzeugung Einzelner an, am Wahltag ihre Stimme für die Linke abzugeben. Das steht in einem deutlichen Kontrast zu den anderen Aktivitäten, an denen Revolutionär:innen teilnehmen. Zum Beispiel sind während eines Streiks kämpferische Mittel, bei denen kollektive Basiskämpfe Vorrang vor Verhandlungen und Kompromissen haben, grundsätzlich überlegen, wenn Arbeiter:innen wirklich Erfolg haben wollen. Auch bei dem Kampf gegen rechtsradikale Straßenbewegungen hat sich der revolutionäre Ansatz (Massenmobilisierung von Arbeiter:innen, um das Selbstbewusstsein von Faschisten zu brechen und sie von ihrem breiteren Umfeld weicher Rassisten zu trennen) immer wieder als effektiv erwiesen. Wir können uns eine Wahl in einer revolutionären Zeit mit einer kollektiven Mobilisierung von Arbeiter:innen in großem Stil vorstellen, in normalen Zeiten jedoch werden bei Wahlen in der Regel Opportunismus und das Ansprechen weniger politisierter Schichten von Arbeiterinnen und Arbeitern belohnt, anstatt die Minderheit anzusprechen, die mit den Ideen der traditionellen Linken bricht. Das ist ein Grund dafür, dass Labour Arbeiter:innen über mehrere Generationen hinweg anziehen konnte, die Partei zögert nicht, Zugeständnisse an das bestehende Bewusstsein der arbeitenden Klasse zu machen.
Ein paar neue Mitglieder zu gewinnen und wichtige Themen hervorzuheben, mag Revolutionär:innen davon überzeugen, dass unsere Bemühungen nicht völlig vergebens sind, für die reformistischen Arbeiter:innen, die mit uns einen Wahlkampf bestreiten, sind das weniger sinnvolle Maßstäbe.
Deshalb ist die Logik der „Einheitsfront besonderen Typs“ für Reformist:innen vorteilhafter als für Revolutionär:innen. Revolutionär:innen können das wettzumachen versuchen, indem sie sich in Wahlkämpfen umso mehr anstrengen, um ihre Überlegenheit durch mehr Aktivismus und Entschlossenheit zu beweisen. Je erfolgreicher Revolutionär:innen jedoch bei dem Aufbau solcher Wahlbündnisse sind und je näher sie dem Wahlsieg kommen, desto größer dürfte das Gewicht der reformistischen Elemente werden. Erfolgreiche Wahlorganisationen ziehen logischerweise jene an, die durch Wahl in ein Amt Macht ausüben wollen. Zudem können diese Bemühungen mit der Zeit die Tätigkeit der revolutionären Partei selbst auf negative Weise beeinflussen. Im schlimmsten Fall wird diese Einheitsfront in dem Maße, wie die revolutionäre Partei sich der Logik parlamentarischer Wahlen anpasst, eine Brücke aus der Partei hinaus statt einer Brücke hinein. Selbst wenn es nicht so weit kommt, kann es die Orientierung der Partei auf andere Bereiche des Kampfs behindern und ihre Fähigkeit schwächen, umfassendere revolutionäre Politik zu entwickeln.
Respect in Großbritannien
Das wichtigste Beispiel dafür ist die Geschichte von Respect.60 Respect war die Nachfolgeorganisation der Socialist Alliance. Die Socialist Alliance wurde Ende der 1990er gegründet und entstand aus einem Netz linker Kräfte, die der Unzufriedenheit über New Labour Ausdruck verleihen wollten. New Labour war unter Tony Blair im Jahr 1997 an die Regierung gekommen. Im Zentrum der Initiative stand die Socialist Party, zu der Zeit der Hauptnachfolger der Militant Tendency in Großbritannien. Nachdem die Socialist Party ihren Ausschluss aus der Labour Party als Beweis dafür genommen hatte, dass diese faktisch nur eine weitere kapitalistische Partei sei, versuchte sie, eine neue Arbeitermassenpartei zu gründen, in der sie weiterhin entristisch arbeiten konnte.
Der Grund für die SWP und andere kleinere trotzkistische Gruppen wie der International Socialist Group (mit der Vierten Internationale verbunden), Workers Power und der Alliance für Workers’ Liberty im Jahr 1999 beizutreten, war die Hoffnung auf einen signifikanten Bruch mit Labour, zunächst vor allem in London. In der Hauptstadt weigerte Labour sich, Ken Livingstone als ihren Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters von London aufzustellen. Livingstone war in den 1980er Jahren linker Labour-Vorsitzender des Greater London Council, der obersten Verwaltungsbehörde von Großlondon, gewesen. Er trat daraufhin als unabhängiger Kandidat an und führte einen erfolgreichen Wahlkampf.61 Die London Socialist Alliance stellte Kandidat:innen links von Labour zu den Wahlen zu der neu geschaffenen London Assembly (dem Stadtparlament) auf und rief zur Wahl von Livingstone als Bürgermeister auf.
Am Ende stand ein bescheidener Erfolg. Die London Socialist Alliance erhielt gerade einmal 1,6 Prozent auf der Londoner Gesamtliste, es gab jedoch bemerkenswerte Durchbrüche in einigen der separaten Kommunalwahlen, wo sie bis zu 7 Prozent gewann, weit über dem üblicherweise erwarteten „Trotzkistenergebnis“ weit links stehender Kandidat:innen. Drei der vier besten Ergebnisse wurden in Kommunen erzielt, wo die SWP Kandidat:innen aufgestellt hatte: 7 Prozent in North East London; 6,2 im Wahlkreis Lambeth und Southwark und 4 Prozent in City und East London.62
Diese Ergebnisse waren Ausdruck der Aufbruchstimmung in Verbindung mit dem Wahlkampf von Livingstone und der harten Wahlkampfarbeit der Aktivist:innen. SWP-Ortsgruppen stellten ihre Arbeit ein, um Genoss:innen „freizustellen“ und in den Stadtvierteln Flugblätter zu verteilen. Die SWP bildete den Kern vieler dieser Kampagnen und betonte die Notwendigkeit der Kampagnenarbeit. Intern gab es unzufriedene Stimmen über diese wahlpolitische Wende und den geringeren Stellenwert, der den Parteiortsgruppen beigemessen wurde, insbesondere als diese Politik nach den Wahlen in London auf die Gesamtorganisation übertragen wurde. Angesichts des Wahlerfolgs waren die Beschwerden jedoch eher verhalten. Mitglieder, die damit nicht einverstanden waren, verließen die Partei, wurden passiver oder schwiegen und konzentrierten sich auf andere Kampagnen.
Nach dieser Erfahrung in London fühlte sich die Socialist Alliance selbstbewusst genug, zu den Parlamentswahlen von Juni 2001 in 98 Wahlkreisen anzutreten. Sie erhielt durchschnittlich 1,7 Prozent, kaum mehr als die SWP in den 1970er Jahren in einigen Wahlkreisen erhalten hatte. Es gab aber auch diesmal hier und da sehr viel bessere Ergebnisse: Das beste waren 7 Prozent für Dave Nellist, Socialist-Party-Mitglied und ehemaliger Labour-Abgeordneter in Coventry North East, aber auch einige SWP-Mitglieder erzielten beachtliche Erfolge, insbesondere in London.63
In der Socialist Alliance gab es erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Sie war organisatorisch gesehen ein Bündnis überwiegend aus trotzkistischen Gruppen neben ein paar bekannten unabhängigen Linken, die sich von der Idee einer vereinten linken Alternative zu Labour angezogen fühlten.64 Die Socialist Party verließ das Bündnis, als das Prinzip „ein Mitglied, eine Stimme“ eingeführt wurde, weil sie fürchtete, dass dann die SWP, der bei Weitem größte Teil, das Bündnis dominieren würde. Genau genommen war das zahlenmäßige Übergewicht der SWP auch ein Zeichen dafür, dass der Aufbau einer breiten Einheitsfront mit breiten Schichten von Reformisten nur begrenzt Erfolg hatte.
In dieser Hinsicht war die SWP sich der Grenzen der Socialist Alliance bewusst, und schon bald arbeitete ein großer Teil in der Partei Respect, die im Januar 2004 gegründet wurde. Das war der Versuch, der riesigen Antikriegsbewegung politischen Ausdruck zu verleihen, die sich nach 9/11 gebildet hatte. Motor dafür und größte Kraft darin war die Stop the War Coalition, initiiert von der SWP und anderen (neben der Campaign for Nuclear Disarmament und der Muslim Association of Britain). Was auf uns zukommen sollte, zeichnete sich bereits im Mai 2003 ab, als wenige Wochen nach dem Überfall auf Irak Michael Lavalette im Kontext einer mächtigen Antikriegsstimmung als Kandidat der Socialist Alliance in den Stadtrat von Preston in Lancashire gewählt wurde. Dieser Erfolg wurde unter anderem durch die Mobilisierung der muslimischen Wählerschaft errungen. Respect wurde fälschlicherweise als Bündnis zwischen „Islamisten“ und der Linken verunglimpft. Richtig ist, dass Respect mit einer linken Antikriegsplattform den größten Durchbruch in Vierteln mit großer muslimischer Bevölkerung neben nichtmuslimischen Arbeiter:innen verzeichnete.
Eine Hauptfigur beim Schmieden dieses Bündnisses war George Galloway. Heute tritt Galloway mit seiner Workers Party of Britain für eine „Anti woke“- und „patriotische“ Klassenpolitik ein. Damals jedoch war er ein Hitzkopf unter den Abgeordneten, einer der gefeiertesten Redner der Antikriegsbewegung und die bekannteste Person, die wegen ihrer Gegnerschaft zum Krieg gegen den Irak aus Labour ausgeschlossen wurde. Er wurde bereits stark mit einer linken antiimperialistischen Haltung zu den von den Vereinigten Staaten und Großbritannien geführten Kriegen sowie mit der entschiedenen Ablehnung von Islamophobie und antiarabischem Rassismus identifiziert.
Die Entscheidung, sich mit Galloway zusammenzutun, beruhte auf der Hoffnung auf einen größeren Bruch mit dem monolithischen britischen Labourismus.65 Zu diesem Bruch kam es nicht. Obwohl die Anhängerschaft von Labour wegen des Kriegs und der Antikriegsbewegung schrumpfte und etliche Mitglieder die Partei verließen, folgte kein einziger Abgeordneter Galloway. Respect zog einige bekannte Persönlichkeiten wie den Umweltaktivisten George Monbiot an, der Gründungsmitglied wurde. Monbiot verließ Respect allerdings schon nach wenigen Wochen, als sich abzeichnete, dass Respect in Konkurrenz zur Green Party antreten würde.66 Salma Yaqoob, eine junge Muslima, die sich in der Stop the War Coalition Birmingham einen Ruf als Aktivistin erwarb, war eine weitere Gründerin und sie bleib der Organisation rund ein Jahrzehnt lang treu. Wegen des Beharrungsvermögens des Labourismus blieb die SWP jedoch an fast allen Orten die organisatorische Hauptkraft – außer dort, wo Individuen wie Galloway und Yaqoob sich eine eigene unabhängige Unterstützerbasis schaffen konnten.
Respect erhielt bei den Europawahlen im Juni 2004 1,7 Prozent, genauso viel wie die Socialist Alliance erhalten hatte. In London, wo Linke wiederholt gegen Labour angetreten waren, hatte Respect jedoch deutlich mehr Erfolg,. Bei den Wahlen zur Londoner Stadtverordnetenversammlung verfehlte Respect nur um 0,3 Prozentpunkte die für eine Wahl erforderliche 5-Prozent-Hürde, wodurch Lindsey German, damals ein führendes SWP-Mitglied und Vorsitzende der Stop the War Coalition, einen Sitz erhalten hätte. Die meisten Stimmen erhielt Respect im Wahlkreis City und East, zu dem auch die Stadtbezirke Tower Hamlets und Newham gehören, wo sie 15 Prozent errang. In diesen Bezirken lebten viele muslimische Arbeiter:innen meist bangladeschischer Herkunft, von denen viele sich von der Labour-Partei abzuwenden begannen.67 In den Kommunalwahlen gewann Oliur Rahman, ein muslimischer Sozialist, der Respect beigetreten war, den Wahlbezirk St. Dunstans’s und Stepney Green in Tower Hamlets. Einen Monat später stellte Respect Kandidat:innen in Parlamentsnachwahlen in Birmingham Hodge Hill und Leicester South auf, wiederum Gebiete mit einen hohen Anteil an muslimischen Arbeiter:innen, und erhielt 6,3 Prozent und 12,7 Prozent. Im Jahr 2005 gewann Galloway die Direktwahl zum Parlament in Bethnal Green and Bow. Yakoob erhielt 27,5 Prozent und sie trennte nur 10 Prozent von dem Labour-Kandidaten in einem Wahlkreis von Birmingham, während es gleichzeitig beachtliche Erfolge in anderen Gebieten Ostlondons gab.
Galloways Sieg befestigte seine Autorität in Respect, was den Charakter der Organisation zu prägen begann. Im folgenden Jahr erhielt eine Respect-Liste in Lokalwahlen 16 Sitze, die meisten in Tower Hamlets. Das führte zu einer großen Krise in der Organisation mit der Polarisierung zwischen der SWP und Unterstützern Galloways. Es kam zu einem offenen Streit, als Galloway im Herbst 2017 einen Brief an die nationale Führung von Respect schrieb und neben dem nationalen Sekretär, seinerzeit John Rees, damals noch Mitglied der SWP, die Einsetzung eines nationalen Organisators forderte. Sie SWP stellte in ihrer Antwort fest:
Respect wurde als pluralistisches Bündnis gegründet und stützt sich deshalb immer auf Kompromisse zwischen den wichtigsten Teilen der Partei. Die SWP ist viele Kompromisse eingegangen und ist auch in Zukunft dazu bereit, wir fürchten jedoch, dass die jetzige Forderung zur Unterordnung der sozialistischen Linken in Respect führen wird. […] Leider gab es bei der Labour Party nicht die Art von Massenabwanderung wie in Deutschland, wo sich Gewerkschaftsführer und prominente Mitglieder der SPD abspalteten und Die Linke gründeten. […] Damit ist Respect überproportional abhängig von dem Ausmaß der Unterstützung der Muslime. […] Es sind die Bemühungen der SWP als Folge dieser Schwäche, die Unterstützung der Arbeiter:innenklasse für Respect zu erweitern und zu diversifizieren, die George und seine Verbündeten angreifen.68
Inzwischen ebbte die Antikriegsbewegung ab. Galloway tat, was von einem pragmatischen reformistischen Politiker zu erwarten war: Er suchte nach einer Möglichkeit, die Unterstützung für ein relativ erfolgreiches Instrument zu stärken. Auf dem Höhepunkt der Antikriegsbewegung stellte die SWP die nützlichen Fußsoldaten und stimmte mit Galloway in der wichtigsten tagespolitischen Frage überein. Jetzt jedoch hatte Galloway eine eigene lokale Unterstützerbasis, und eine organisierte revolutionär-sozialistische Kraft wurde zu einem Hindernis für die politischen Positionen, die er bei den Wahlen zu gewinnen hoffte.
Schon im Jahr 2005 hatte es kleinere Auseinandersetzungen mit Galloway gegeben, als er versuchte, muslimische Persönlichkeiten zu fördern, von denen er glaubte, sie könnten Teile der lokalen Bevölkerung mobilisieren. Dazu gehörten millionenschwere Restaurateure und Bauunternehmer mit wenig erkennbarem Interesse an Sozialismus. Im Vorfeld zu den Kommunalwahlen von 2006 gab es ebenfalls Druck, statt sozialistischer Kandidatinnen vor allem bengalische Männer mit dubiosen politischen Positionen aufzustellen. In Birmingham kam es im Jahr 2007 zu ähnlichen Auseinandersetzungen.69 Diese Differenzen waren unter der Decke gehalten worden, brachen aber jetzt offen aus und waren ein Schock für viele SWP-Mitglieder außerhalb der Führung oder den örtlichen Respect-Gruppen in Ostlondon und Birmingham.
Im November 2007 spaltete sich Respect. Der SWP-Flügel stellte Kandidat:innen als „Linke Liste“ auf und erhielt jämmerliche 0,7 Prozent für Lindsey German bei den Londoner Bürgermeisterwahlen und weniger als 1 Prozent bei den Wahlen für die London Assembly. Der Rest von Respect, immer noch unter der Führung von Galloway, der die Unterstützung verschiedener kleiner linker Gruppen genoss, verlor im Jahr 2010 den einzigen Parlamentssitz. Im Jahr 2012 erlebte die Partei noch einmal ein kurzes Hoch, als Galloway seinen früheren Triumph wiederholen konnte – dieses Mal bei einer Nachwahl in Bradford West. Das führte aber nicht zu einer Wiedergeburt seiner Organisation, Labour konnte sich den Sitz im Jahr 2015 zurückholen. Galloway hatte sich zu der Zeit bereits mit fünf Respect-Stadträten zerstritten, die nach seinem Wahlerfolg Parlamentssitze gewonnen hatten, und ein Großteil seiner Unterstützung auf nationaler Ebene war verloren gegangen.70
In der SWP kam es nach dieser gescheiterten Wahlpolitik zu einer Reihe von Krisen. Diese führten zu einer Überprüfung der Praxis des demokratischen Zentralismus in der Partei, zu einer Neuausrichtung der Strategie, um den Schwerpunkt stärker auf den Parteiaufbau zu legen, und zu Veränderungen in der Führung, die den Austritt von Persönlichkeiten wie Rees und German und ihren Anhängern aus der SWP zur Folge hatten. Obwohl wir kaum behaupten können, dass die Partei durch ihre wahlpolitischen Interventionen stärker geworden war, wissen wir nicht, was passiert wäre, hätte die SWP den wahlpolitischen Raum links von Labour nicht genutzt.
Klar ist jedoch, dass die Probleme der SWP nicht nur Ergebnis taktischer Fehler und von Missgeschicken waren, sie waren auch nicht allein auf die Person Galloway zurückzuführen. Sie waren Ausfluss des Drucks des Reformismus in Verbindung mit einem niedrigen Stand von Kämpfen, der sich in den spezifischen Organisationsstrukturen und der Wählerbasis von Respect widerspiegelte.
„Strategisch nicht begrenzte Formationen“
Für Revolutionär:innen, die Anfang der 2000er Jahre ihr eigenes wahlpolitisches Instrument zu konstruieren versuchten, war der Hauptkonkurrent zu dem Ansatz der SWP einer „Einheitsfront besonderen Typs“ der Ansatz einer „strategisch nicht begrenzten“ Formation.71 Damit waren Organisationen gemeint, in denen Revolutionär:innen Teil der Führung werden und ihre eigene Partei vollständig auflösen oder sie in eine „Plattform“ in der größeren Organisation verwandeln und auf diese Weise bewusst die Grenzen zwischen Reform und Revolution verschwimmen lassen. Drei Beispiele für diesen Typus sollen hier vorgestellt werden, von denen jedes sehr eigene Muster aufweist: die Scottish Socialist Party (SSP), die Nouveau Parti anticapitaliste (NPA) in Frankreich und People before Profit (Menschen vor Profite, PbP) in Irland.72
Die Scottish Socialist Party
Wie die Socialist Alliance war die SSP ebenfalls von Mitgliedern der Militant Tendency ins Leben gerufen worden. Im Falle Schottlands trugen Anhänger von Militant, die einst von Labour ausgeschlossen worden waren und nun als Scottish Militant Labour auftraten, im Jahr 1996 zur Gründung der Socialist Alliance bei. In den folgenden zwei Jahren trat diese Partei sowohl bei Lokal- als auch Parlamentswahlen an. Die bekannteste Persönlichkeit war Tommy Sheridan, der während der Anti-Poll-Tax-Kampagne (gegen die Einführung einer Kopfsteuer) im Jahr 1991 ins Gefängnis gekommen und im Jahr 1993 einer von sechs SML-Stadtverordneten war. Im Vorfeld der ersten Wahlen zu dem neu geschaffenen schottischen Parlament benannte die SSA sich in die SSP um. Diese Partei erzielte echte Erfolge. Sheridan wurde Mitglied des schottischen Parlaments und gewann die Wahlen auf der Glasgower Regionalliste im Jahr 1999 – und bei den folgenden Wahlen im Jahr 2003 konnte die SSP fünf weitere Sitze gewinnen. SWP-Mitglieder in Schottland traten am 1. Mai 2001 der SSP als Socialist Worker Platform bei.
Der Erfolg der SSP in Verbindung mit einer zunehmend stärkeren Betonung der Unterstützung für die Unabhängigkeit Schottlands führte zu wachsenden Spannungen zwischen den Nachfolgern von Militant nördlich und südlich der Grenze. Schließlich spaltete sich eine Mehrheit der schottischen Militant-Labour-Mitglieder ab und gründete die International Socialist Movement (ISM), die die SSP für einen Großteil ihrer frühen Geschichte dominieren sollte.73 Die ISM vertrat ebenso wie ihr früheres Pendant in England die Auffassung, Labour sei nur noch eine weitere bürgerliche Partei, womit ein großes Betätigungsfeld für neue linke Parteien entstanden sei. Die entsprechende Konzeption der Partei wurde von Murray Smith, einem führenden Mitglied, in einer Kritik an dem Einheitsfrontansatz der SWP dargelegt:
Die SWP scheint revolutionäre Parteien […] den neu entstehenden Parteien gegenüberzustellen. Das ist eine falsche Gegenüberstellung. Die neu entstehenden Gruppierungen und Parteien […] sind keine chemisch reinen revolutionären Parteien, können sich aber weiterentwickeln […]. Wir müssen an den Aufbau neuer Parteien mit der Bereitschaft herangehen, mit unterschiedlichen Kräften zusammenzuarbeiten, und mit der Geduld, eine Klärung durch Debatte und gemeinsame Erfahrung herbeizuführen. Die revolutionäre Massenpartei der Zukunft wird […] offen, pluralistisch und nichthierarchisch sein […]. Der Ausgangspunkt ist der qualitative Wandel der traditionellen Arbeiterparteien, was die Möglichkeit für die Entstehung neuer Arbeiterparteien schafft, die sich auf sozialistische Politik und Klassenkampf stützen. […] Die Veränderungen in dem Verhältnis der arbeitenden Klasse zu Labour können erklären, warum die SSP eine Partei ist, die den Herausforderungen der jetzigen Zeit entspricht.74
Insofern die SSP-Führung die Notwendigkeit anerkannte, mit weiteren reformistischen Kräften zusammenzuarbeiten, sollte sich dies auf einer Beziehung zwischen der SSP – die selbst aus einer Koalition aus Reformisten und Revolutionär:innen bestand – und diesen weiteren Kräften stützen.75 Der daraus resultierende Mangel an Klarheit in größeren Kampagnen und die daraus folgenden Beschränkungen für die Beteiligung breiterer reformistischer Kräfte war, wie bereits erwähnt, eines der Probleme, die die SWP mit ihrer Formulierung einer „Einheitsfront besonderen Typs“ zu vermeiden versucht hatte.
Obwohl die SSP permanente Fraktionen, genannt Plattformen, duldete, riet Smith der SWP ausdrücklich, nicht an ihrer organisatorischen Unabhängigkeit festzuhalten:
Insoweit die SWP an die SSP und die Socialist Alliance in dem Geist herangeht, die revolutionäre Komponente der Einheitsfront oder die revolutionäre Fraktion in einer zentristischen Partei zu sein, wird sie kaum auf konstruktive Weise agieren können. Wenn sie den spezifischen Charakter der SSP versteht, dann wird sie viel eher das tun, was die ISM tut: die Partei aufbauen und gleichzeitig den Einfluss des Marxismus darin stärken, aber nicht als Partei in einer Partei handeln. Außerdem wird sie der Socialist Alliance dabei helfen, sich zu einer Partei zu entwickeln.76
Das beinhaltete die Vorstellung von einer breit angelegten Partei mit Revolutionär:innen und Nichtrevolutionär:innen, in die die Marxist:innen nicht mit dem Ziel des „Aufbaus einer revolutionären Fraktion“ eintreten sollten […], sondern um die gesamte Partei vorwärtszubringen und gemeinsam […] die aufkommenden Probleme zu lösen“.77 Da dies auch die Vorstellung von einer „pluralistischen“ Partei als „organisierter Ausdruck […] verschiedener politischer Plattformen“ beinhaltete, lag dem offenbar die unausgesprochene Annahme zugrunde, dass die Haupttrennungslinien nicht zwischen Revolutionär:innen und Reformist:innen sein würden.78 Das mag zwar in bestimmten taktischen Fragen der Fall sein, aber mit der Zeit werden solche Organisationen auf dieser Grundlage unweigerlich unter internen Differenzen leiden. Das gilt insbesondere, wenn in der Partei permanente Plattformen bestehen, und erst recht, wenn es zu einem Wiederaufleben des Reformismus außerhalb der Partei kommt.
In der Blütezeit der SSP kam dieser Ansatz letztendlich nicht auf den Prüfstand. Stattdessen musste Sheridan im November 2004 den Vorsitz der SSP aufgeben, nachdem dem Parteivorstand bekannt geworden war, dass er eine Boulevardzeitung wegen Verleumdung verklagen wollte, die über sein Privatleben berichtet hatte. Etliche Mitglieder der SSP-Führung traten in dem folgenden Gerichtsprozess als Zeugen gegen ihn auf. Es folgte eine Spaltung, bei der Sheridan und seine Anhänger, einschließlich der SWP, die neue Organisation Solidarity gründeten. Beide Seiten hatten durch die Spaltung Schaden erlitten, und weder Solidarity noch die SSP konnten bei den Wahlen im Jahr 2007 einen Sitz im schottischen Parlament erringen.
Bei den Anschuldigungen, die News of the World gegen Sheridan erhoben hatte, ging es um die Behauptung, er habe einen Swingerclub besucht und Ehebruch begangen. Wir können jedoch davon ausgehen, dass sich dahinter größere Differenzen zwischen Sheridan und Teilen der SSP-Führung verbargen. In einer früheren Debatte mit der ISM hatte Alex Callinicos von der SWP die Vorstellung kritisiert, dass Formationen wie die SSP auf einem Terrain von kaum unterscheidbaren prokapitalistschen Parteien operierten. Er wies auf die Überschätzung der daraus folgenden Möglichkeiten hin:
Die Unterschätzung des Reformismus kann […] zu dem Versuch führen, das gesamte Vakuum, den dieser anscheinend hinterlassen hat, zu füllen. Die SSP-Führung scheint zu glauben, der Tod der Sozialdemokratie bedeute, dass das Aufstellen von ökonomischen „Brot und Butter“-Forderungen automatisch eine radikalisierende Dynamik entfaltet. Das kann zu einem engstirnigen Ökonomismus führen, der sich beispielsweise in der Tendenz einiger Mitglieder der Parteiführung äußert, den Aufbau der Antikriegsbewegung dem Wahlkampf für die wirtschaftlichen Forderungen, denen die Partei Priorität eingeräumt hat, entgegenzusetzen […].79
Nach der Spaltung wiederholte Mike Gonzalez diese frühe Kritik und erklärte, dass der Kern der SSP-Führung sich nur zögerlich in breitere Bewegungen einbringe, die sie nicht kontrolliere. Er stellte eine Weigerung fest, von den besten Beispielen der Stop the War Coalition südlich der schottischen Grenze zu lernen, insbesondere in Bezug auf die Beteiligung muslimischer Organisationen. Als im Jahr 2005 gegen den G8-Gipfel ein riesiger antikapitalistischer Protest bei dem Gleneagles Hotel auf dem schottischen Land stattfand, wurde dies als Mobilisierung der „liberalen Mittelschicht“ abgetan. Obwohl Sheridan nicht offen mit der ISM in diesen Fragen brach, war er der ISM-Führer, der am engsten mit dem Eingreifen in größere Bewegungen in Verbindung gebracht wurde.80
Welche Möglichkeiten sich für das weitere Wachstum der SSP eröffnet hätten, wenn es nicht zu dieser verheerenden Spaltung gekommen wäre, darüber können wir nur spekulieren. In einer Hinsicht war das schottische Terrain für die radikale Linke günstiger: Der Labourismus hatte hier einen besonders starken Niedergang erfahren. Selbst unter Corbyn rief Labour bei der schottischen Linken wenig Begeisterung hervor. Sobald die SSP durch ihre Krise ohnmächtig geworden war, sollte die Scottish National Party (SNP) der größte politische Nutznießer des Niedergangs von Labour werden. Obwohl die SNP keine traditionelle reformistische Organisation ist, sah sie sich unter Alex Salmond und später Nicola Sturgeon gezwungen, mit Labour zu konkurrieren, indem sie zumindest gemäßigte sozialdemokratische Maßnahmen vorstellte, die links von New Labour waren. Das beweist erneut das Beharrungsvermögen des reformistischen Bewusstseins und wie es in neuer organisatorischer Form wiederaufersteht und damit den Raum für die revolutionäre Linke einengt.81
Parallel und verbunden mit dem Aufstieg der SNP entstand im September 2014 eine große Unabhängigkeitskampagne anlässlich des schottischen Referendums. Auch hierin äußerte sich ein reformistisches Massengefühl, dem verschiedene Gruppen einen organisierten Ausdruck zu geben versuchten und sich dabei nicht selten traditionelleren Kräften für Unabhängigkeit unterordneten. Solidarity driftete nach rechts und löste sich in der Alba Party auf, die von Salmond nach seinem Bruch mit der SNP gegründet worden war. Die SSP ging eine Zeit lang ebenfalls in der Unabhängigkeitsbewegung auf. Sie unternahm einen kurzen, aber erfolglosen Versuch der Neugruppierung mit anderen linken Kräften für Unabhängigkeit, indem sie einer Formation beitrat, die im Gefolge des Referendums gegründet worden war: RISE – Scotland’s Left Alliance.82 Sie verließ RISE wieder, war aber im Jahr 2021 nicht mehr in der Lage, zu den schottischen Parlamentswahlen anzutreten.
Die Nouveau Parti anticapitaliste in Frankreich
Die Nouveau Parti anticapitaliste (Neue antikapitalistische Partei) in Frankreich ist ein weiteres Beispiel für anfänglichen Erfolg und späteren Niedergang. Die NPA wurde im Jahr 2009 von der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) gegründet, der wichtigsten Organisation der Vierten Internationale. Die LCR hatte durch den Wahlkampf von Olivier Besancenot zu den Präsidentschaftswahlen große Erfolge erzielt. Im Jahr 2002 erhielt er im ersten Wahlgang 1,2 Millionen Stimmen (4,3 Prozent) und im Jahr 2007 1,5 Millionen (4,1 Prozent). Auf alle linken Parteien zusammen entfielen bei der ersten Wahlrunde 2002 über 10 Prozent der Stimmen. Die NPA zog bei ihrer Gründung 9.200 Mitglieder an, fast dreimal mehr als die LCR an Mitgliedern hatte. Heute jedoch hat sie weniger als 2.000 Mitglieder und hat sich kürzlich gespalten bei dem Versuch, die tiefgreifende interne Fraktionierung zu lösen. Wie lässt sich dieser katastrophale Niedergang erklären?
Zweifellos gab es politische Probleme, beispielsweise die Unentschlossenheit der NPA-Führung, Muslime und das Recht auf das Tragen des Hidschabs zu verteidigen, was ein Brennpunkt der französischen Politik war. Verglichen mit der notorischen Islamophobie in einem Großteil der französischen Linken war die Entscheidung der NPA, mit Liham Moussaïd, einer den Hidschab tragenden Kandidatin, zu den Wahlen 2010 anzutreten, ein positives Zeichen. Sie erhielt dabei starke Unterstützung von Leuten wie Besancenot,. Doch war Moussaïd nicht nur Anfeindungen in der Linken ausgesetzt, ihre Kandidatur löste in der NPA auch eine Debatte aus, die damit endete, dass Moussaïd und ein Teil ihrer Anhängerschaft die Partei verließen.83 Es gab auch Probleme mit der Struktur der Organisation. Wie die LCR hatte die NPA das Recht auf Fraktionsbildung institutionalisiert und gestattete die Existenz permanenter interner Plattformen. Diese Art der Struktur erscheint oberflächlich gesehen offener und pluralistisch zu sein, kann jedoch die Debatte in der Organisation behindern, da jede Plattform ihre Position im Vorfeld formuliert und dann für die Durchsetzung ihrer Position kämpft.
Das Hauptproblem der NPA stellte jedoch das Wiederaufleben des linken Reformismus dar, diesmal in Gestalt der diversen Formationen unter der Führung von Jean-Luc Mélenchon. Um zu verstehen, wie sich dieser Druck auswirkte, müssen wir den strategischen Ansatz der NPA nachvollziehen.
Die Grundlage für die Formierung der NPA war die der „antikapitalistischen Partei“, nicht einer klassischen marxistischen „revolutionären Partei“. Im Jahr 2003 hatte eine Gruppe prominenter LCR-Mitglieder in eine polemische Auseinandersetzung zwischen Smith von der ISM und verschiedenen führenden Personen der SWP eingegriffen und ihre eigene Vorstellung von der Möglichkeit einer linken Neugruppierung dargelegt. Ihr Ansatz war abgestufter als der der ISM, aber sie unterstützten bedingt die Formulierung von Smith zur Transformation der Sozialdemokratie und ergänzten, dass kommunistische Kräfte wie die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) sich ebenfalls im „Todeskampf“ befänden. Sie entwickelten eine eigene Version von Smiths „strategisch nicht begrenzter“ Formation und nannten dies eine „Partei mit unvollständiger strategischer Abgrenzung“.84
Die Idee, die neue Partei bei der Gründung als antikapitalistisch zu bezeichnen, sah die LCR gerechtfertigt, weil dies einen Bruch mit dem Kapitalismus ermögliche. Gleichzeitig vermied sie den Begriff „revolutionär“ oder „sozialistisch“, um Unterstützung von einem breiteren Milieu anzuziehen, das dem kapitalistischen System kritisch gegenüberstand.85 Der Name und die Ausrichtung der Partei zielten auch darauf ab, eine weichere, nur „antineoliberale“ Formation auszuschließen, die versucht sein könnte, an einer Regierung mit Mitte-links-Kräften teilzunehmen.86 SWP-Mitglieder wiesen darauf hin, dass es unklug sein könnte zu glauben, diese Möglichkeit könne allein aufgrund des Programms ausgeschlossen werden; wenn die NPA in einer nichtrevolutionären Zeit einen größeren Wahlerfolg erzielen würde, würde sich auch der Druck erhöhen, an solch einer Koalition teilzunehmen, unabhängig von Name und Programm. In der Praxis spitzte sich dieses Problem dann nicht deshalb zu, weil die NPA sich dem Reformismus angepasst hätte, sondern durch die Entstehung einer linksreformistischen Formation, die in der Lage war, die NPA auf dem wahlpolitischen Terrain zu überflügeln.
In einer frühen Diskussion über die NPA in International Socialism formulierte François Sabado, einer der Parteiführer, eine Position, die diese Entwicklung bereits vorwegnahm:
Wenn Mélenchon, einer der Organisatoren der sozialistischen Linken, die Sozialistische Partei (Frankreichs größte sozialdemokratische Partei) unter Beibehaltung seiner reformistischen Politik verlässt […] und erklärt, er wolle eine „Die Linke Frankreich“ gründen, wie sollten Revolutionär:innen sich dazu verhalten? Sollten wir ihn unterstützen und uns seinen Vorschlägen und Projekten für Bündnisse mit der Kommunistischen Partei Frankreichs anschließen, die weiterhin bereit ist, schon morgen mit der PS zu regieren? Oder sollten wir uns positiv auf seinen Bruch mit der Sozialistischen Partei beziehen und auf die Aktionseinheit mit seiner Strömung, aber gleichzeitig nicht den Aufbau einer antikapitalistischen Linken mit dem Aufbau einer linksreformistischen Partei verwechseln? […] Der Aufbau einer französischen Die Linke würde im Vergleich zu der Geschichte der revolutionären Bewegung und dem, was die NPA heute darstellt, eine Abkehr von dem Aufbau einer antikapitalistischen Alternative bedeuten. Wenn ein gesamter, von der antikapitalistischen Linken beeinflusster Sektor sich von der Führung der traditionellen Linken distanziert hat, würde die Bildung einer neuen linksreformistischen Partei für die Arbeiterbewegung einen Schritt zurück bedeuten.87
Es stellte sich jedoch heraus, dass viele, die sich von der NPA angezogen fühlten, von ihrem programmatischen Bekenntnis zu einem Bruch mit dem Kapitalismus weniger überzeugt waren. Durch die Auflösung der LCR als eigenständige revolutionäre Organisation wurde vielen jungen Aktivisten, die in die NPA eintraten, und denen, die durch spätere Kämpfe radikalisiert wurden, genau die Art von Schulung vorenthalten, die für die Entwicklung eines solchen Verständnisses erforderlich ist. Das wurde noch dadurch verstärkt, dass die NPA sich selbst nicht als interventionistische revolutionäre Formation sah, die Kämpfe führen könnte, sondern in erster Linie als Wahlkampforganisation. Diese Probleme reichen allerdings schon bis zur LCR zurück:
Nach ihrer Gründung im Jahr 1968 war die LCR sehr aktivistisch […]. Sie wurde sogar wegen ihrer führenden Rolle bei einem Angriff auf eine faschistische Kundgebung im Jahr 1973 verboten. Als Reaktion auf die Krise der revolutionären Linken Ende der 1970er Jahre nahm die LCR jedoch eine sehr viel passivere Haltung zu Kämpfen ein. Diese Haltung – eine Überreaktion auf die durch Stellvertretertum gekennzeichneten Fehler, die sie Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre gelegentlich begangen hatte – wurde damit begründet, dass politische Organisationen die „Autonomie der sozialen Bewegungen“ respektieren sollten, als wenn Gewerkschaften und andere Kampagnenorganisationen frei wären von dem Zusammenstoß von Ideologien und politischen Richtungskämpfen. Einzelaktivist:innen der LCR und später der NPA haben in Streiks, Gewerkschaften und Antiglobalisierungsbündnissen eine wichtige Rolle gespielt, […] aber die politische Organisation brachte diese Aktivist:innen selten zusammen, um eine Linie zu einem bestimmten Thema auszuarbeiten, schon gar nicht, um ihr kollektives Gewicht in eine Aktion einzubringen. Das hatte zwei negative Folgen: Erstens beschränkte es die Fähigkeit der LCR und NPA, unterschiedlichen Kämpfen und Bewegungen eine Richtung zu geben. Zweitens hieß das in der Praxis, dass die Existenz der Organisation vor allem auf Wahlen […] ausgerichtet war.88
Das führte zu einer Trennung zwischen Politik und dem Kampf von Arbeiter:innen, indem die NPA „in erster Linie als Wahlorgan fungierte“, wie ein aus der International Socialist Tendency kommendes Mitglied sagte.89 In diesem Kontext war Mélenchons Gründung der Linken Front (Front de Gauche; FdG), des Wahlbündnisses aus seiner eigenen Partei und der KPF, eine echte Herausforderung.
Bei den ersten Wahlen, an denen die FdG zu den Europawahlen 2009 teilnahm, erhielt die FdG 6,5 Prozent der Stimmen, verglichen mit 4,9 Prozent für die NPA. Bei den folgenden Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2012 bekam der Kandidat der NPA, Philippe Poutou, nur noch 1,2 Prozent, verglichen mit 11,1 Prozent für Mélenchon. Das Versäumnis der NPA, sich ernsthaft mit der FdG auseinanderzusetzen, abgesehen von der abstrakten Forderung nach einem gemeinsamen antikapitalistischen Kandidaten, ermöglichte es der FdG, sich als die Kraft der linken Einheit zu präsentieren und die NPA auszumanövrieren.90
Die NPA verlor rasch an Mitgliedern und es kam zu schärferen fraktionellen Spannungen. Es schälte sich eine ultralinke und sektiererische Fraktion heraus, die von der Lähmung der NPA profitierte. Daneben jedoch entstand eine bedeutendere Plattform, die mit dem Konzept einer „antineoliberalen“ Präsidentschaftskandidatur liebäugelte. Diese Gruppe brach später mit der NPA, trat der FdG bei und vereinigte sich wieder mit einer früheren Abspaltung der LCR, die Mélenchons Ansatz ebenfalls unterstützte.
Im Jahr 2016 rief Mélenchon eine neue Organisation ins Leben, La France insoumise (Unbeugsames Frankreich, LFI). Inzwischen befand sich die Sozialistische Partei nach der großen Enttäuschung über François Hollande, der im Jahr 2012 Präsident wurde, in freiem Fall. Bei den Präsidentschaftswahlen von 2017 gewann Emmanuel Macron, Mélenchon erreichte im ersten Wahlgang 19,6 Prozent der Stimmen und wurde Vierter, während der Kandidat der Sozialistischen Partei nur auf 6,3 Prozent kam. Poutou von der NPA erhielt nur 1 Prozent. Bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2022 war Mélenchons Stimmanteil auf 22 Prozent gestiegen, er stand damit an dritter Stelle und hatte die LFI als größte linke Opposition in der Nationalversammlung etabliert.
Angesichts dieses Durchbruchs des Linksreformismus sahen sich die Sozialistische Partei, die Grünen und die KPF genötigt, der von Mélenchon gebildeten und angeführten Neuen Ökologischen und Sozialen Volksunion (Nouvelle union populaire écologique et sociale, NUPES) beizutreten, um eben die von der NPA befürchtete breite linke Regierung zu bilden.91 Die NPA erhielt unterdessen nur 0,8 Prozent der Stimmen. Eine ausdrücklich linksreformistische Formation hatte die „Partei mit unvollständiger strategischer Abgrenzung“ verdrängt. Die NPA selbst erlitt eine schwere Spaltung auf ihrer Konferenz von Dezember 2022, bei der die sektiererischen Strömungen, die während ihres Niedergangs relativ an Gewicht gewonnen hatten, ausschieden. Gleichzeitig argumentierte die restliche NPA, dass sie einen Weg finden müsse, mit den Anhängern Mélenchons über einen Einheitsfrontansatz in Verbindung zu treten, wenn sie wachsen wolle:
Unsere Analyse des Niedergangs des Klassenbewusstseins führt uns zu der Überlegung, dass eine entschlossene Einheitsfrontpolitik unbedingt notwendig ist. Deshalb müssen wir in der Lage sein, in die Debatten einzugreifen, die La France insoumise derzeit erschüttern […]. Diese Krise ist vor allem verbunden mit der Beziehung der Organisation zu den Institutionen. Um zusammen mit Aktivist:innen hier eingreifen zu können, müssen wir als Partner angesehen werden, nicht als Gegner.92
Es wird sich zeigen ob dieses Vorgehen den Niedergang der NPA aufhalten kann.
People before Profit in Irland
Das Schicksal der irischen Revolutionär:innen scheint bisher glücklicher verlaufen zu sein. Aktivist:innen der Irish Socialist Workers Party, heute Socialist Workers Network (SWN) entwickelten eine Organisationsform, die in gewisser Hinsicht eine „strategisch nicht begrenzte“ Formation darstellt, wie sie hier diskutiert wurde. People before Profit (PbP), in der SWN mitarbeitet, hat zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels vier Parlamentsabgeordnete (Teachtaí Dála; TDs) im irischen Parlament (Dáil Éireann), ein Mitglied im Parlament von Nordirland und 11 Stadträte im Norden und Süden Irlands.
Der erste Vorstoß der Irish Socialist Workers Party zu den Kommunalwahlen Mitte der 2000er Jahre erfolgte im Zuge einer großen Bewegung gegen neue Steuern auf die Müllabfuhr (die „Müllsteuer“) neben der Antikriegsbewegung und anderen Kampagnen. Brid Smith und Richard Boyd Barrett, sehr bekannte sozialistische Aktivisten, kandidierten im Jahr 2004 für die Partei und hoben im folgenden Jahr das Bündnis People before Profit aus der Taufe. Ihr Wahlkampf auf lokaler Ebene war relativ erfolgreich, beide kamen einem Wahlsieg sehr nahe.93 Nach der Wirtschaftskrise von 2008/2009 vergrößerte sich der Raum für solch eine linke Alternative erheblich. Fianna Fáil, die vorherrschende Partei in der Republik Irland, verlor deutlich an Anhängerschaft. Bei den Kommunalwahlen 2009 konnte die radikale Linke rund 20 Ratssitze erobern. Im Jahr 2011 wurden schließlich fünf TDs gewählt. Zwei kamen von PbP, zwei von der Socialist Party und einer von der Workers and Unemployed Action Group (Arbeiter- und Arbeitslosen-Aktionsgruppe).94 Die neuen TDs hatten auf der Liste der United Left Alliance (ULA) kandidiert, einem Wahlbündnis ihrer jeweiligen Organisationen. PbP versuchte, die ULA in eine Partei umzubilden, um auf diesem Erfolg aufzubauen, aber die anderen Parteien lehnten das ab und verließen kurz darauf diese Formation.95
Während sich Mitglieder der Socialist Workers Party in den Aufbau von PbP stürzten, kam ihnen die Entstehung einer Reihe von Bewegungen zu Hilfe, insbesondere die gegen die Wassergebühr, in der etliche PbP-Mitglieder eine wichtige Rolle spielten. Im Jahr 2014 hatten PbP und die von der Socialist Party gegründete Anti-Austerity Alliance (AAA, später in Solidarity umbenannt) bereits landesweit Bekanntheit erlangt. Die AAA gewann in diesem Jahr zwei Nachwahlen. PbP und die AAA profitierten auch von dem Versagen der Mitte-links-Parteien.
Die Irish Labour Party (ILP) erhielt nach der Wirtschaftskrise ursprünglich Zulauf. Sie hatte jedoch nicht nur keine nennenswerte parlamentarische Linke, sondern ging auch seit langer Zeit Koalitionen mit Fine Gael ein, der anderen großen prokapitalistischen Partei. Nachdem sie im Jahr 2011 erneut eine Regierung mit Fine Gael gebildet hatte, war es ihr unmöglich, Nutzen aus der allgemeinen Unzufriedenheit zu schlagen.96 Bei den Wahlen von 2016 bestraften die Wähler:innen die ILP für ihre Regierungsbeteiligung, während ein Bündnis aus AAA und PbP sechs Parlamentssitze gewann, drei für jede Organisation.
Inzwischen war die Bewegung für wirtschaftliche Forderungen schwächer geworden, aber die Linke konnte sich immer noch an großen politischen Bewegungen zu Themen wie der Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und dem Kampf gegen den Klimawandel beteiligen. In den Jahren von 2016 bis zu den Parlamentswahlen von 2020 kam es allerdings zu einer Neuordnung der reformistischen Linken. Der große Gewinner war im Jahr 2020 Sinn Féin, die im Wahlkampf eine leichte Linksverschiebung vornahm. Ihre Erststimmen stiegen auf 24,5 Prozent, mehr als alle anderen Parteien, und sie erhielt 10 Prozent mehr Stimmen als bei der Wahl davor. Sinn Féin spielte nun die Rolle der Hauptopposition zu einer Koalition aus Fianna Fáil und Fine Gael. Kieran Allen, führendes Mitglied von SWN, schrieb:
Sinn Féin ist zum wichtigsten Instrument geworden, die reformistischen Bestrebungen der irischen Arbeiter:innen zum Ausdruck zu bringen. Der Reformismus kommt normalerweise aus der sozialdemokratischen Tradition, aber das ist nicht immer der Fall […]. Wenn es keine starke sozialdemokratische Tradition gibt, findet er woanders seinen politischen Ausdruck.97
Im Gegensatz dazu erzielten Labour und eine andere gemäßigt reformistische Partei, die Social Democrats, insgesamt nur 7 Prozent. Die gemeinsame Liste von PbP und Solidarity geriet durch den Aufstieg von Sinn Féin unter Druck, aber die drei PbP-Abgeordneten behielten ihre Sitze. Ihnen schloss sich später ein weiterer TD an, Paul Murphy, dessen Organisation RISE sich von der Socialist Party abgespalten und nun PbP angeschlossen hatte. Das festigte die Position PbPs als größte Partei links von Sinn Féin im Süden.98
Was für eine Art Organisation ist PbP? Die SWN sieht PbP als „Übergangsorganisation“, im Gegensatz zu einer Einheitsfront. „PbP ist eindeutig eine politische Partei, die nicht nur systematisch zu Wahlen antritt, sondern auch über ein umfassendes politisches Programm verfügt.“ Auch die SWN weist die Vorstellung zurück, dass PbP eine reformistische Partei sei, nicht einmal eine „linksreformistische Partei wie Syriza, Podemos oder Die Linke“. In Anlehnung an die Formulierungen, mit denen die NPA beschrieben wurde, wird sie vielmehr als „durch und durch antikapitalistisch“ verstanden, die „gegen eine Koalition mit bürgerlichen Parteien ist und nur in eine Regierung eintreten wird, die sich wirklich mit dem System anlegen will“. Sie ist „noch nicht“ eine voll ausgebildete revolutionäre Partei und ist offen für Nichtrevolutionäre. Jedoch „liegt die Führung von PbP in den Händen erklärter Revolutionär:innen […]. Die Kultur und die Atmosphäre ihrer Versammlungen […] sind eindeutig sozialistisch und beeinflusst von Marxismus und revolutionären Ideen.“ Dieses Parteikonzept ist das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses. Die Partei begann als antineoliberales Bündnis, in dem Revolutionäre:innen zunächst einen radikalen linken Diskurs vertraten, aber in Ermangelung eines „organisierten reformistischen Pols“ wandelte sie sich allmählich zu einer offenkundig sozialistischen Organisation, die sich auf die revolutionäre Tradition beruft.99
Angesichts der Parallelen zu anderen hier erörterten Modellen lohnt es sich, auf mögliche Herausforderungen bei diesem Ansatz hinzuweisen. Als Erstes sei hier die sich verändernde Gestalt von Reformismus und Linksreformismus genannt. Auch wenn die Organisator:innen von PbP die Partei nicht als reformistische Organisation betrachten, wird sie von einem Großteil ihrer Anhängerschaft vermutlich in der Hoffnung gewählt, dass sie schließlich an die Regierung kommt und dieses Amt nutzt, um Reformen durchzusetzen. Das gilt auch, wenn sie die wichtige Rolle ihrer Mitglieder in außerparlamentarischen Bewegungen anerkennen. Damit besteht die Möglichkeit, dass Wähler von PbP zu anderen linken Alternativen wechseln, wenn diese eine glaubwürdigere Alternative zu bieten scheinen, Reformen umzusetzen. Weder die Labour Party noch die Social Democrats im Süden konnten in den vergangenen Jahren diese Aufgabe erfüllen, aber wie Allen schrieb, könnte Sinn Féin als glaubwürdigere Kraft auftreten. Glücklicherweise haben viele Sinn-Féin-Wähler:innen ihre Zweitstimme PbP gegeben, weshalb sie weiterhin im Parlament vertreten ist.
Zweitens kann sich im Lauf der Zeit eine organisierte reformistische Strömung entwickeln, wenn aufgrund ihrer Wahlerfolge neue Mitglieder in PbP strömen. Derzeit hat die SWN die Hegemonie in der Führung der Organisation. Die Entscheidung von RISE, sich PbP als Netzwerk mit eigener Zeitschrift und Podcast anzuschließen, lässt vermuten, dass es in der Zukunft zu schärferen internen Debatten kommt.100 Es gibt weitere strategische Fragen, die sich mit Sinn Féins wachsendem Erfolg stellen: Insbesondere wird der Umgang mit der Frage einer „linken Regierung“ relevant werden.101 All dies schmälert nicht die Erfolge, die PbP erzielt hat, und den Elan, mit dem die Beteiligten die Chancen auf dem Wahlkampffeld ergriffen und die ihnen gebotene Plattform genutzt haben. Dennoch ist es wichtig, diese Erfahrungen in den Kontext einiger weniger inspirierender Beispiele von Wahlkampfarbeit in ganz Europa zu stellen, um zu verstehen, welche Art von Druck entstehen kann.
Einige Lehren
Was können wir aus diesem Überblick über Wahlinterventionen der revolutionären Linken in Europa lernen?
Das wahlpolitische Terrain hat sich als deutlich ungünstiger erwiesen, als viele Anfang der 2000er und in den Jahren unmittelbar nach der Krise von 2008/2009 gehofft hatten. Die Probleme waren keine unglücklichen Zufälle oder isolierte Fehler von Revolutionäre:innen, auch wenn es viele Fehler gab. Sie haben eine tiefere politische Ursache – in nichtrevolutionären Zeiten hat der Reformismus bei Wahlen einen deutlichen Vorteil. Es kann immer noch Momente geben, in denen radikale Formationen, an denen Revolutionär:innen beteiligt sind, einen Durchbruch erzielen und zur Konkurrenz traditioneller Formen der Sozialdemokratie werden oder diese sogar in den Schatten stellen. Doch wenn dieser Moment vorbei ist, neigt der Reformismus dazu, sich in neuer oder umgestalteter Form zu zeigen und den Raum für Revolutionär:innen wieder einzuengen. Keine Organisationsform schützt diese Wahlinitiativen vollständig vor dem Druck des Reformismus, unabhängig von ihren spezifischen Vor- oder Nachteilen.
Dies gesagt, besteht eine große Gefahr darin, sich in ein steriles Sektierertum und revolutionären Dogmatismus zurückzuziehen. Zwar können sektiererische Gruppen unter den Bedingungen einer noch relativ sporadischen Selbsttätigkeit der arbeitenden Klasse gedeihen, insbesondere wenn größere, weit links stehende Gruppen in die Krise geraten. Das war eine Folge des Niedergangs der NPA in Frankreich, und wir können ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern Europas erkennen. Doch solchen Gruppen gelingt es selten, ihr Wachstum in Zeiten relativer Ruhe in der Arbeiter:innenklasse in einen Erfolg umzumünzen, wenn es zu Massenkämpfen kommt, gerade wegen der einseitigen Ausbildung und Entwicklung ihrer Mitglieder.
Außerdem ist es ein positiver Instinkt, die politische Gelegenheit zu ergreifen und sich in Diskussionen über „linke Neugruppierungen“ einzubringen oder allgemeiner in Wahlinitiativen. Für revolutionäre Sozialisten ist es nach wie vor von Vorteil, Positionen in bürgerlichen Parlamenten zu gewinnen, wie die Nutzung des Dáil und des nordirischen Parlaments durch Revolutionär:innen zeigt. Es gibt jedoch verschiedenste Ansätze dafür, zum Beispiel antikapitalistische Koalitionen, wie Antarsya in Griechenland, die neben der wahlpolitischen Arbeit auch das Eingreifen in Kämpfe betonen.
Es gibt auch Modelle außerhalb Europas, die in dieser Übersicht nicht enthalten sind, die aber eine weitere Betrachtung wert wären. So scheint beispielsweise die Frente de Izquierda y de Trabajadores-Unidad (Einheitsfront der Linken und Arbeiter, FIT-U), bestehend aus trotzkistischen Parteien in Argentinien mit einer antikapitalistischen Plattform, einige Wahlerfolge erzielt zu haben; aber auch hier ist es unwahrscheinlich, dass eine einfache Übertragung des FIT-U-Modells auf Großbritannien sofort erfolgreich wäre. Entscheidend ist der jeweilige Kontext mit der spezifischen Konstellation der reformistischen Kräfte, der Stärke der revolutionären Linken und des Stands der Klassenkämpfe.
Bei der Erkundung dieser Möglichkeiten müssen wir eine Art revolutionäres FOMO („fear of missing out“: die Angst, etwas zu versäumen) vermeiden, wann auch immer sich die Gelegenheit bietet, eine breitere Wahlformation zu gründen oder sich ihr anzuschließen. Wie wir gesehen haben, stand die griechische radikale Linke unter Druck, sich an Syriza zu beteiligen, als diese wuchs und Wahlerfolge verzeichnete. Im Nachhinein betrachtet war es für die Revolutionär:innen des SEK offensichtlich richtig, diesem Druck zu widerstehen, und auch wir können aus dieser Erfahrung etwas lernen.
Mit anderen Worten liegt der Nutzen unserer gesammelten Erfahrungen nicht darin, das Risiko zu vermeiden, sondern klüger damit umzugehen. Wir befinden uns in einer anderen Lage als die Revolutionär:innen Ende der 1990er oder Anfang der 2000er Jahre, als eher auf die Debatten nach der Russischen Revolution und die Umbrüche der Zwischenkriegszeit Bezug genommen wurde. Zweifellos können wir von diesen Debatten lernen, dass der Aufbau einer revolutionären Massenpartei kaum das Ergebnis eines langsamen, beständigen Wachstums von Organisationen wie der SWP sein wird, sondern vermutlich von Spaltungen und Zusammenschlüssen mit größeren reformistischen und zentristischen Organisationen begleitet sein wird. Damit ein solcher Prozess jedoch zum Vorteil von Revolutionär:innen gerät, ist wahrscheinlich ein weit höheres und anhaltendes Niveau von Arbeitskämpfen erforderlich. Das würde das Terrain von der begrenzten Vorstellung der Reformisten weg und hin zur kollektiven Selbsttätigkeit der Arbeiter:innen verschieben. Das war in Europa in den letzten Jahrzehnten leider nicht der Fall; bis sich das ändert, müssen wir aufmerksam verfolgen, wie sich diese verschiedenen Experimente unter unseren heutigen Bedingungen entwickelt haben.
Perspektiven für Revolutionär:innen in Großbritannien
Derzeit haben wir es in Großbritannien mit einer Tory-Regierung zu tun, die sich im Zustand fortgeschrittener Verlotterung befindet, aber entschlossen ist, einen Angriff auf den Lebensstandard der arbeitenden Klasse durchzuführen, während sie gleichzeitig die allgemeine Unzufriedenheit auf Flüchtende lenkt, die in kleinen Booten über den Ärmelkanal zu uns kommen. Die offizielle Opposition ist die Labour Party unter Starmer, die ihren eigenen linken Flügel angreift und bei ihrer „Reform“ öffentlicher Dienste Blair und Brown noch zu überflügeln droht. Derweil erleben wir eine „stockende Erholung“ des Klassenkampfs, wie ich es an anderer Stelle in dieser Zeitschrift genannt habe. Dazu gehören die längsten Streiks seit den 1980er Jahren, allerdings kontrolliert von der Gewerkschaftsbürokratie, einem besonders organisierten Ausdruck des Reformismus, der seine Fähigkeit bewiesen hat, Streikbewegungen in engen Grenzen zu halten.102
Deshalb sollten wir es begrüßen, wenn jemand wie Corbyn oder Abbott bei den Parlamentswahlen im nächsten Jahr links von Labour antreten. Ein Bruch mit Labour würde die Möglichkeit der politischen Radikalisierung über den Rahmen der vorherrschenden reformistischen Partei hinaus aufzeigen. Die Brüskierung Starmers, der seine Abgeordneten anwies, sich von Streikposten fernzuhalten, könnte den Arbeiter:innen mehr Selbstvertrauen für den Kampf geben. Dies gilt selbst dann, wenn der Corbynismus eine linke Variante des Labourismus bleibt, und auch dann, wenn Corbyn, wie einst Livingstone, aufgrund eines Wahlerfolgs zu Labour zurückkehren will.
Unser Ansatz sollte sein, glaubwürdige Kandidat:innen als eine unabhängige Abteilung revolutionärer Sozialist:innen zu unterstützen und für sie zu werben, nicht um hauptsächlich eine gemeinsame Organisation mit Reformisten zu bilden, die in erster Linie auf Wahlkampfpolitik ausgerichtet ist. Für den Moment dürfte das einfach sein. Bei den Kommunalwahlen im Mai gab es eine winzige Anzahl beeindruckender Ergebnisse für die Linke, die größtenteils von ehemaligen Labour-Ratsmitgliedern erzielt wurden, wie jene, die als Liverpool Community Independents kandidierten und drei Sitze gewannen.103 Die vorherrschende Vorstellung von Politik ist auch hier der Corbynismus als linke Variante des Labourismus.
Über diese Beispiele hinaus erzielten Kandidat:innen der radikalen Linken meist nur unbedeutende Erfolge, wobei die Green Party am meisten von dem Anti-Starmer- und Anti-Tory-Votum profitierten. Nach ein paar Jahren einer möglichen Regierung unter Starmer mag das anders aussehen, aber im Moment gibt es kaum eine Grundlage für einen größeren linken Bruch mit Labour. Bei den meisten Wahlen, wenn es keine glaubwürdige linke Kandidaturen gibt, sollten wir nach wie vor für eine kritische Stimmabgabe für Labour eintreten. Wie bereits erwähnt, geschieht das nicht aufgrund von Illusionen in den Labourismus, sondern als ein Akt der Anti-Tory-Solidarität, der es uns erlaubt, Arbeiter:innen wirksamer für gemeinsame Aktivitäten in größeren Kämpfen zu gewinnen.
Dort wo wir uns in den Wahlkampf links von Labour begeben, sollten wir uns auch über die sehr großen Anforderungen des Wahlkampfs im Klaren sein und dies nicht als Ersatz für andere wichtige Aktivitäten begreifen. Insbesondere geht es darum, Ansätze unabhängiger Basisinitiativen in der Streikbewegung aufzubauen und die Gefahr von Rassismus und der extremen Rechten zu bekämpfen. Aber auch hier gilt, dass Corbyns Aufstieg in der Labour Party zwar begrüßenswert war, weil die Vorstellung von Sozialismus wieder populär wurde, aber die Absorption vieler Linker in die Labour Party hat relativ wenig dazu beigetragen, breitere soziale Bewegungen jenseits des Wahlkampfs voranzubringen.104 Paradoxerweise kann die Fixierung auf Wahlen und parlamentarische Manöver eben die Kämpfe schwächen, die nicht selten überhaupt zu einem wahlpolitischen Durchbruch der radikalen Linken geführt haben.
Schließlich sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass wahlpolitische Arbeit zwar wichtig, aber einem umfassenderen Ziel untergeordnet ist: der Verankerung der revolutionären Organisation in der arbeitenden Klasse. Aus unseren kollektiven Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte lassen sich wichtige Lehren ziehen, um sicherzustellen, dass wir in Zukunft bei der Verfolgung dieses Ziels besser vorankommen.
Anmerkungen
1 Dieser Artikel entstand auf der Grundlage von Gesprächen mit Mitgliedern der Führung der Socialist Workers Party in Großbritannien. Etwaige Fehler sind ausschließlich meine eigenen. Dank an David Paenson, der die deutsche Übersetzung durchgesehen hat.
2 In Bezug auf Schottland siehe den ausführlichen Artikel in dieser Ausgabe von International Socialism von Maryam Hally and Héctor Sierra.
3 Prasad (2023).
4 Außerhalb Europas vollziehen sich ebenfalls wichtige Entwicklungen, die aber im Rahmen dieses Artikel nicht behandelt werden können.
5 Lenin (1983: 43–44).
6 Eine klassische Darstellung dieser Position findet sich bei Barker (1987).
7 Erreichte die britische Arbeiter:innenklasse einen solchen Grad an Radikalität, dass sie 325 revolutionär-sozialistische Abgeordnete in das Unterhaus entsendete, so wäre zu hoffen, dass dies bereits eine revolutionäre Lage ist und das Programm, auf dessen Grundlage sie gewählt wurden, den Aufstand der Arbeiter:innen einschließen würde.
8 Sándor (2009: 92–93).
9 Zu dem Versuch, diesen Grundsatz im vorrevolutionären Russland durchzusetzen, siehe Badajew (1957).
10 Die Zahlen stammen aus einer mir zur Verfügung gestellten Forschungsnotiz von John Rudge. Rudge weist auch darauf hin, dass die IS und ihr Vorläufer, die Socialist Review Group, einige Mitglieder bei Wahlen als Kandidaten von Labour aufstellte. Die SRG und die nachfolgende IS war damals noch eine kleine Strömung in der Labour Party und betrieb dort die „primitive Akkumulation von Kadern“, wie Trotzki es genannt hatte. Einige erzielten recht gute Ergebnisse, nicht selten um die 30 Prozent. Das war möglich, weil sie eben als Labour-Kandidaten antraten. Um auf diese Weise Sitze zu gewinnen und zu halten, hätten sie sich mit dem Labourismus arrangieren müssen. Tatsächlich gewann ein langjähriges IS-Mitglied, Syd Bidwell, bei den Parlamentswahlen von 1966 einen Sitz für Labour in Southhall. Er wurde wenige Wochen vor der Wahl aus der IS ausgeschlossen, weil er in seinem Wahlkampf Zugeständnisse an Rassismus gemacht hatte.
11 Auch dieser Ansatz gründet auf dem Rat Lenins an die aufsteigende kommunistische Bewegung in Großbritannien Anfang der 1920er Jahre. Siehe Lenin (1983: Kapitel 9).
12 Es muss daran erinnert werden, dass der Grundstein für den Triumph des Neoliberalismus in Großbritannien in den Jahren 1974 bis 1979 von einer Labour-Regierung gelegt wurde, die noch vor der Wahl von Margaret Thatcher den Keynesianismus fallen ließ und eine Version des Monetarismus einführte. Siehe Cliff/Gluckstein (1996: 320–332).
13 Diese Bewegungen nannten sich teils auch antikapitalistisch oder in Frankreich „altermondialiste“ (Antiglobalisierungsbewegung).
14 Im Folgenden bezeichne ich das Vereinigte Sekretariat kurz als Vierte Internationale.
15 Im Gegensatz zum Committee for a Workers’ International bleibt die SWP dabei, dass Labour als „kapitalistische Arbeiter:innenpartei“ zu bezeichnen ist, die die Interessen des Kapitalismus verteidigt, aber breite Unterstützung bei Arbeiter:innen findet und vermittelst der Gewerkschaften eine organische Verbindung zur arbeitenden Klasse hat. Diese Formulierung aus Lenins Schriften hat es uns ermöglicht, Illusionen in den Labourismus während seiner Linksschwenks zu vermeiden und andererseits Sektierertum bei einer Rechtswende. Siehe Cliff/Gluckstein (1996: 1–2).
16 Siehe hierzu zum Beispiel Callinicos (2012 a).
17 Gramsci (1994: 1384–1385).
18 Trotzki (1960: 13).
19 Ein Großteil der frühen Geschichte findet sich in Hallas (1982). Entrismus bedeutete nach Trotzki meist den Eintritt in „zentristische Organisationen“, reformistische Organisationen, die sich durch die Ereignisse in der Zwischenkriegszeit dazu gedrängt sahen, sich zumindest verbal zur Revolution zu bekennen, während sie in der Praxis zwischen Reform und Revolution schwankten. In einigen Fällen war der Entrismus eine von Trotzki vorgeschlagene Taktik, um größere revolutionäre Strömungen zu schaffen. Die kleine britische trotzkistische Linke konnte in dieser Zeit ein gewisses zahlenmäßiges Wachstum durch den Eintritt in die zentristische Independent Labour Party (ILP) verzeichnen, allerdings wurde dieser Erfolg dadurch untergraben, dass Revolutionäre sich an die ILP anpassten und nicht bereit waren, diese zu verlassen, als deutlich wurde, dass die ILP nicht glaubwürdig für eine Revolution zu gewinnen war. Zu dem sehr beschränkten Erfolg und den erheblichen Misserfolgen bei dieser Taktik zum Beispiel in Frankreich in den 1930er Jahren siehe Cliff (1993: 224–234).
20 Als Militant in den 1980er und 1990er Jahren aus der Labour Party ausgeschlossen wurde, spaltete sich die Organisation in zwei Gruppen. Eine ist Socialist Appeal, die schon bei ihrer Gründung im Jahr 1992 in Labour zu bleiben versuchte, bis sie schließlich 2021 von Starmer rausgeschmissen wurde. Sie hatte kürzlich einigen Erfolg an Universitäten dank ihrer „Marxist societies“, die einen relativ dogmatischen Marxismus anbieten. Die andere ist die Socialist Party, die Labour als eine durch und durch kapitalistische Partei zu bezeichnen begann. Sie führt nun die Trade Union and Socialist Coalition an. Eine dritte Gruppe, die Socialist Alternative, brach kürzlich mit der Socialist Party über die Frage der Politik gegen Unterdrückung.
21 Zit. n. McGregor (1986: 69).
22 Zit. n. McGregor (1986: 61).
23 Das ist ein weiteres Beispiel für die bleibende Bedeutung von Cliffs Theorie des bürokratischen Staatskapitalismus über den Bestand der Sowjetunion hinaus, die auch eine Kritik der Vorstellung ist, dass die vollständige Verstaatlichung einer Wirtschaft ohne die Selbstbefreiung der Arbeiter:innen zu einer sozialistischen Gesellschaft führen könnte. Siehe Cliff (1975).
24 Aus Platzgründen können hier etliche weitere wichtige Beispiele, wie die Rifondazione Comunista (Kommunistische Wiedergründung) in Italien, der Bloco de Esquerda (Linker Block) in Portugal und die norwegische Rødt (Rote Partei) nicht diskutiert werden.
25 Siehe Callinicos (2012 a: 12–14).
26 Die langjährige Präsenz von Kandidaten verschiedener Parteien aus der kommunistischen Tradition und ein Wahlsystem, das Minderheitsparteien weit weniger benachteiligt als in Großbritannien, verhalf Syriza von Anfang an zu gewissen Wahlerfolgen. Dies war die Grundlage für ihr späteres Wachstum.
27 Siehe Garganas (2015).
28 Siehe zum Beispiel Davanellos (2014).
29 „Die Aufgaben der Linken nach dem Sieg von Syriza“ (27. Januar 2015). www.inprekorr.de/520-gr-dea.htm
30 Kouvelakis (2015).
31 Kouvelakis verglich Tsiprasʼ Kapitulation mit der deutschen Sozialdemokratie, die 1914 zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Deutschen Reichstag für die Kriegskredite stimmte; siehe Garganas (2015: 20). Als Lenin in der Zeitung der Sozialdemokratie davon erfuhr, glaubte er, dass es sich um eine Fälschung des deutschen Generalstabs handelte. Die Kapitulation von Syriza war leider sehr viel vorhersehbarer.
32 Zitiert nach Garganas (2012: 199).
33 Callinicos (2012 a: 19).
34 Callinicos (2012 a: 21).
35 Siehe Sierra (2017, 2022).
36 Zitiert nach Barriere/Durgan/Robson (2015: 19).
37 Barriere/Durgan/Robson (2015: 25–27).
38 Barriere/Durgan/Robson (2015: 28).
39 Zitiert nach Bravo (2016).
40 Zitiert nach Sierra (2017: 59).
41 Zitiert nach Sierra (2022: 153).
42 Siehe twitter.com/PabloIglesias/status/1227684462718341122
43 Meine Übersetzung. Das Originaldokument ist hier einzusehen: tinyurl.com/nhht9293
44 Bornost (2007).
45 Siehe marx21 Redaktion (2021).
46 Sahra Wagenknechts Buch „Die Selbstgerechten“ (2021) ist eine Polemik gegen die „Lifestyle-Linke“, wie sie es nennt, und gegen „Identitätspolitik“.
47 Connolly (2018).
48 Buchholz/Mosler/Mosler (2006). Das war keine unbedachte Bemerkung, eine sehr ähnliche Formulierung findet sich bei Nachtwey (2009: 33–34).
49 Bezüglich des Begriffs „zentristisch“ siehe Fußnote 19.
50 Angesichts dieser späteren Entwicklung lässt sich leicht erkennen, warum Clara Zetkin, eine der fähigsten deutschen Revolutionärinnen der Zeit, Luxemburgs Bruch mit der USPD für verfrüht hielt; Birchall (2016: 189).
51 Harman (1982: 43, 68–69, 77, 79–117); Broué (2004: 189–225).
52 Ein Hinweis auf diesen Ansatz ist das Lob von Jane McAleveys Organizing-Strategie in: Stierl/Billor/Dormann (2019). Im Gegensatz dazu die Kritik dieses Ansatzes von Brook (2022).
53 Diese Formulierung wurde von John Rees entwickelt, als er noch Mitglied der SWP und verantwortlich für die parlamentarische Arbeit war. Siehe zum Beispiel Rees (2002: 63).
54 Trotzki (1922).
55 Trotzki (1922).
56 Trotzki (1922).
57 Trotzki (1922).
58 Trotzki (1971).
59 Rees (2002: 64).
60 Der volle Name lautete Respect – The Unity Coalition.
61 Obwohl der Wahlerfolg Livingstones in der ersten Wahl zu der neu geschaffenen Position als Bürgermeister Londons eine Demütigung für Blair war, lud Blair ihn ein, der Partei wieder beizutreten und am Ende seiner ersten Amtszeit im Jahr 2004 für Labour zu kandidieren. Livingstone, der eng mit dem Labourismus verbunden war, nahm das Angebot als Pragmatiker an und wurde mit geringfügig weniger Stimmen wiedergewählt. Zu Livingstones Weg siehe Kimber (2007).
62 Ian Page von der Socialist Party erhielt im Wahlkreis Greenwich and Lewisham ebenfalls 4,2 Prozent.
63 SWP-Mitglieder gewannen 4,6 Prozent im Wahlkreis Hackney South and Shoreditch und 3,7 Prozent in Tottenham.
64 Die bekannteste war Liz Davies, eine ehemalige Labour-Gemeinderätin. Sie trat neun Monate später zurück mit der Begründung, die SWP dominiere das Bündnis, und wegen der veränderten Ausrichtung auf den Aufbau der Stop the War Coalition nach den terroristischen Angriffen vom 11. September 2001.
65 Galloways Glaubwürdigkeit als Linker war in vielerlei Hinsicht schwächer als die anderer Persönlichkeiten, wie Tony Benn, Diane Abbott und Jeremy Corbyn. Er war kein Mitglied der Socialist Campaign Group linker Labour-Abgeordneter und behauptete nach den Poll-Tax-Unruhen von 1990, die zum Sturz von Margaret Thatcher beitrugen, dass „diese Verrückten, Anarchisten und andere Extremisten, vor allem von der Socialist Workers Party, die ganze Zeit auf einen Aufstand aus waren“.
66 Respect versuchte ursprünglich, ein Bündnis mit den Grünen zu schmieden, was diese aber ablehnten.
67 In diesen Gebieten bezeichnen sich etwa ein Drittel als Muslime. In Gebieten wie North East London mit weniger muslimischen Wähler:innen konnte Respekt nur wenige Prozentpunkte mehr holen als die Socialist Alliance.
68 Dieses Dokument ist hier einsehbar: www.whatnextjournal.org.uk/Pages/Politics/RespectDebate.html
69 Siehe Harman (2008: 33–37).
70 Yaqoob brach mit Galloway im Jahr 2012, als dieser meinte, bei der dem WikiLeaks-Gründer Julian Assange vorgeworfenen Vergewaltigung handele es sich lediglich um „schlechte sexuelle Etikette“. Die Vierte Internationale verließ Respect zwei Jahre früher, als Galloway seinen Wahlantritt in Schottland verkündete, ohne die Scottish Socialist Party zu fragen, die die Vierte Internationale unterstützte.
71 Diese Formulierung findet sich bei Smith selbst (2002 a).
72 In gewisser Hinsicht entspricht die letzte Inkarnation der Trade Unionist and Socialist Coalition (TUSC), an der die SWP zeitweilig beteiligt war, dieser Beschreibung. Ursprünglich war dies eine Koalition aus Socialist Party, der SWP und der Führung der Bahnarbeitergewerkschaft RMT (National Union of Rail, Maritime and Transport Workers). Sie wurde im Jahr 2010 gegründet und die SWP verließ das Bündnis im Jahr 2017. Sie hatte begrenzten Erfolg als Wahlformation, doch als Corbyn Parteiführer von Labour wurde, zeichnete sich ab, dass eine linke Plattform gegen Labour nur wenig Chancen hatte. Die RMT trat offiziell im Jahr 2022 aus und übrig blieb TUSC mehr oder weniger als Frontorganisation der Socialist Party mit ein paar Einzelunterstützern. Gelegentlich vergleicht die Socialist Party die TUSC ebenfalls mit einer Einheitsfront; siehe Heemskerk (2019).
73 Die ISM löste sich im Jahr 2006 auf.
74 Smith (2002 b:44–45). Siehe hierzu auch Smith (2003). Smith hat einen interessanten Werdegang: Er zog nach Frankreich und spielte eine Rolle in der Ligue Communiste Révolutionnaire, die später die Nouveau Parti anticapitaliste gründete (siehe unten). Dann unterstützte er eine Abspaltung von der Partei, die sich der Front de Gauche (Linke Front) anschloss. Schließlich wurde er Vorsitzender der Luxemburgischen Partei Déi Lénk (Die Linken). Dieser Weg bestand darin, sich mit dem Linksreformismus zu arrangieren, ihm aber einen antikapitalistischen Anstrich zu geben. Bei einer bemerkenswerten Intervention vor etwa 10 Jahren stritt er deshalb auch ab, dass Parteien wie die Kommunistische Partei Frankreichs und Syriza als reformistisch betrachtet werden könnten.
75 Siehe McKerrell (2002: 55).
76 Smith (2002 b: 47).
77 Smith (2003: 73).
78 Smith (2003: 74).
79 Callinicos (2003).
80 Gonzalez (2006).
81 Zu diesen Entwicklungen siehe Davidson (2008).
82 RISE wurde 2015 von Mitgliedern der International Socialist Group (Scotland) gegründet, einer kleinen Abspaltung der SWP.
83 Wolfreys (2015: 38).
84 Siehe Bensaïd/Crémieux/Duval/Sabado (2003).
85 Die Abstimmung über den Namen war allerdings knapp, einige Delegierte hatten stattdessen „Revolutionäre Antikapitalistische Partei“ vorgeschlagen.
86 Siehe Callinicos (2008: 97–101).
87 Sabado (2009: 145–146).
88 Callinicos (2012 b: 23).
89 Godard (2013: 207).
90 Callinicos (2012 a: 21). Wolfreys (2012: 39–47).
91 Die NPA war auch an Gesprächen zur Bildung einer Koalition beteiligt, entschied sich jedoch gegen eine organisatorische Beteiligung, als die Sozialistische Partei dazukam.
92 Siehe Larrache (2022).
93 Molyneux (2022: 27–28).
94 Die Socialist Party war das Committee for a Workers’ International’s group in Ireland.
95 Molyneux (2022: 29).
96 Labour war auch mit dem Apparat der Services, Industrial, Professional and Technical Union (SIPTU), Irlands größter Gewerkschaft, verbunden, wobei die Führung der SIPTU seit über zwei Jahrzehnten eine „Partnerschaft“ mit den Bossen pflegte.
97 Allen (2021 a).
98 Nordirland hat eine andere politische Dynamik als der Süden, aber auch hier hat PbP, die für ein vereintes sozialistisches Irland eintritt, beeindruckende Ergebnisse erzielt. Gerry Carroll gewann 2016 in Belfast West einen Sitz in der nordirischen Versammlung, und die Partei hat mehrere Sitze im Stadtrat. Dieser Durchbruch ist Ausdruck sowohl für die entschlossene Kampagnenarbeit zu verschiedenen Themen und über viele Jahre hinweg als auch die Schwächung der traditionellen politischen Kräfte. Es ist auch das Ergebnis der Entwicklung einer klaren und einzigartigen Position zur nationalen Frage: kritisch in Bezug auf den Charakter des Staats im Norden wie im Süden, bereit, die protestantischen Arbeiter:innen nicht abzuschreiben, und Befürworterin eines vereinten Irlands durch Klassenkampf; siehe Molyneux (2022: 34.)
99 Molyneux (2022: 35–36).
100 RISE: www.letusrise.ie/featured-articles/rise-joins-pbp
101 Siehe hierzu zum Beispiel Allen (2021 b).
102 Choonara (2023).
103 Socialist Worker (2023).
104 Siehe Thomas (2017); Kimber (2020); Kimber (2021), die den Aufstieg und Fall des Corbynismus nachgezeichnet haben.
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Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning, erschienen am 05.08.2023 in International Socialism (https://isj.org.uk/revolutionare-und-wahlen/). Zuerst erschienen in International Socialism 179 (Sommer 2023) (http://isj.org.uk/revolutionaries-and-elections)
Titelbild: Glenn Carstens-Peters