Der Oberste Gerichtshof in Russland stufte die LGBTQ*-Community als extremistisch ein. Eine Aktivistin spricht über die Bedeutung des Urteils
Hallo! Danke, dass du dieses Interview gibst. Kannst du kurz sagen, wer du bist? Wenn du Sorge vor Repressionen hast, kannst du diesen Teil auch weglassen.
Ich bin Nadezhda aus Moskau, 28 Jahre alt und queer.
Der Oberste Gerichtshof in Russland hat die LGBTQ*-Gemeinschaft Ende 2023 als „terroristische Organisation“ eingestuft: Würdest du die Gemeinschaft als eine Organisation betrachten?
Nein, natürlich nicht. LGBTQ*-Menschen sind einfach nur Leute. Es gibt keine globale Organisation von LGBTQ*-Menschen. Niemand kann sich seine sexuelle Orientierung aussuchen. Man muss dazu sagen, dass die russische Regierung das auch genau weiß und versteht. Die ersten Menschen, die nach dem 30. November von der Polizei angegriffen wurden, waren einfache Menschen – Schwule und Lesben, die sich in Schwulenclubs aufhielten. Ich denke, das zeigt, dass die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs nicht nur gegen politische Aktivist:innen gerichtet ist. Das Regime versucht, vor der Wahl Unterstützung von rechtsextremen Bürger:innen zu bekommen, indem es zum Hass gegen Minderheiten aufruft.
Mit der Einstufung als „terroristische Organisation“ wird es zu weiteren Repressionen und härteren Konsequenzen kommen. Was wird sich deiner Meinung nach durch das Urteil ändern?
Ich musste z.B. meine Instagram-Posts mit Fotos von LGBTQ*-Unterstützungsaktionen und das Regenbogenplakat an der Wand meiner Wohnung gegenüber vom Fenster entfernen, weil ich Angst haben muss, dass die Polizei deswegen zu mir nach Hause kommt.
Das Ziel der Regierung ist die Spaltung der Gesellschaft
Homophobie und Transphobie werden sowohl mit dem russischen Regime als auch mit dem russischen Volk in Verbindung gebracht. Siehst du das auch so?
Nein, ich sehe das etwas anders. Die Regierung schafft künstlich Homophobie und Transphobie, um die Solidarisierung der Gesellschaft zu verhindern. Um ehrlich zu sein: Ich wurde zweimal in meinem Leben Opfer von Homophobie. Den meisten Menschen in Russland ist die sexuelle Orientierung eines anderen Menschen völlig egal. Ich denke, dass Homophobie in Russland entsteht, weil die Menschen hier keinen Zugang zu wahrheitsgemäßen, wissenschaftlichen Informationen über LGBTQ* haben. Viele Menschen glauben z.B., dass die Homo-Ehe die Geburtenrate senken kann.
Hast du Erfahrungen mit homophoben Angriffen machen müssen?
Als meine Freundin und ich mit anderen Aktivist:innen eine politische Aktion durchführten, nahm ein Mann einem Mädchen die LGBTQ*-Fahne weg und schubste sie. Aber die meisten Leute, die zu diesem Zeitpunkt auf dem Platz waren, haben uns unterstützt und gemeinsam mit uns antihomophobe Slogans geschrien. Die Polizei hat an diesem Tag viele Menschen festgenommen.
Als politische Aktivistin kennst du die Gefahren, die es mit sich bringt, wenn man sich gegen Ungerechtigkeit zur Wehr setzt. Wird es in Russland noch weitere queere Proteste geben?
Die LGBTQ*-Gemeinschaft in Russland wird eingeschüchtert, deshalb erwarte ich nicht, dass wir uns großartig zu Protesten zusammenschließen können. Aber ich bin sicher, dass die Menschen, die zu den Protesten gegen Putin gehen, den antihomophoben Protest unterstützen, auch wenn sie sich selbst nicht als LGBTQ* Personen sehen.
LGBTQ*-Rechte sind Menschenrechte
Welche Verbündeten habt ihr in der feministischen oder Antikriegsbewegung?
Ich denke, die meisten Antikriegs- und feministischen Aktivist:innen sind unsere Verbündeten, weil LGBTQ*-Rechte Menschenrechte sind. Wir alle haben die Menschenfeindlichkeit des russischen Regimes satt.
Wie kann die LGBTQ*-Gemeinschaft in soziale Bewegungen wie z.B. der Antikriegsbewegung, der Bewegung für Klimagerechtigkeit oder Streiks von Arbeiter:innen eingreifen?
Wir alle haben viele Gemeinsamkeiten. Wir wollen nicht, dass die Menschen leiden, weil grausame Menschen an der Macht sind, wir kämpfen für eine humanistische Entwicklung Russlands.
Abgesehen von den Gesetzen gegen „Homo-Propaganda“, wie oft siehst du queere Menschen und Identitäten in deinem täglichen Leben?
Queere Menschen gibt es überall. Frauen haben weniger Angst davor, sich als queer zu zeigen, daher treffe ich regelmäßig queere Frauen über Dating-Apps, in Clubs oder im Alltag, z.B. im Job.
Queer sein in Russland bedeutet, Angst haben zu müssen
Welche Erfahrungen machen queere Menschen, wenn sie offen leben? Was sind typische Reaktionen von Familie, Gesellschaft und Staat?
Das Leben von queeren Menschen in Russland ist voll von Ängsten. Wenn einer geliebten Person etwas Schlimmes zustößt, wenn sie z.B. bei der Polizei oder auf der Intensivstation landet, erhält man keinerlei Informationen über sie. Queere Familien können keine Kinder haben, weil der Staat ihnen die Kinder wegnehmen kann, weil das Gesetz die „homosexuelle Propaganda“, also die öffentliche Darstellung von Homosexualität, verbietet und unter Strafe stellt. Und natürlich haben queere Menschen Angst vor Verurteilung und Mobbing, weil der Staat zum Hass aufstachelt.
Was sollten internationale Sozialist:innen und Aktivist:innen tun, um euren Kampf gegen Krieg, Imperialismus und Homophobie zu unterstützen? Was können sie tun, um euren Kampf gegen den russischen Staat zu unterstützen?
Der beste Weg, den Kampf des russischen Volkes gegen Krieg, Imperialismus und Homophobie zu unterstützen, ist, nicht die Meinung zu verbreiten, dass die meisten Russ:innen auf der Seite von Putin stehen. Unsere Stimmen werden nicht gehört. Die Menschen können sich nicht vereinen, obwohl die Mehrheit der russischen Bevölkerung die Grausamkeit der russischen Regierung nicht unterstützt. Aber sie protestieren nicht und gehen nicht zu den Wahlen. Sie denken, dass es nichts bringt, weil sie glauben, dass wir in der Minderheit sind. Das russische Regime hat alle davon überzeugt.
Das Interview führte: Euli Wiegel
Aus dem Englischen übersetzt von: Marijam Sariaslani
Weiterlesen: Selbstbestimmung von Transmenschen und die Linke
Anmerkung der Redaktion: Am 30. November 2023 hat der Oberste Gerichtshof in Russland auf Antrag des Justizministeriums entschieden, die queere Community in Russland als extremistische Organisation einzustufen. Das Urteil trat sofort in Kraft. Auf Extremismus stehen in Russland langjährige Haftstrafen. Das folgende Interview sollte ursprünglich mit zwei queeren Aktivist:innen geführt werden. Aufgrund der Spannungen in Russland war es zum einen schwierig, die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Zum anderen musste eine der Aktivist:innen mittlerweile als politisch Verfolgte fliehen.
Titelbild: Theodoranian