Ein Gespräch über Entwicklung, Strategie und Charakter der faschistischen Partei Rassemblement National mit John Mullen
Im Juni letzten Jahres hat der französische Premierminister Emmanuel Macron das Parlament vorzeitig aufgelöst und für Ende Juni Neuwahlen angesetzt. Was war der Grund dafür?
Macron rief die Wahlen so kurzfristig wie möglich aus, weil er davon überzeugt war, dass die Linke sich nicht vereinigen würde und dass er aufgrund des Zwei-Runden-Wahlsystems in der Lage sein würde, seine eigene Partei als einzige Alternative zu Marine Le Pens Partei, dem Rassemblement National (RN), zu präsentieren und eine solide parlamentarische Mehrheit zu erlangen. Sein Plan ist gescheitert.
Warum konnte das RN so schnell so viele Stimmen gewinnen?
Bei den Parlamentswahlen im Juni dieses Jahres erhielten die Faschisten fast neun Millionen Stimmen. Das sind weniger als die 13 Millionen, die sie in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen von 2022 erhielten. Es sind aber weit mehr als die vier Millionen, die sie bei den Parlamentswahlen in jenem Jahr bekamen. Außerdem erhielten sie fünfzig Abgeordnetensitze mehr als zuvor. Der Hauptgrund dafür ist der Einbruch der Unterstützung für die traditionellen rechten und linken Regierungsparteien. Das Fehlen einer dauerhaften, nationalen Massenbewegung gegen den Faschismus hat der extremen Rechten jedoch sicherlich sehr geholfen.
Wie haben die anderen Parteien reagiert?
Die erschreckenden Ergebnisse der Faschisten in der ersten Runde der Wahlen führten zu einer historischen antifaschistischen Mobilisierung. Es war der dynamischste linke Wahlkampf seit fünfzig Jahren. Das Ergebnis war, dass die Faschisten, von denen alle erwartet hatten, dass sie mehr Abgeordnete stellen würden als jede andere Fraktion, tatsächlich den dritten Platz belegten. Der erste Platz, also der Wahlsieg und damit die größte Gruppe von Abgeordneten ging an das linke Wahlbündnis „Nouveau Front populaire“ (Neue Volksfront).
Das RN ist in einem mehrjährigen Prozess »umstrukturiert« worden. Was waren die wichtigsten Schritte?
Der Name der Partei wurde von »Front National« in »Rassemblement National« geändert. Eine Reihe von Mitgliedern wurde ausgeschlossen, weil sie zu offen Sympathien zum Antisemitismus oder Faschismus geäußert hatten. Dazu gehörte auch der Gründer der Partei, der Vater von Marine Le Pen, Jean-Marie Le Pen, der es sich nicht nehmen ließ, »Witze« über die Vernichtung der Juden durch die Nazis zu machen. Die Organisation rief auch nicht mehr zu Straßendemonstrationen auf, da dies Momente waren, in denen sich offene Nazi-Anhänger zeigen konnten.
Hat das den Charakter der Partei verändert?
Nein. Der Kern der RN-Führung ist faschistisch. Sie verwenden immer noch das von Mussolini übernommene Flammenlogo. Immer noch wollen sie muslimische Kopftücher an allen öffentlichen Orten verbieten, Einwanderer aus dem sozialen Wohnungsbau ausschließen und Straffreiheit für rassistische Polizistenmörder. Dabei versuchen sie, ihre Verbindungen zu offenen Faschisten zu verbergen. Kürzlich wurde jedoch nachgewiesen, dass sie enge Verbindungen zur Frauengruppe »Nemesis« haben. Diese hat sich darauf spezialisiert, auf feministischen Demonstrationen mit Plakaten aufzutauchen und zu behaupten, alle Vergewaltiger seien Einwanderer. Eine Studie aus diesem Jahr zeigt, dass mindestens 80 der RN-Kandidaten für die Wahlen im Juni in offen rassistische oder antisemitische Aktivitäten verwickelt waren. Einer von ihnen schrieb: »Die Unterscheidung zwischen Ethnien ist gesunder Menschenverstand und in einer Reihe von Debatten nützlich«.
Als der offen antisemitische Jean-Marie Le Pen kürzlich starb, erklärte Marine Le Pen, sie werde sich nie verzeihen, ihn aus der Partei ausgeschlossen zu haben. Andere RN-Führer erklärten, sie sei dazu gezwungen gewesen, weil er dem Ansehen der Partei geschadet habe. Keiner von ihnen behauptete, er sei ausgeschlossen worden, weil sich die Ideologie der Partei grundlegend geändert habe.
Da das RN eine sehr prinzipienlose und opportunistische Partei ist, ändert sie häufig ihren Diskurs. Im Moment sind sie zuversichtlich, dass sie eine solide Wählerbasis in den ärmeren Teilen der Gesellschaft haben. Daher konzentrieren sie sich auf Slogans wie »Chaos vermeiden« (indem sie sich weigern, sich dem Sparhaushalt der rechten Regierung zu widersetzen), während sie darauf bestehen, dass Macrons rassistische Maßnahmen nicht weit genug gehen.
Gibt es hoffnungsvolle Anzeichen für Aktivitäten gegen das RN?
Die historische Mobilisierung im letzten Jahr, als Hunderttausende von Menschen in Aktion traten, um zu verhindern, dass die Faschisten an die Regierung kommen, obwohl Meinungsumfragen dies als das wahrscheinlichste Ergebnis ansahen, war natürlich äußerst ermutigend. Zehntausende schlossen sich zum ersten Mal linksradikalen Gruppen an, insbesondere der France Insoumise (Frankreich in Aufruhr). Da die Faschisten die Wahlen in den Mittelpunkt ihrer Strategie gestellt hat, ist es äußerst wichtig, die Wähler davon zu überzeugen, dass diese Leute Faschisten sind und den arbeitenden Menschen nichts zu bieten haben.
Dennoch sind dem Antifaschismus in Frankreich erhebliche Grenzen gesetzt. In der Linken ist es sehr weit verbreitet, entweder zu glauben, dass Macron ohnehin ein Faschist ist und daher eine gezielte Kampagne gegen das Rassemblement National nicht notwendig ist, oder die Bedeutung der Verhinderung des Aufbaus von Parteistrukturen des RN stark zu unterschätzen. In vielen Hunderten von Städten hat sie fast keine lokale Strukturen. Der Aufbau dieser Strukturen ist ihre Priorität und sie daran zu hindern, sollte unsere sein.
Die meisten linken Organisationen sind jedoch der Ansicht, dass es ausreicht, ein alternatives linkes Programm vorzuschlagen, um die Faschisten an den Rand zu drängen. Das ist ein Irrtum, und es ist eine energische Debatte notwendig. Es gibt regelmäßig lokale Initiativen gegen faschistische Treffen oder Aktivitäten, aber eine nationale Kampagne ist notwendig.
Wir stehen vor Neuwahlen in Deutschland – die bürgerlichen Parteien agieren im Wahlkampf als Handlanger der AfD. Was können wir aus den französischen Erfahrungen lernen?
Die etablierten rechten Parteien werden immer die Faschisten den radikalen Linken vorziehen. Macron argumentierte jahrelang, er sei die einzige Alternative zur extremen Rechten, bevor er seinen Diskurs änderte und verkündete, er sei die einzige Alternative zu »den beiden Extremen«. Dann verweigerte er der Linken die Regierungsbildung, obwohl sie die größte Fraktion im Parlament hatte. Er stärkte die Faschisten unermesslich, indem er rassistische Minister ernannte und das rechtsextreme RN als respektable, normale Partei behandelte.
John Mullen ist seit vielen Jahren in der linken Politik in der Region Paris aktiv und ist Mitglied seiner lokalen Gruppe von France Insoumise. Seine Website lautet randombolshevik.org.
Titelbild: Jeanne Menjoulet