Palästina: Krieg und weltweiter Widerstand

Von Joseph Choonara

Unsere letzte Ausgabe von International Socialism gaben wir mit dem Titel „Globalise the Intifada“ in Druck [1]. Als das Magazin aus der Druckerei kam, waren an etlichen Universitäten in den Vereinigten Staaten Zeltcamps aufgeschlagen worden, um Solidarität mit Gaza zu üben. Diese Form des Protests wurde kurz darauf tatsächlich weltweit aufgegriffen.

Die Camps sind ein wesentliches Element einer der größten Kampagnen internationaler Solidarität, die es je gegeben hat. Angesichts dieser Entwicklung müssen wir uns daran erinnern, dass eine solche Bewegung für Palästina früher kaum denkbar gewesen wäre. Die wachsende öffentliche Wahrnehmung der brutalen Logik des Imperialismus und die schiere Zahl der von dem israelischen Staat begangenen Gräueltaten sowie die jahrzehntelange beharrliche Kampagnenarbeit von Palästinenser:innen, Sozialist:innen und propalästinensischen Aktivisten:innen haben dazu beigetragen.

Nie zuvor war Israel auf der Weltbühne so isoliert. Die Kritik an Benjamin Netanjahus Angriff auf den Gazastreifen geht weit über die Bewegung auf der Straße und an den Universitäten hinaus. Im Mai forderte der Internationale Gerichtshof (IGH) – ein Organ der Vereinten Nationen, das bereits mit einem Fall befasst war, in dem Israel Völkermord vorgeworfen wurde – Israel auf, seinen Angriff auf die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens einzustellen.

Zwei Tage später griff Israel unter Missachtung der Anordnung des IGH Binnenflüchtlinge an, die in einer „sicheren Zone“ neben einem UN-Logistikzentrum in Tal al-Sultan Schutz gesucht hatten. Die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) bezeichneten den Angriff als „nachrichtendienstlich gestützten Präzisionsschlag“ [2]. Mindestens 45 Palästinenser:innen wurden bei den Explosionen und dem ausbrechenden Feuer im Brix-Lager getötet und 249 verletzt. Der Angriff wurde von dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) und von Vertretern der Europäischen Union verurteilt. Selbst in Deutschland, dessen Regierung Israel bisher bedingungslos unterstützt hat, sah sich Vizekanzler Robert Habeck genötigt, dieses Vorgehen im Gazastreifen als „unverhältnismäßig“ zu kritisieren [3].

Auch US-Präsident Joe Biden und der britische Außenminister David Cameron waren isoliert mit ihrer Unterstützung für Israels genozidale Offensive in Rafah. Bidens Regierung erklärte, mit dem Töten und Verbrennen unbewaffneter Flüchtlingen werde keine „rote Linie“ überschritten, was das Aussetzen von Waffenlieferungen an Israel rechtfertigen würde, wie er es zuvor für den Fall angekündigt hatte, dass die IDF „stark besiedelte“ Gebiete in Rafah angreift [4]. Die USA und Großbritannien ebenso wie Deutschland haben immer mehr den Anschluss an die Mehrheit der Staaten weltweit verloren. Irland, Norwegen und Spanien haben angekündigt, Palästina als Staat anzuerkennen. Sie schließen sich damit den 143 UN-Mitgliedstaaten vor allem aus Afrika, Asien und Südamerika an, die die Anerkennung bereits vollzogen haben.

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) übt ebenfalls Druck auf Netanjahu aus. Der IStGH ist eine vom IGH getrennte Institution, die im Jahr 1998 auf der Grundlage des Römischen Statuts geschaffen und von 124 Staaten anerkannt wurde. Der Ankläger des IStGH hat die Ausstellung eines Haftbefehls gegen Netanjahu und seinen Verteidigungsminister Joaw Galant sowie gegen drei Hamas-Führer wegen Kriegsverbrechen beantragt [5]. Obwohl die USA den IStGH nicht anerkennen, verurteilte Biden das Vorgehen des Anklägers als „ungeheuerlich“, während er den früher erlassenen IStGH-Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin nach Russlands Einmarsch in die Ukraine begrüßt hatte. Auch diese Heuchelei wurde weithin wahrgenommen [6].

Es wäre eine Illusion zu glauben, dass angesichts dieser Entwicklungen eine „auf Regeln beruhende internationale Ordnung“ das Unrecht aufheben würde, das den Palästinenser:innen oder anderen von kolonialer Unterdrückung Betroffenen zugefügt wurde [7]. Die Spannungen zwischen den USA und vielen EU-Staaten spiegeln die unterschiedlichen Ansätze zur Verteidigung einer imperialistischen Ordnung wider, die sie mitgestaltet haben – wobei einige europäische Mächte einen eher kooperativen und versöhnlichen Ansatz bevorzugen, während die USA einen zunehmend autokratischen Ansatz verfolgen, der sich auch auf China als dem größten Rivalen erstreckt [8]. Sie unterscheiden sich in der Frage, wie die internationale Ordnung am besten zu gestalten ist, sind sich aber einig darin, dass die kapitalistischen Interessen gestärkt und geschützt werden müssen.

Dennoch spiegelt die relative Isolation Israels und seiner engsten Verbündeten auf der diplomatischen Bühne drei wichtige Faktoren wider, die zusammengenommen einen Weg zur Befreiung Palästinas weisen: Der erste ist die Widerstandsfähigkeit der Palästinenser:innen selbst, die sich seit über einem Jahrhundert gegen den britischen Kolonialismus, die zionistische Besiedlung, die ethnische Säuberung, die Besetzung und die wiederholten barbarischen Angriffe wehren [9]. Der zweite ist die schon erwähnte beispiellose weltweite Solidaritätsbewegung. Und der dritte Faktor betrifft die innenpolitische Entwicklungaufgrund der langfristigen Veränderung von Israels Stellung im imperialistischen Gefüge und seine Schwächung als Hauptgarant westlicher Interessen in der Region [10]. Es ist vor allem dieser dritte Faktor, der selbst überzeugte Verbündete Israels wie Biden und hohe Beamte seiner Regierung zu der Frage veranlasst hat, ob Netanjahu den langfristigen Interessen der USA – und auch Israels – schadet [11].

Die vorliegende Analyse wird sich auf diese Entwicklungen konzentrieren, bevor ich untersuche, wie sich die allgemeine politische Unordnung auf die Politik vor Ort auswirkt – auch hier in Großbritannien.

Ein brutaler, aber erfolgloser Angriff

Trotz der Schrecken, die der Bevölkerung des Gazastreifens zugefügt wurden, ist es den israelischen Streitkräften nicht gelungen, die Hamas zu besiegen. Palästinensische Kämpfer:innen sind im Norden und in der Mitte des Gazastreifens wieder aufgetaucht, wo sie angeblich geschlagen und vertrieben worden waren. Anlässlich der zweiten „Eroberung“ des Al-Schifa-Krankenhauses durch die IDF im März kommentierte ein ehemaliger israelischer Geheimdienstoffizier:

Dass Israel an diesen Ort zurückkehren musste, spiegelt die Tatsache wider, dass wir keine Strategie haben. […] Wenn wir die Kontrolle über dieses Viertel im Zentrum von Gaza-Stadt übernommen und die gesamte Infrastruktur der Hamas dort zerstört haben, wie kommt es dann, dass die Hamas sofort das Vakuum füllt, wenn wir diese Orte verlassen? Das bedeutet, wir haben keine neue Ordnung geschaffen [12].

Mitte Mai war die israelische Armee in mehrtägige Kämpfe im Flüchtlingslager Dschabalia und im Stadtteil al-Seitun von Gaza-Stadt verwickelt – beides Gebiete, in denen Israel angeblich die Hamas schon besiegt hatte. Neben ihrer militärischen Präsenz hat die Hamas auch versucht, ihren Polizeiapparat und ihre Wohlfahrtsorganisationen in den von den IDF verlassenen Gebieten wieder aufzubauen [13]. Faktisch gibt es keine andere Kraft, die auch nur eine rudimentäre funktionierende Verwaltung im Gazastreifen gewährleisten könnte.

Die militärische Antwort der Hamas auf Israels Angriff zeugt auch von ihrer Entwicklung seit der Übernahme der Regierungsgewalt im Gazastreifen. Die Hamas folgte dem Beispiel anderer Streitkräfte, insbesondere der Hisbollah in Libanon, schulte Personal und entwickelte die Fähigkeit, ähnlich einer regulären Armee vorzugehen. Dazu gehört der Einsatz von Waffen wie Drohnen und „projektilbildende Ladung“, also panzerbrechende Geschosse, die im Gazastreifen hergestellt werden können, sowie der Ausbau ihres umfangreichen Netzes an Angriffs- und Verteidigungstunneln [14].

Als die IDF die nördlichen und mittleren Gebiete des Gazastreifens überrannten, passte sich die Hamas an und kombinierte Elemente der konventionellen Militärtaktik mit der von den palästinensischen Milizen seit Langem praktizierten Guerillataktik. Ihre Kämpfer zogen sich aus den Gebieten zurück, in denen die IDF ihre Kräfte konzentriert hatten, um dann beim Rückzug der Israelis wieder vorzudringen.
Trotz dieser Guerillamethoden sind ihre Operationen weitaus ausgeklügelter als einfache Überraschungsangriffe. Die Hamas ist nach wie vor in der Lage, anhaltende, koordinierte Angriffe auf israelische Truppen durchzuführen. Mit diesem Vorgehen hat die Hamas versucht, die Israelis in eine langwierige Aufstandsbekämpfung zu verwickeln, während sie gleichzeitig über einen Waffenstillstand verhandelte und den politischen Druck auf internationaler Ebene zu erhöhen versuchte, um die IDF zum Rückzug zu bewegen.

Aus Sicht der Hamas ergibt das Sinn. Wie die Geschichte der Besetzungen und militärischen Eroberungen zeigt, ist es fast unmöglich, den Widerstand der Bevölkerung allein durch einen militärischen Angriff zu brechen. In den vergangenen 15 Jahren ist Israel viermal in den Gazastreifen eingefallen, ohne die Hamas ausschalten oder sie erheblich schwächen zu können [15]. Obwohl Meinungsumfragen während eines Kriegs schwierig sind, deuten die verfügbaren Daten darauf hin, dass sich die Unterstützung, die die Hamas vor den Angriffen vom 7. Oktober in Gaza genoss, kaum verändert hat. Im Westjordanland ist sie erheblich gestiegen [16].

Dieser Konflikt zeigt auch, dass Israels mit seinem Ansatz, mit Hightech politische und militärische Probleme zu lösen, gescheitert ist. Das erinnert an die Selbstüberschätzung des ehemaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld bei dem Einmarsch in Afghanistan und Irak Anfang dieses Jahrhunderts [17]. Rumsfeld glaubte, dass parallel zu dem schnellen Angriff mit modernster Technik und enormer Feuerkraft („Furcht und Schrecken“, wie der Feldzug in Irak genannt wurde) politische Veränderungen vor Ort eingeleitet werden könnten, um einen „Regimewechsel“ herbeizuführen, ohne das Leben vieler US-Amerikaner:innen zu gefährden. Im Falle Iraks stellte sich Rumsfeld mit schwindender Unterstützung des Regimes Saddam Husseins einen raschen demokratischen Übergang vor – darüber hinaus gab es kaum eine Planung für die Zeit danach. In der Folge verstrickten sich die USA in eine langwierige und letztlich erfolglose Besetzung Afghanistans und Iraks. In Ermangelung einer politischen Lösung konnten sie die Bevölkerung nur weiter bombardieren, was den Widerstand stärkte. Es sei daran erinnert, dass bei dem militärischen Einmarsch und im ersten Jahr der Besetzung Iraks schätzungsweise 100.000 Menschen getötet wurden [18].

Im Fall des Gazastreifens haben sich die israelischen Streitkräfte, wie ein pensionierter Generalmajor der IDF es ausdrückte, der „Illusion hingegeben, dass die Hamas psychologisch gebrochen wäre, wenn Gaza-Stadt als Erstes eingenommen und ihr damit die Regierungssymbole genommen würden“, und er fügte hinzu: „Das ganze Gerede von der Auflösung ihrer Brigaden und Bataillone ist Unsinn.“ [19]. Diese Art der Kriegsführung hat sich nicht nur als Mittel zur Zerschlagung der Hamas als unbrauchbar erwiesen, sondern auch Verheerungen in Gebieten angerichtet, in denen viele Zivilisten leben. Laut einem Bericht der Zeitschrift The Economist gilt „ein Gebiet auf der von der Einsatzzentrale ständig aktualisierten Bevölkerungskarte als ,grünʻ, wenn weniger als 25 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung übrig bleiben. Wie Offiziere, die das überwachen, zugeben, sind ihre Einschätzungen selbst dann letztlich nur ,Empfehlungenʻ für die Befehlshaber im Feld.“ Ein Offizier sagte dem Magazin: „Wir hatten noch nie die Möglichkeit, eine solche Bandbreite an Luftstreitkräften einzusetzen – von Drohnen bis hin zu F-35-Kampfjets.“ Ein anderer fügte hinzu: „Der Einsatzbefehl spielt vor Ort keine Rolle. […] So gut wie jeder Bataillonskommandeur kann jede Person, die sich in seinem Sektor bewegt, zum Terroristen erklären oder die Zerstörung eines Gebäude anordnen, weil es von der Hamas genutzt werden könnte.“ [20].

Das Fehlen eines klaren Kriegsziels hat die Spannungen in Israel selbst verschärft. Obwohl es sich dabei um Spaltungen innerhalb einer Bevölkerung handelt, die im Großen und Ganzen das Projekt des Siedlerkolonialismus, der Apartheid und der Ausgrenzung der palästinensischen Bevölkerung teilt, ist Netanjahus spezielles Vorgehen im Gazastreifen in die Kritik geraten. Im Mai zeigte eine Meinungsumfrage in Israel zum ersten Mal, dass eine knappe Mehrheit der jüdischen Bevölkerung der Rückkehr der Geiseln höhere Priorität einräumte als der Vernichtung der Hamas, und die meisten stimmten auch zu, dass es der Regierung an klaren Zielen fehle [21]. Diese Spannungen kamen auch in Netanjahus Kabinett zum Ausdruck. Der ehemalige Generalstabschef Benny Gantz hat Anfang Juni Netanjahus Kriegskabinett verlassen, weil seine Forderung nach der Aufstellung eines Nachkriegsplans für den Gazastreifen nicht erfüllt wurde. Die rechtsextremen Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich wollen die Regierungskoalition verlassen, wenn Israel sich auf ein Waffenstillstandsabkommen einlässt, das mit dem Austausch palästinensischer Gefangener gegen israelische Geiseln verbunden ist.
Bei Redaktionsschluss hatte sich Biden in diese Debatte eingemischt und Netanjahu gedrängt, eine solche Vereinbarung zu treffen. Bezeichnenderweise geschah dies nach einer Diskussion zwischen US-Außenminister Antony Blinken und Gantz [22]. Selbst Biden ist sich inzwischen darüber im Klaren, dass Netanjahu, wenn er weiterhin auf einen wie auch immer gearteten „totalen Sieg“ über die Hamas setzt, eine Dynamik in Gang setzten könnte, bei der Nachbarstaaten in den Konflikt mit hineingezogen werden und der bereits bestehende Konflikt zwischen den Houthis in Jemen einerseits und den USA und Großbritannien andererseits sich noch zuspitzen könnte. Dass diese Gefahr besteht, zeigte sich am 13. April, als Iran (in Abstimmung mit der libanesischen Hisbollah, den von Iran unterstützten Milizen in Irak und den Houthis) Israel mit Drohnen und Raketen angriff, allerdings wohldosiert, um einen umfassenden Krieg zu vermeiden [23].

Neben den israelischen, US-amerikanischen, französischen und britischen Jets, die zum Abfangen der Geschosse eingesetzt wurden, befanden sich auch jordanische Kampfflugzeuge im Einsatz. Die langjährige strategische Partnerschaft Jordaniens mit Israel hat in dem Land, in dem zwei Millionen Palästinenser:innen leben, zu Unzufriedenheit und Protesten geführt. Es ist denkbar, dass die Wut auf Israel zu Protesten und Klassenkämpfen führt, die Länder des Nahen Ostens wie Jordanien, die mit den USA und deren Partnern verbündet sind, destabilisieren könnten.

In Ägypten, wo es die größte und mächtigste arbeitende Klasse der Region gibt, hat es im Jahr 2024 keine großen Proteste gegeben. Und doch hat sich auch dort große Wut aufgestaut, wie das Interview mit drei revolutionären Aktivist:innen aus Ägypten in dieser Ausgabe von International Socialism aufzeigt. In Verbindung mit dem wachsenden wirtschaftlichen Druck auf die einfachen Leute in Ägypten könnte sich diese bald entladen.

Diese Zeitschrift vertritt seit Langem die Auffassung, dass die imperialistische Ordnung in der Region nur durch Klassenkampf von unten zerschlagen werden kann. Nur so kann auch das israelische Apartheidregime gebrochen werden und die Palästinenser:innen könnten ihr Streben nach Freiheit durch die Schaffung eines gemeinsamen demokratischen Staats verwirklichen [24].

Palästina Solidarität: Ein Hauch von ’68

Inzwischen gibt es weltweit studentische Aktionen für Gaza in einem Ausmaß, wie wir es seit den Kämpfen gegen den Vietnamkrieg und der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung im Jahr 1968 nicht mehr gesehen haben. Angefangen mit der Besetzung der Columbia University in New York City am 17. April listete eine (bereits veraltete) Wikipedia-Seite bei Redaktionsschluss Camps, Besetzungen, Streiks und Sit-ins an fast 140 US-Universitäten in 45 der 50 Bundesstaaten auf; 20 Camps in Großbritannien und weitere in Australien, Belgien, Costa Rica, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, den Niederlanden, Österreich, Portugal, Rumänien, Schweden, Spanien und Südafrika. Studierendenproteste und andere Aktivitäten wurden auch aus Ägypten, Bangladesch, Brasilien, Indien, Indonesien, Irak, Jemen, Kuwait, Libanon, Neuseeland, der Schweiz, Südkorea und Tunesien gemeldet [25].

In den USA hatte es bereits Demonstrationen und direkte Aktionen für Gaza gegeben, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie in Großbritannien, wo sich wahrscheinlich etwa drei bis vier Millionen Menschen daran beteiligt haben [26]. In den USA ist das Thema Palästina auch stärker umstritten als hier. Anders als in Großbritannien sympathisieren in den USA wahrscheinlich mehr Menschen mit Israel als mit Palästina, obwohl sich dieser Trend unter jungen Amerikaner:innen umkehrt (siehe Tabelle 1) [27]. Das erklärt, warum die Camps an Orten, wo die propalästinensische Stimmung am stärksten ausgeprägt ist, das dynamischste Element der Solidaritätsbewegung in den USA waren.

Die Sympathien liegen eher bei …Großbritannien 
(12.–13. Feb.)US 
(13.–25. Feb.)US, 18–29 Jahre 
(13.–25. Feb.)
Israelis163114
Palästinenser:innen281631
Beide222621
Tabelle 1: Sympathien mit Israel und Palästina in dem derzeitigen Konflikt, USA und Großbritannien (in Prozent). Quellen: Pew Research (US-Daten), YouGov (britische Daten).

In vielerlei Hinsicht folgt die Entstehung der Zeltbewegung den Mustern früherer Studierendenproteste [28]. Eine radikale Minderheit von Studierenden der Columbia University errichtete Zelte auf dem Campus, um einen Raum zu schaffen, wo sie ihre Solidarität mit den Palästinenser:innen im Gazastreifen zum Ausdruck bringen konnte. Wie bei der Studierendenbewegung von 1968 hat auch die heutige Bewegung den Widerspruch zwischen der Ideologie, die das Hochschulwesen prägt, und der zunehmend brutalen Realität aufgezeigt. Anahid Nersessian, Professorin an der University of California, Los Angeles (UCLA), schrieb:

Eines der aussagekräftigsten Bilder, die von den Zeltcamps in Umlauf sind, zeigt eine Studentin mit einem Schild, auf dem steht: „Columbia, warum soll ich Professor Edward Said lesen, wenn ihr nicht wollt, dass ich seine Schriften benutze?“ Die Proteste haben gezeigt, dass die amerikanische Universität, die mehr und mehr zu einer Fabrik für teure Studienabschlüsse wird, in der die geisteswissenschaftlichen Abteilungen sich unter dem Sparhammer krümmen, immer noch ein Ort ist, an dem die Menschen lernen können, was wahr ist, und dementsprechend handeln können. Mit anderen Worten können wir nicht von jungen Menschen erwarten, dass sie für ihre Prüfungen Geschichte, Wirtschaft, Politikwissenschaft, Moralphilosophie und so weiter auswendig lernen und wiederkäuen, während ihnen gleichzeitig verboten wird, ihre Bildung auf die Straße zu tragen [29].

Wie im Jahr 1968 reagierten auch diesmal die Universitätsbehörden mit Gewalt und Unterdrückung. Der Präsident der Columbia University genehmigte den Einsatz der New Yorker Polizei auf dem Universitätsgelände, um das Camp aufzulösen und die Studierenden zu verhaften. Die Studierenden kehrten zurück und errichteten ein neues Camp, als die Bewegung sich auf andere Universitäten in den USA auszudehnen begann. Es fanden Verhandlungen mit den Behörden der Columbia University statt, die am 29. April scheiterten, als die an der Bewegung beteiligten Studierenden suspendiert wurden. Daraufhin wurde die Hamilton Hall, Schauplatz einer berühmten Besetzung im Jahr 1968, besetzt, was mit einer erneuten Polizeirazzia und einem Angriff auf das Camp beantwortet wurde. Das Ergebnis war nicht die Zerschlagung der Rebellion, sondern die Einbeziehung von mehr Menschen in den Kampf und die Ausweitung der Bewegung auf weitere Hochschulen, auch auf solche, die nicht zu den Eliteuniversitäten gehören [30].

Der gleiche Zyklus von Radikalisierung, Repression und Ausweitung der Bewegung vollzog sich 1968 an der Columbia University, wie ein in Form eines Tagebuchs geschriebener Brief der studentischen Aktivistin Eleanor Raskin an Freunde in England zeigt:

Dienstag, 23. April: Die Student:innen für eine demokratische Gesellschaft (SDS), eine kleine radikale Student:innengruppe, riefen zu einer Demonstration unter freiem Himmel auf, um gegen die willkürliche Disziplinierung von sechs ihrer Führer zu protestieren […], die offenbar für ihre Teilnahme an einer Demonstration [gegen die Verbindung der Universität mit dem Institute of Defense Analyses, das der Regierung in Fragen der „nationalen Sicherheit“ zuarbeitet] mit 200 weiteren Personen bestraft wurden! Hunderte kamen zu der SDS-Demonstration, warum, ist nicht klar – weil es ein sonniger Tag war, eine offensichtliche Ungerechtigkeit, die dem SDS zugefügt wurde? […] Am Ende veranstalteten wir […] ein Sit-in mit etwa 500 Leuten in der Hamilton Hall. […] Als ich am nächsten Morgen zurückkam, […] stellte ich fest, dass die schwarzen Student:innen und Harlemer „Bewohner“ von Hamilton beschlossen hatten, das Gebäude so lange wie möglich zu besetzen; und alle Weißen, vom SDS und anderen Gruppen, hatten das Gebäude verlassen und das Büro des Präsidenten der Universität im zweiten Stock besetzt. […] Etwa 200 Schwarze befanden sich in Hamilton, wo die Vietcong-Flagge wehte und ein Bild von Stokely [Carmichael, eine führende Persönlichkeit der Black-Power-Bewegung] an der Wand hing. […] Eine riesige Menge Weißer stand draußen […], um das eroberte Gebäude von außen zu verbarrikadieren. […]

Donnerstag, 25. April, bis Montag, 29. April: Als ich auf dem Campus ankam, stellte ich fest, dass die weißen Brüder […] zwei weitere Gebäude besetzt hatten. […] Die Universität war natürlich entsetzt, und alle Vorlesungen wurden abgesagt, […] 27.000 Student:innen besuchen die Columbia. [Am Sonntagabend] saßen etwa 600 die ganze Nacht mit Kerzen auf dem Hauptplatz des Campus, um die Brüder in den befreiten Gebäuden zu unterstützen. […] Hunderte zuvor unpolitischer Student:innen trugen grüne Armbinden, um Amnestie für die Brüder und unsere weiteren Forderungen zu unterstützen. […] Die Lehrkräfte trugen weiße Armbinden und standen vor allen befreiten Gebäuden, um Gewalt zu verhindern. […] Am Sonntag waren etwa 1.000 Brüder in den befreiten Gebäuden. […]
Dienstag, 30. April, 3 Uhr morgens: Die Polizei, 1.000 Mann stark, größtenteils Spezialeinheiten zur Aufstandsbekämpfung, dringt in den Campus ein. […] Wir hatten uns alle gegen die Ausübung von Gewalt entschieden. […] Wir widersetzten uns der Verhaftung nur, indem wir uns aneinanderklammerten oder uns schwer machten, damit die Polizei uns hinaustragen musste. […] Ich sah, wie mein engster Freund, ein Jurastudent, der neben mir gesessen hatte, hinausgetragen wurde – er machte sich schlaff und ein Polizist schlug ihn auf den Hinterkopf. Ein paar Minuten lang sah ich nur seine riesige klaffende Wunde, sein blutüberströmtes Gesicht und seine blutbefleckte Brust. […] Alle verhafteten Columbia-Student:innen (728) wurden ohne Kaution freigelassen, und unsere Prozesse beginnen im Juni. Die gesamte Universität, selbst die uns feindlich gesinnten Sportler und die Reaktionäre unter den Dozenten, waren schockiert über die Brutalität der Polizei. […] Wir haben zum Streik aufgerufen, der bisher in den meisten Bereichen der Universität sehr erfolgreich ist. […] Wir haben immer gedacht, dass die Studierendenschaft apathisch ist, aber sie wurde durch diese Bewegung aufgeweckt [31].

Abgesehen von der veralteten Begrifflichkeit in Bezug auf Rasse und Geschlecht können viele Studierende der Columbia University und andernorts im Jahr 2024 sicherlich ähnliche Geschichten erzählen.

Wenn Studierendenbewegungen ausbrechen, entwickeln sie sich politisch oft mit großer Geschwindigkeit. Da ihnen das soziale Gewicht fehlt, um einen radikalen Wandel der Gesellschaft herbeizuführen, sind sie meist jedoch auch kurzlebig und sie geraten leicht in die Krise. Eleanor Raskin ist selbst ein extremes Beispiel dafür. Im Sommer 1969, als der SDS in die Krise geriet und zu zersplittern begann, schloss sie sich den Weathermen an, einer maoistisch beeinflussten Bewegung, die sich mit der Black-Power-Bewegung und den Kämpfen im Globalen Süden identifizierte. Die Gruppe, die später als Weather Underground bekannt wurde, zettelte schließlich einen unüberlegten Guerillakrieg auf US-amerikanischem Boden an. Ihr Weg war in vielerlei Hinsicht die logische Folge der Unfähigkeit der 68er-Bewegung, mit der Masse der US-Arbeiter:innen in Beziehung zu treten, und die radikalen Studierenden gerieten in eine Sackgasse [32].

Obwohl die derzeitigen Ereignisse vermutlich nicht denselben Verlauf nehmen werden wie 1968, steht die Studierendenbewegung doch unter einem ähnlichen Druck wie damals. Sie braucht Debatten darüber, wie auf den Erfolgen der Campbewegung aufgebaut werden kann. Insbesondere in Großbritannien bietet die Lebendigkeit der Straßenbewegung für Gaza den radikalen Studierenden in gewisser Hinsicht die Möglichkeit, sich mit breiteren Schichten von Aktivist:innen jenseits des Campus zu verbinden [33]. Sollte die Palästinabewegung jedoch schwächer werden, wird sich die neue Generation radikaler Studierender ähnlichen Herausforderungen stellen müssen wie die Bewegung Ende der 1960er Jahre.

In diesem Zusammenhang gibt es drei wichtige, miteinander verbundene Unterschiede zu 1968 [34]. Erstens übertrug sich die radikale Stimmung vor allem in Frankreich 1968, Italien 1969 und Großbritannien 1970 bis 1974 auf die ausbrechenden Arbeitskämpfe [35]. Das spiegelte ein relativ hohes Maß an Selbstvertrauen unter den Beschäftigten wider. Auch wenn in Großbritannien in jüngster Zeit wieder mehr gestreikt wurde, ist in den kapitalistischen Staaten des Globalen Nordens noch keine vergleichbare Radikalität zu beobachten, und die Streikaktivität ist hier derzeit wieder in etwa auf dem Niveau von 2022/23, vor Beginn der Streikwelle [36].

Es gehört zu den Aufgaben von Sozialist:innen, betriebliche Kämpfe für Palästina anzustoßen und dabei die politische Radikalisierung zu nutzen, um die Organisation und das Selbstbewusstsein der Arbeiter:innen zu stärken. Sie müssen auch gegen die Vorstellung angehen, dass die Arbeiter:innenbewegung nur durch „Brot-und-Butter-Forderungen“ aufgebaut werden könne. In Großbritannien gab es mehrere betriebliche Solidaritätsaktionstage für Gaza. Die Solidaritätsstreiks der Ortsgruppe 4811 der United Auto Workers (UAW), die die Hochschulbeschäftigten in Kalifornien vertritt, sind in diesem Kontext von hoher Bedeutung, ebenso wie die Entscheidung der UAW-Region 9A, in New York City eine Solidaritätskundgebung zur Unterstützung der Studierendencamps abzuhalten. Die notwendige Verbindung des politischen Radikalismus in Bezug auf Gaza mit der Stärke des Arbeitskampfs erschließt sich jedoch vielen Aktivist:innen noch nicht.

Ein zweiter Unterschied zwischen 1968 und heute besteht darin, dass der Kapitalismus weit weniger stabil ist als damals. Im Jahr 1968 befand sich das System am Ende eines mehr als zwei Jahrzehnte anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs. Im Gegensatz dazu befinden wir uns heute in einer Zeit kapitalistischer Katastrophen: Wirtschaftliches Versagen und ökologische Probleme sind begleitet von zunehmenden zwischenimperialistischen Auseinandersetzungen, nicht zuletzt im Nahen Osten, die wiederum auf die anderen Krisen zurückwirken und diese verschärfen [37]. Es dürfte kaum überraschen, dass die meisten Menschen die Realität des Kapitalismus in ihrem Alltag zwar weiterhin als selbstverständlich hinnehmen, allerdings einhergehend mit einer überwiegend negativen Einstellung dazu. Nach einer kürzlich durchgeführten Umfrage in 34 Ländern gibt es nur sechs Länder, in denen die Einstellung zum Kapitalismus insgesamt positiv ist [38].

Ein dritter Unterschied ist, dass nicht nur die Linke versucht, auf die sich entfaltende Krise zu reagieren. Auch die harte Rechte hat sich weltweit in das Rennen begeben [39]. Donald Trump hat eine echte Chance, Biden bei den US-Präsidentschaftswahlen im November zu schlagen, weil der Amtsinhaber nichts zu bieten hat, was die Menschen begeistern könnte, die ihn ursprünglich ins Weiße Haus gewählt hatten.

Kurz nach Redaktionsschluss von International Socialism standen die Wahlen zum Europäischen Parlament an. In Österreich, Frankreich, Italien und den Niederlanden lagen rechtsextreme Parteien in den Umfragen vorn. Die Tatsache, dass diese Parteien – die Freiheitliche Partei Österreichs, der Rassemblement National, die Fratelli dʼItalia (Brüder Italiens) und die Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit) – Fuß fassen konnten, bedeutet nicht, dass unmittelbar eine faschistische Machtübernahme droht. Sie sind jedoch allesamt repräsentativ für eine Strömung faschistischer Politik, die auf Wahlen und die Kontrolle über Teile des Staats setzt, um ihre Basis zu erweitern [40]. Diese Strömungen können, wenn sie nicht erfolgreich bekämpft werden, nicht nur das gesamte politische Spektrum nach rechts verschieben, sondern sie könnten sich im Falle einer Zuspitzung der Krise der herrschenden Klasse als eine Kraft anbieten, die in der Lage ist, den Widerstand gegen weitere Angriffe auf den Lebensstandard der arbeitenden Klasse zu brechen.

Selbst dort, wo faschistischen Kräften der Durchbruch nicht gelungen ist, ist in den bürgerlichen Parteien zunehmend ein autoritärer Stil zu beobachten, da die politische Führung mittels des Staatsapparats versucht, ein krisengeschütteltes System zu stützen, die Unzufriedenheit am Boden der Gesellschaft zu unterdrücken und ihren militärischen Einfluss im Ausland zu stärken. Das geht in der Regel Hand in Hand mit der Verbreitung rassistischer und anderer rechter Ideologien, um sich eine Basis in einer sich im Stich gelassenen und unzufriedenen Bevölkerung zu verschaffen.

Sunak lässt die Würfel rollen

Damit sind wir bei der Lage hier in Großbritannien. Obwohl wir noch nicht wissen, wie die Unterhauswahl am 4. Juli ausgehen wird, ist es doch sehr wahrscheinlich, dass die elenden Tories, die seit 14 Jahren die Regierung anführen, hinweggefegt werden, wohingegen die Labour Party von Keir Starmer Ende Mai in den Umfragen etwa 20 Prozent Vorsprung hatte.

Warum hat sich Rishi Sunak dann nicht, wie allgemein erwartet, für eine Wahl im November entschieden? Die auf der Hand liegende Erklärung lautet, dass seine Regierung von einer Reihe kapitalistischer Katastrophen überrollt wurde, die zu erbitterten innerparteilichen Auseinandersetzungen geführt haben, und dass es kaum Aussicht auf eine Verbesserung der Lage bis zum Herbst gibt. Das katastrophale Experiment von Liz Trussʼ kurzer Amtszeit als Ministerpräsidentin hat den Ruf der Konservativen Partei als kompetente Wirtschaftspartei zerstört, und die Umfragewerte der Partei haben sich nie wieder erholt. Dabei waren die „Trussonomics“ gerade ein – wenn auch völlig falsch verstandener – Versuch, der Malaise des britischen Kapitalismus durch eine ultrakapitalistische, angebotsorientierte Revolution zu begegnen [41]. Truss zog schnell den Zorn der Finanzmärkte auf sich, was ihr zum Verhängnis wurde, aber auch die konventionellere Wirtschaftspolitik Sunaks und seines Finanzministers Jeremy Hunt hat nicht gerade zu einem fulminanten Wachstum geführt. Ein Hauptgrund für Sunaks Entscheidung, vorgezogene Neuwahlen anzusetzen, war die Tatsache, dass die Lage der öffentlichen Finanzen vermutlich keine weiteren Steuersenkungen erlauben würde, während von einer etwaigen Zinssenkung seitens der Bank of England kein nennenswerter „Wohlfühlfaktor“ zu erwarten wäre.

Währenddessen geriet Sunaks politisches Vorzeigeprojekt, die Abschiebung von Asylbewerbern nach Ruanda, ins Straucheln [42]. Das verschärfte die ohnehin schon angespannte Atmosphäre, nachdem innerhalb von fünf Jahren vier Regierungen unter Führung der Tories – Theresa May, Boris Johnson, dann Truss und Sunak – gescheitert sind.

Sunak geriet in einen Sumpf und ihm blieb nichts anderes übrig, als noch weiter nach rechts zu driften. Einen Tag vor der Verkündung von Neuwahlen gab Michael Gove, einer der zahlreichen Tory-Abgeordneten, die auch gleich ihren Rücktritt ankündigten, den Ton vor. In einer vielbeachteten Rede leitete Gove einen scharfen ideologischen Angriff auf die Palästinabewegung und die Linke ein. Er begann mit der üblichen verlogenen Behauptung, die Campbewegung sei antisemitisch, was besonders dreist ist für einen Vertreter einer Partei, die in der Downing Street Politiker willkommen geheißen hat, die tatsächlich antisemitische Verschwörungstheorien verbreiten, wie etwa der ungarische Regierungschef Viktor Orbán oder Donald Trump. Neben Panikmache vor islamistischen Radikalen und der Nennung der Socialist Workers Party und anderer linker Gruppen fuhr er fort:

Die radikale Linke, die extreme Linke, weist die Vorstellung zurück, dass erfolgreiche Staaten […] wegen der freien Marktwirtschaft, aufklärerischer Werte, liberalen Parlamentarismus, Privateigentums und Kapitalismus gedeihen konnte […]. Die harte Linke kann nicht akzeptieren, dass sich ein höherer Lebensstandard – und in der Tat ein höheres Maß der persönlichen Entfaltung – in einigen Staaten im Vergleich zu anderen mit Verweis auf Adam Smith, John Locke, Edmund Burke und Karl Popper besser erklären lassen als mit Karl Marx, Wladimir Lenin, Frantz Fanon und Edward Said [43].

Gove signalisierte damit eine weitere Eskalation der „Kulturkriege“, deren Politik Judy Cox in dieser Ausgabe seziert und aufzeigt, dass diese Kriege letztlich ein Element des Klassenkampfes sind. Dieser Ansatz hat noch weiter rechts stehende Kräfte ermutigt: Nigel Farage kündigte in Clacton, Essex, an, für seine derzeitige Partei, Reform UK, mit einem deutlich rassistischen Programm zu kandidieren. Anfang Juni zog der Faschistenführer Tommy Robinson mit rund 5.000 Anhängern:innen unter der Parole„This is London – not Londonistan“ durch die Hauptstadt [44]. Solche Entwicklungen zeigen, wie wichtig es ist, dass die Linke den Aufbau antifaschistischer und antirassistischer Organisationen vorantreibt – was auch unter einer Labour-Regierung notwendig sein wird.

Unterdessen hat Starmer, wahrscheinlich der Nutznießer von Sunaks zu erwartendem Misserfolg bei den Wahlen, alles in seiner Macht Stehende getan, um den Enthusiasmus für seine Partei zu dämpfen, indem er Versprechen auf Verbesserung des Arbeitsrechts und die Stärkung des geschwächten Sozialstaats zurücknahm. Rachel Reeves, Finanzministerin in Starmers Schattenkabinett, versprach „strenge Ausgabendisziplin, damit unsere Wirtschaft wachsen kann und Steuern, Inflation und Hypotheken auf einem möglichst niedrigen Stand bleiben“ [45].

Wirtschaftliche Stabilität war dementsprechend die erste von sechs Prioritäten, die Starmer zu Beginn des Wahlkampfs nannte. Zwei der anderen Prioritäten entsprachen unmittelbar seiner rechtsgerichteten Agenda: ein neues „Grenzsicherungsregime“ und hartes Vorgehen gegen „antisoziales Verhalten“. Die versprochene Verkürzung der Wartezeit in den Einrichtungen des staatlichen Gesundheitsdienstes (NHS) durch 40.000 zusätzliche Termine pro Woche bleibt weit hinter dem Erforderlichen zurück; der NHS bietet etwa 2.400.000 ambulante Termine pro Woche an, sodass dies eine Steigerung von weniger als zwei Prozent bedeuten würde [46]. Finanziert werden soll das unter anderem durch schärferes Vorgehen gegen Steuerhinterziehung – ein Versprechen, das jahrelang von verschiedenen Regierungen gegeben wurde, aber wahrscheinlich nie umgesetzt wird, weil dann massiv Mittel an die Steuerbehörde fließen würden. Auch die Zusage, 6.500 Lehrer:innen einzustellen, war lächerlich, denn das ist nur ein Prozent der derzeit beschäftigten 570.000 Lehrer:innen und ein Bruchteil derer, die jedes Jahr ihren Beruf aufgeben [47]. Und dann gibt es noch das Versprechen, ein staatliches Energieunternehmen (Great British Energy) mit einem Kapitalstock von acht Milliarden Pfund zu schaffen, was angesichts der Energieimporte im Wert von 54 Milliarden Pfund selbst im Jahr 2021, also vor dem Inflationsschock bei den Energiepreisen, zu einer unbedeutenden Größe verblasst [48].

Die Hauptquelle der Wut auf Starmer ist natürlich seine Haltung zu Palästina. Seine Äußerung vom Herbst 2023, wonach Israel das Recht habe, die Bevölkerung von Gaza von Strom und Wasser abzuschneiden, werden ihn wohl noch einige Zeit verfolgen. Empörung kam auch auf, als bekannt wurde, dass Starmer die Kandidatur von Diane Abbott, der ersten Schwarzen Abgeordneten Großbritanniens, verhindern wollte. Die Gegenreaktion war so heftig, dass Starmer einen Rückzieher machen musste. Andere Linke allerdings, wie die Wirtschaftswissenschaftlerin Faiza Shaheen, wurden nicht aufgestellt, weshalb Shaheen die Partei verließ und nun als unabhängige Kandidatin antritt.
Angesichts von Starmers Wahlkampf ist es beruhigend, dass es linke Alternativen gibt. Am prominentesten ist der ehemalige Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn, der nun als Unabhängiger in seinem Wahlkreis Islington North antritt. Weil er mit dem Aufbau einer landesweiten Alternative zur Labour Party zögert und seine Kandidatur erst spät angekündigt hat, konnte George Galloway mit seiner Workers Party of Britain bei kürzlichen Wahlen einen bemerkenswerten Erfolg erzielen. Galloway verbindet die Ablehnung des Gazakriegs allerdings mit konservativen Positionen zu Themen wie Einwanderung und LGBT+-Rechten. Mit dieser Politik bietet er keinen Ansatz, die Linke voranzubringen, wie Charlie Kimber in seiner gründlichen Analyse in diesem Journal darlegt. Abgesehen davon gibt es neben Corbyn eine Handvoll glaubwürdiger Unterstützer:innen der Palästinenser:innen mit echten linken Positionen, die die Unterstützung von Sozialist:innen verdienen.

Für die revolutionäre Linke sind Wahlen kein Selbstzweck; unsere Politik lebt oder stirbt nicht mit dem Erfolg an der Wahlurne. Vielmehr bieten Wahlen die Gelegenheit, unsere Politik in weiteren Kreisen bekannt zu machen und den Wahlkampf mit den Bewegungen zur Unterstützung der Bevölkerung des Gazastreifens und gegen die rassistische Rechte zu verbinden. Diese Politik brauchen wir auch, um einer von Starmer angeführten Regierung entgegenzutreten. Der Labour-Chef ist ein Beweis dafür, dass das, was Tariq Ali „extreme Mitte“ genannt hat, tatsächlich sehr extrem sein kann. Wie Ali kürzlich fragte: „Kann etwas extremer sein als Völkermord?“ [49] Starmers Stil der gnadenlosen, aber seltsam farblosen Politik der extremen Mitte wird angesichts der fortbestehenden kapitalistischen Katastrophen auf eine harte Probe gestellt werden. Wie die Pariser Radikalen von 1968 sagten: „La lutte continue“ – der Kampf geht weiter!


Joseph Choonara ist der Herausgeber von International Socialism. Er ist der Autor von „A Reader’s Guide to Marx’s Capital“ (Bookmarks, 2017) und „Unravelling Capitalism: A Guide to Marxist Political Economy“ (2. Auflage, Bookmarks, 2017).

aus: International Socialism 183
Veröffentlicht am 12. Juni 2024
Joseph Choonara

aus dem Englischen von Rosemarie Nünning


Referenzen

1 Dank an Anne Alexander, Charlie Kimber, Camilla Royle, Sascha Radl und Sheila McGregor für Kommentare zu einem früheren Entwurf.

2 https://x.com/IDF/status/1795089873772142873

3 Ahmatović, 2024.

4 Kanno-Youngs, 2024.

5 Der Guardian hat einen erschreckenden Bericht veröffentlicht, in dem behauptet wird, dass der ehemalige Mossad-Chef Yossi Cohen Drohungen gegen die vorherige IStGH-Anklägerin Fatou Bensouda ausgesprochen hat, die 2021 mit der Untersuchung israelischer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den besetzten palästinensischen Gebieten begann. Bensouda sagte gegenüber IStGH-Beamten, Cohen habe ihr gesagt: „Sie sollten uns helfen und sich von uns erledigen lassen! Sie wollen doch nicht in Dinge verwickelt werden, die Ihre Sicherheit oder die Ihrer Familie gefährden könnten“ – siehe Davis, 2024.

6 Tisdall, 2024.

7 Duncan Blackie übte eine immer noch relevante Kritik an der Vorstellung, dass die UNO eine systematische Alternative zum Imperialismus bieten kann – siehe Blackie, 1994.

8 Die Betonung Chinas wird sowohl von Biden als auch von seinem Hauptkonkurrenten um die Präsidentschaft, Donald Trump, geteilt. Biden hat kürzlich neue Zölle auf chinesische Elektrofahrzeuge, Halbleiter und verschiedene grüne Technologien verhängt, während ein ehemaliger Trump-Beamter dafür plädierte, dass sich die USA aus Europa und dem Nahen Osten zurückziehen und sich stattdessen „auf die Möglichkeit eines Krieges mit China vorbereiten“ sollten – Colby, 2024.

9 Für einen kurzen Überblick über die Geschichte des palästinensischen Widerstands siehe Choonara, 2024.

10 Alexander, 2024a; Ferguson, 2024.

11 Evans, 2024.

12 Zilber, 2024.

13 Pinfold, 2024.

14 Seibt, 2023.

15 Sudkamp, 2024.

16 Palästinensisches Zentrum für Politik und Umfrageforschung, 2024. Die Unterstützung für die Hamas im Westjordanland stieg von 12 Prozent im September 2023 auf 35 Prozent im März 2024. Im Gazastreifen ging sie leicht von 38 Prozent auf 34 Prozent zurück. In beiden Fällen überstieg die Unterstützung für die Hamas die für die Fatah, die die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland leitet, und für Drittparteien. Etwa 71 Prozent der Palästinenser waren auch der Meinung, dass die Hamas am 7. Oktober Israel zu Recht angegriffen hat, was gegenüber den Umfragen von Ende 2023 praktisch unverändert ist.

17 Für einen Vergleich mit dem Krieg gegen den Terror, siehe Sudkamp, 2024. Für eine eher atemlose Beschreibung der militärischen Fähigkeiten der IDF vor dem 7. Oktober siehe Ortal, 2022. Enormes Vertrauen wurde auch in die fortschrittliche Überwachung und Kontrolle gesetzt, die Angriffe wie den vom 7. Oktober 2023 verhindern sollte.

18 Choonara, 2005.

19 Economist, 2024.

20 Economist, 2024.

21 Siehe https://en-social-sciences.tau.ac.il/sites/socsci-english.tau.ac.il/files/media_server/social/peaceindex/2024-05-findings.pdf.

22 Außenministerium der Vereinigten Staaten, 2024.

23 Siehe Assaf, 2024; Alexander, 2024a.

24 Zu dieser Strategie siehe Alexander, 2024b. Zu den historischen und aktuellen Debatten innerhalb der palästinensischen Linken siehe den Beitrag von Ramsis Kilani in dieser Ausgabe.

25 Siehe https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_pro-Palestinian_protests_on_university_campuses_in_2024.

26 Eine US-Datenbank über pro-palästinensische Mobilisierungen seit dem 7. Oktober weist auf insgesamt knapp 1,5 Millionen Teilnehmer im ganzen Land hin, obwohl die Bevölkerung fünfmal so groß ist wie die Großbritanniens. Die Datenbank ist online verfügbar unter https://nonviolentactionlab.shinyapps.io/palestine-protest-dashboard.

27 Neben den Gemeinsamkeiten gibt es weitere Unterschiede zwischen den Studentenbewegungen auf beiden Seiten des Atlantiks. Eine interessante Diskussion, wenn auch recht früh in diesem Prozess geschrieben, findet sich in Shehadi, 2024.

28 Eine klassische Diskussion über die Dynamik der Studentenrevolte, die sich auf die späten 1960er Jahre konzentriert, findet sich in Harman, 1988, S. 38-54.

29 Nersessian, 2024.

30 Burgis, 2024. The Appeal, eine gemeinnützige Organisation in den USA, die die Kriminalisierung von Protesten überwacht, verzeichnet derzeit rund 3.000 Verhaftungen als Maßstab für das Ausmaß der Repression. Siehe Weill-Greenberg, Corey und andere, 2024.

31 Raskin, 1985.

32 Siehe Harman, 1988, S. 180-181.

33 In ähnlichem Sinne plädiert Ben Burgis dafür, dass sich die Studenten mit breiteren Kräften außerhalb der Universitäten verbinden, indem er beispielsweise vorschlägt, dass sie den für August in Chicago anberaumten Parteitag der Demokraten ins Visier nehmen, was ein weiteres Echo auf 1968 wäre, als ein Polizeiaufstand vor dem Parteitag in Chicago der US-Bewegung einige ihrer denkwürdigsten Szenen bescherte. Siehe Burgis, 2024.

34 Zu diesen Punkten siehe auch Callinicos, 2024.

35 Siehe Harman, 1988, S. 360-362.

36 Choonara, 2023a, 2023b.

37 Siehe Callinicos, 2023; Choonara, 2020.

38 Zitelmann, 2023. Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien und Griechenland gehörten zu den Ländern, die im Ausblick als „antikapitalistisch“ bezeichnet wurden. Die USA standen nach Polen an zweiter Stelle der Länder, die eine pro-kapitalistische Einstellung vertraten. Allerdings – und das ist wiederum wichtig für das Verständnis der Dynamik der Studentenbewegung – hatten die unter 30-Jährigen in den USA eher eine neutrale oder negative Einstellung zum Kapitalismus.

39 Dazu gehören auch zionistische Schläger, die die Lagerbewegung vor allem in den USA angegriffen haben. An der UCLA schossen sie unter anderem Feuerwerkskörper in das Lager und verletzten mehrere Studenten, während die Polizei untätig blieb. Laut Nersessian gehörten zu dem Mob an der UCLA „selbsternannte ehemalige IDF-Soldaten, aber auch mehrere weiße Nationalisten, darunter Mitglieder der rechtsextremen Proud Boys“ – Nersessian, 2024. Einige der Angegriffenen waren jüdische Studenten, die an dem Zeltlager teilnahmen.

40 Thomas, 2019, 2023. Ein anderer Teil der europäischen Rechtsextremen, die Partei Alternative für Deutschland, geriet in Schwierigkeiten, als einer ihrer Führer, Maximilian Krah, der Financial Times ein Interview gab, in dem er die Nazi-SS verteidigte und sagte, sie seien keine Verbrecher – Chazan und Abboud, 2024. Die Tatsache, dass Marine Le Pens Nationale Sammlungsbewegung erklärte, sie werde ihre Beziehungen zu Krahs Partei abbrechen, zeigt, wie sehr die französische Organisation versucht, ihr Image zu entgiften. Dies wiederum führt zu scharfen Spannungen sowohl innerhalb ihrer Partei als auch zwischen rechtsextremen Gruppen in Frankreich, wobei Marines Nichte, Marion Maréchal-Le Pen, eine alternative rechtsextreme Herausforderung im Bündnis mit Éric Zemmour anführt, der eine Reihe von Verurteilungen wegen Hassreden hat.

41 Choonara, 2022.

42 Nicht nur, dass der Oberste Gerichtshof Großbritanniens den Ruanda-Plan für rechtswidrig erklärte und die Labour-Partei versprach, ihn abzuschaffen, als die Regierung im April Pläne ankündigte, die Besucher von Einwanderungszentren in Gewahrsam zu nehmen, sprangen Antirassisten in Aktion und versammelten sich vor den Zentren, um Abschiebungen zu verhindern – siehe https://standuptoracism.org.uk/tue-30-april-stoprwanda-national-day-of-action-protests-across-britain

43 Siehe www.gov.uk/government/speeches/secretary-of-states-speech-on-anti-semitism

44 Socialist Worker, 2024.

45 Whannel und Fenwick, 2024.

46 https://digital.nhs.uk/data-and-information/publications/statistical/hospital-outpatient-activity/2022-23

47 www.tes.com/magazine/analysis/general/how-many-teachers-are-there-uk-england-scotland-wales-northern-ireland

48 https://oeuk.org.uk/uk-energy-import-bills-more-than-doubled-to-117-billion-in-2022-and-could-hit-similar-highs-this-year-a-new-offshore-energies-uk-report-will-warn

49 https://twitter.com/TariqAli_News/status/1788523675844567255


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