Vergangenes Wochenende sollte Dr. Ghassan Abu Sitta auf dem Palästina-Kongress in Berlin als Sprecher auftreten. Ihm wurde jedoch die Einreise verboten
Dr. Abu Sitta ist ausgezeichneter Chirurg und reist seit Jahren in Kriegsgebiete, um dort Verletzte zu versorgen. Er lehrt an der Universität Glasgow und wurde diesen Monat mit 80 Prozent der Stimmen der Student:innen zum Rektor gewählt. Sein Wahlmotto war „Eine Stimme für Ghassan ist eine Stimme für Gaza“
Aufgrund seiner Erfahrungen als Chirurg in Gaza war er als Zeuge vor dem Internationalen Gerichtshof geladen, um in dem Völkermordsfall von Südafrika als Zeuge auszusagen.
Auf dem Palästina-Kongress sollte der Experte über seine Erfahrungen bezüglich der medizinischen Lage im Gazastreifen berichten, die er während seines Aufenthalts dort machte. Er wurde jedoch an der Einreise gehindert. Auf „x“ schrieb er dazu: „Ich wurde eingeladen, auf einer Konferenz in Berlin über meine Arbeit in den Krankenhäusern von Gaza während des gegenwärtigen Konflikts zu sprechen. Die deutsche Regierung hat mich gewaltsam an der Einreise in das Land gehindert. Einen Zeugen des Völkermordes vor dem IGH mundtot zu machen, macht Deutschland mitschuldig an dem anhaltenden Massaker.“
Wir dokumentieren leicht gekürzt die Rede, die er nach der Wahl zum Rektor der Universität Glasgow hielt:
„Die Student:innen der Universität Glasgow haben sich dazu entschlossen, im Gedenken an die 52.000 getöteten Palästinenser:innen zu wählen. Im Gedenken an 14.000 ermordete Kinder.
Sie wählten in Solidarität mit 17.000 palästinensischen Waisenkindern, 70.000 Verwundeten – von denen die Hälfte Kinder sind – und den 4000-5000 Kindern, denen Gliedmaßen amputiert werden mussten.
Sie stimmten für die Solidarität mit den Schüler:innen und Lehrer:innen von 360 zerstörten Schulen und 12 Universitäten, die dem Erdboden gleichgemacht wurden. Ihre Solidarität und ihre Gedanken galten auch Dima Alhaj, einer Absolventin der Universität Glasgow, die zusammen mit ihrem sechs Monate altem Kind und ihrer ganzen Familie ermordet wurde.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts prophezeite Lenin, dass ein echter revolutionärer Wandel in Westeuropa von einem engen Kontakt mit den Befreiungsbewegungen gegen den Imperialismus und den Befreiungsbewegungen in den Sklavenkolonien abhängt.
Die Student:innen der Universität Glasgow haben begriffen, was wir zu verlieren haben, wenn wir zulassen, dass unsere Politik menschenverachtend wird.
Sie haben auch verstanden, dass das Wichtige und Besondere an Gaza ist, dass es das Versuchslabor ist, in dem das globale Kapital den Umgang mit überflüssiger Bevölkerung untersucht.
Sie stehen an der Seite des Gazastreifens und in Solidarität mit dessen Bevölkerung, weil sie begriffen haben, dass die Waffen, die Benjamin Netanjahu heute einsetzt, die Waffen sind, die Narendra Modi morgen einsetzen wird.
Die Quadrocopter und Drohnen mit Scharfschützengewehren – die in Gaza so ausgeklügelt und effizient eingesetzt werden, dass wir eines Nachts im Al-Ahli-Krankenhaus über 30 verwundete Zivilisten versorgen mussten, die vor dem Krankenhaus von diesen Erfindungen erschossen wurden -, die heute in Gaza eingesetzt werden, werden morgen in Mumbai, in Nairobi und in Sao Paulo eingesetzt werden.
Schließlich werden sie, wie die von den Israelis entwickelte Gesichtserkennungssoftware, auch in Easterhouse und Springburn zum Einsatz kommen.
Für wen genau haben die Student:innen also gestimmt? Mein Name ist Ghassan Solieman Hussain Dahashan Saqer Dahashan Ahmed Mahmoud Abu Sitta. Mit Ausnahme von mir wurden mein Vater und alle meine Vorfahren in Palästina geboren, einem Land, das von einem der früheren Rektoren der Universität Glasgow regelrecht verschenkt wurde.
Drei Jahrzehnte bevor er in einer Erklärung, bestehend aus 46 Wörtern, die Unterstützung der britischen Regierung für die Kolonisierung Palästinas durch Siedler:innen bekannt gab, wurde Arthur Balfour zum „Lord Rektor“ der Universität Glasgow ernannt. „Ein Blick auf die Welt … zeigt uns eine große Anzahl wilder Gemeinschaften, die sich offenbar auf einer Kulturstufe befinden, die sich nicht wesentlich von der des prähistorischen Menschen unterscheidet“, sagte Balfour in seiner Rektoratsrede 1891.
Sechzehn Jahre später brachte dieser Antisemit den Aliens Act von 1905 auf den Weg, um Jüd:innen, die vor den Pogromen in Osteuropa flohen, daran zu hindern, sich im Vereinigten Königreich in Sicherheit zu bringen.
1920 baute mein Großvater Sheikh Hussain mit seinem eigenen Geld eine Schule in dem kleinen Dorf, in dem meine Familie lebte. Damit legte er den Grundstein dafür, dass Bildung zu einem zentralen Bestandteil des Lebens meiner Familie wurde. Am 15. Mai 1948 wurde das Dorf von Hagana-Truppen ethnisch gesäubert und meine Familie, die seit Generationen auf diesem Land gelebt hatte, in ein Flüchtlingslager in Chan Yunis vertrieben, das heute in Trümmern im Gazastreifen liegt.
Die Memoiren des Hagana-Offiziers, der in das Haus meines Großvaters eingedrungen war, wurden von meinem Onkel gefunden. In diesen Erinnerungen stellt der Offizier ungläubig fest, dass das Haus voller Bücher war und eine Urkunde über einen Juraabschluss der Universität Kairo darin war, die meinem Großvater gehörte.
Im Jahr nach der Nakba schloss mein Vater sein Medizinstudium an der Universität Kairo ab und zog zurück nach Gaza, um in den neu gegründeten Kliniken des United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) zu arbeiten.
Wie viele seiner Generation zog er in die Golfstaaten, um dort am Aufbau des Gesundheitswesens mitzuwirken. 1963 kam er nach Glasgow, um seine Zusatzausbildung in Kinderheilkunde zu absolvieren und verliebte sich in die Stadt und ihre Menschen.
Und so kam es, dass ich 1988 Medizin an der Universität Glasgow studierte und hier feststellte, was Medizin bewirken kann und wie man, wenn man mit der richtigen politischen, soziologischen und wirtschaftlichen Brille ausgestattet ist, begreifen kann, wie das Leben der Menschen von politischen Kräften, die sich ihrer Kontrolle entziehen, geformt und oft verzerrt wird.
Und in Glasgow habe ich zum ersten Mal gesehen, was internationale Solidarität bedeutet. Damals gab es in Glasgow viele Gruppen, die Solidarität mit El Salvador, Nicaragua und Palästina organisierten.
Der Stadtrat von Glasgow war einer der ersten, der eine Partnerschaft mit Städten im Westjordanland einging und die Universität Glasgow richtete ihr erstes Stipendium für die Opfer des Massakers von Sabra und Schatila ein.
„Die Situation in Gaza war mit nichts zu vergleichen, was ich je im Krieg gesehen hatte“
Während meiner Jahre in Glasgow begann meine Reise als Kriegschirurg. Zunächst 1991 als Student während des amerikanischen Kriegs im Irak; 1993 mit Mike Holmes im Südlibanon; dann ging ich während der zweiten Intifada mit meiner Frau nach Gaza; dann zu den Kriegen der Israelis gegen Gaza in den Jahren 2009, 2012, 2014 und 2021; zum Krieg in Mosul im Nordirak, nach Damaskus während des Krieges in Syrien und zum Krieg im Jemen.
Am 9. Oktober kam ich nach Gaza und sah, wie der Völkermord sich entwickelte.
Die Situation in Gaza war mit nichts zu vergleichen, was ich je im Krieg gesehen hatte. Es war ein Unterschied wie zwischen einer Flut und einem Tsunami.
43 Tage lang sah ich zu, wie die Tötungsmaschinen das Leben und die Körper der Palästinenser:innen im Gazastreifen zerstörten, von denen die Hälfte Kinder waren. Als ich zurück nach Glasgow kam, baten mich Student:innen der Universität, für die Wahl zum Rektor zu kandidieren.
Was haben wir in den letzten sechs Monaten aus und über den Völkermord gelernt? Wir haben gelernt, dass die Beseitigung ganzer Bildungseinrichtungen, sowohl der Infrastruktur als auch der Belegschaft, eine entscheidende Rolle bei der Auslöschung eines Volkes spielt.
Zwölf Universitäten und 400 Schulen wurden vollständig zerstört. 6000 Schüler:innen, 230 Lehrer:innen,100 Professor:innen und Dekan:innen sowie zwei Universitätspräsidenten wurden getötet.
Israel steht nicht allein da
Wir haben auch gelernt, und das ist etwas, was mir klar wurde, als ich Gaza wieder verließ, dass der Plan der ethnischen Säuberung wie ein Eisberg ist, von dem Israel nur die Spitze ist.
Der Rest des Eisbergs besteht aus einer Achse des Völkermords. Diese Achse sind die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Deutschland, Australien, Kanada und Frankreich. Länder, die Israel mit Waffenlieferungen unterstützt haben – und weiterhin unterstützen – und die politische Unterstützung für das völkermörderische Projekt aufrechterhalten haben, damit es fortgesetzt werden kann.
Wir sollten uns nicht von den Versuchen der Vereinigten Staaten täuschen lassen, den Völkermord humanitär dastehen zu lassen, weil gleichzeitig Nahrungsmittelhilfe per Fallschirm abgeworfen werden.
Ich habe auch begriffen, dass ein Teil des Eisbergs diejenigen sind, die den Weg für den Völkermord bereiten. Kleine Leute, Männer und Frauen, in allen Bereichen des Lebens, in allen Institutionen. Es gibt drei Arten von diesen Wegbereitern:
Die erste sind diejenigen, deren Rassismus gegenüber Palästinenser:innen sie unfähig dazu gemacht hat, irgendetwas für die 14.000 getöteten Kinder zu empfinden, für die palästinensische Kinder unausstehlich sind. Hätte Israel 14.000 Welpen oder Kätzchen getötet, wären sie von der Grausamkeit dieser Tat völlig zerrüttet worden.
Die zweite Gruppe sind diejenigen, von denen Hannah Arendt in „Die Banalität des Bösen“ sagt, dass sie keinerlei Motive hätten, außer dem außerordentlichen Eifer, sich um ihr persönliches Fortkommen zu kümmern.
Die dritte Gruppe sind die Gleichgültigen. Wie Arendt sagte, gedeiht das Böse in der Apathie und kann ohne sie nicht existieren.
Im April 1915, ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs, schrieb Rosa Luxemburg über die deutsche bürgerliche Gesellschaft: „Vergewaltigt, entehrt, in Blut watend … die gefräßige Bestie, der Hexensabbat der Anarchie, eine Plage für Kultur und Menschlichkeit.“
Profite steigen durch die Vernichtung von Leben
Diejenigen von uns, die gesehen, gerochen und gehört haben, was Kriegswaffen dem Körper eines Kindes absichtlich antun, diejenigen von uns, die Gliedmaßen verwundeter Kinder amputiert haben, können nicht anders, als totale Verachtung für alle zu empfinden, die an der Herstellung, der Entwicklung und dem Verkauf dieser Instrumente beteiligt sind. Das Ziel der Waffenherstellung ist die Auslöschung von Leben und die Zerstörung der Natur.
In der Rüstungsindustrie steigen die Profite nicht nur durch die im oder durch den Krieg erbeuteten Ressourcen, sondern durch die Zerstörung allen Lebens, sowohl des menschlichen als auch des ökologischen. Die Vorstellung, es gäbe Frieden oder eine saubere Umwelt, während das Kapital durch Krieg wächst, ist lächerlich. Weder der Waffenhandel noch der Handel mit fossilen Brennstoffen haben an der Universität etwas zu suchen.
Was ist also unser Plan?
Wir werden uns dafür einsetzen, dass sich die Universität von der Rüstungsindustrie und der Industrie für fossile Brennstoffe trennt, um das Risiko für die Universität zu verringern, nachdem der Internationale Gerichtshof entschieden hat, dass es sich hier um einen völkermörderischen Krieg handelt und um die aktuelle Klage Nicaraguas gegen Deutschland wegen Beihilfe zum Völkermord zu unterstützen.
Wir werden eine Koalition aus studentischen und zivilgesellschaftlichen Gruppen und Gewerkschaften bilden, um die Universität Glasgow zu einem Campus ohne geschlechtsspezifische Gewalt zu machen.
Das durch den Krieg erwirtschaftete Geld wird für die Einrichtung eines Fonds verwendet, der den Wiederaufbau palästinensischer akademischer Einrichtungen unterstützt. Dieser Fonds wird den Namen Dima Alhaj tragen und in Erinnerung an ein durch diesen Völkermord ausgelöschtes Leben eingerichtet.
Wir werden uns dafür einsetzen, dass konkrete Lösungen für die Beendigung der Student:innenarmut an der Universität Glasgow gefunden werden und dass allen Student:innen erschwingliche Wohnungen zur Verfügung gestellt werden.
Wir werden uns für einen Boykott aller israelischen akademischen Einrichtungen einsetzen, die von der Mitschuld an der Apartheid und der Verweigerung von Bildung für Palästinenser:innen hin zu Völkermord und der Versagung von Leben übergegangen sind.
Wir werden uns für eine neue Definition von Antisemitismus einsetzen, die Antizionismus und antiisraelischen völkermörderischen Siedlerkolonialismus nicht mit Antisemitismus in einen Topf wirft.
Wir werden mit allen anderen von Rassismus betroffenen Gemeinschaften, einschließlich der jüdischen Gemeinschaft, der Roma-Gemeinschaft, der Muslime, der Schwarzen und allen anderen betroffenen Gruppen, gegen den gemeinsamen Feind eines aufsteigenden Rechtsradikalismus kämpfen, der jetzt von einer israelischen Regierung im Austausch für die Unterstützung bei der Vernichtung des palästinensischen Volkes von seinen antisemitischen Wurzeln freigesprochen wurde.
„Es ist eure Welt, für die ihr kämpfen müsst“
Erst diese Woche haben wir erlebt, wie eine von der deutschen Regierung finanzierte Einrichtung eine jüdische Intellektuelle und Philosophin, Nancy Fraser, wegen ihrer Unterstützung des palästinensischen Volkes ausgeladen hat.
Vor über einem Jahr mussten wir mit ansehen, wie die Labour Party Moshé Machover, einen jüdischen antizionistischen Aktivisten, wegen Antisemitismus suspendierte.
Auf dem Hinflug hatte ich das Glück, das Buch „Wir sind frei, die Welt zu verändern“ von Lyndsey Stonebridge zu lesen.
Ich zitiere aus diesem Buch: „Wenn die Erfahrung der Machtlosigkeit am akutesten ist, wenn die Geschichte am düstersten erscheint, dann ist die Entschlossenheit, wie ein Mensch zu denken, kreativ, mutig und kompliziert, am wichtigsten.“
Vor neunzig Jahren fragte Bertolt Brecht in seinem Solidaritätslied: „Wessen Morgen ist das Morgen? Und wessen Welt ist die Welt?“
Nun, meine Antwort an ihn, an Sie und an die Student:innen der Universität Glasgow: Es ist eure Welt, für die ihr kämpfen müsst. Es ist eure Zukunft, die ihr gestalten müsst.
Für uns, für uns alle, besteht ein Teil unseres Widerstands gegen den Völkermord darin, über das Morgen in Gaza zu sprechen. Die Heilung der Wunden von Gaza für Morgen zu planen. Morgen wird uns gehören. Der morgige Tag wird ein palästinensischer Tag sein.
1984, als die Universität Glasgow Winnie Mandela zu ihrer Rektorin machte, in den dunkelsten Tagen von Pieter Willem Bothas Herrschaft unter einem brutalen Apartheidsregime, das von Margaret Thatcher und Ronald Reagan unterstützt wurde, hätte sich niemand träumen lassen, dass in 40 Jahren südafrikanische Männer und Frauen vor dem Internationalen Gerichtshof stehen würden, um das Recht des palästinensischen Volkes auf Leben als freie Bürger:innen einer freien Nation zu verteidigen.
Mit den Worten des unsterblichen Bobby Sands MP möchte ich optimistisch zum Schluss kommen: Unsere Rache wird das Lachen unserer Kinder sein.
HASTA LA VICTORIA SIEMPRE!“
Interview zum Palästina-Kongress
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Foto: Streets of Berlin