Wir wollen das Selbstverständnis Deutschlands erschüttern

Udi Raz über 20 Jahre Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, die Rechte der Palästinenser:innen, ihre Entlassung vom Jüdischen Museum und neue Projekte.

Udi, könntest du dich bitte vorstellen?



Mein Name ist Udi Raz, ich bin Mitglied des Vorstands einer Organisation, die sich Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost nennt. 



Und die Jüdische Stimme hat soeben ihr zwanzigjähriges Bestehen gefeiert?

Nun, die neuen Ereignisse unterstreichen, dass es keinen Grund zum Feiern gab. Dass es unsere Organisation nun seit 20 Jahren gibt, ist auch ein Zeichen für das Versagen der Menschlichkeit. Wir als Organisation betonen, dass wir uns so bald wie möglich überflüssig machen möchten. Leider werden wir immer noch gebraucht. Wir wollten jedoch die Gelegenheit ergreifen, als Mitglieder der Jüdischen Stimme zusammenzukommen und andere Juden und Nichtjuden einzuladen, sich uns anzuschließen, nachzudenken, sich zu verbinden und in diesen schwierigen Zeiten zusammen zu sein. Wir können Unterstützung anbieten, einen sicheren Raum für die Begegnung von Israelis, Jüd:innen, Palästinenser:innen, Muslim:innen, Christ:innen und anderen.

Die Jüdische Stimme wurde im Jahr 2003 in Deutschland gegründet. Was war der Anlass dafür und warum zu dem Zeitpunkt?

Das war zur Zeit der Zweiten Intifada. Unsere Gründungsmitglieder waren bereits in palästinensisch-jüdischen Solidaritätskreisen organisiert, zum Beispiel im AK Nahost. In Deutschland wurden damals die palästinensischen Stimmen von der politischen Elite Deutschlands ignoriert, wie auch heute, wollen sie nur auf jüdische Stimmen hören, wenn es um die Lebensrealität in Palästina*Israel geht. Das machte die Gründung der Jüdischen Stimme notwendig. Solidarität zwischen Palästinenser:innen und Jüd:innen erhielt dadurch gewisse Sichtbarkeit im deutschen kulturellen und politischen Kontext. Solidarität, die die Möglichkeit eines gerechten Friedens für jene aufzeigt, die in derselben Region leben. Als symbolische Geste wurde die Jüdische Stimme am 65. Jahrestag des Novemberpogroms von 1938 gegründet. Damit haben wir auch das von unseren Eltern und Großeltern geerbte Gebot umgesetzt, die Lehren aus der rassistisch motivierten staatlichen Verfolgung zu ziehen, die schließlich in den Holocaust mündete. Unsere Vorfahren haben uns die Bedeutung des „Nie wieder!“ gelehrt, und wir haben aufmerksam zugehört.

Denkst du, es gibt eine besondere deutsch-jüdische Erfahrung?

Ja. Gerade weil dieser Begriff dermaßen politisiert worden ist. Ein Jude, eine Jüdin in Deutschland zu sein, ist an sich schon ein Statement. Viele Jahre lang habe ich mich geweigert, mich als Jüdin zu sehen, denn ich wuchs mit einer säkularen zionistischen Haltung auf. Für mich war klar, eine in Palästina*Israel lebende Jüdin zu sein hieß, Teil einer bestimmten Nation zu sein. Und deshalb überkreuzten sich die Kategorien „Jüdin“ und „Israelin“. Als ich nach Deutschland kam, sah ich mich anfangs vor allem als Israelin, während ich mich von meinem Jüdischsein distanzierte. Mir schien diese Kategorie zu allgemein zu sein, da sie wenig mit meiner besonderen Erfahrung als jüdische Person zu tun hatte, die in Palästina*Israel lebt. Für die meiste Zeit habe ich geglaubt, dass du in dieser Welt einfach ein Mensch sein kannst, unabhängig von deiner ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, Geschlecht, sozialem Status, dass alle einfach normal sein und ihre eigenen Entscheidungen treffen können. Es brauchte eine Weile, bis ich verstand, dass ich bestimmte Privilegien besaß, die es mir erlaubten, mich als „normal“ zu verstehen. Ich wurde „normal“ gemacht durch einen Diskurs, der „denormalisierte“, und alles delegitimierte, was nicht wie ich war.

Und doch erwarten weiße Deutsche, dass Jüd:innen in Deutschland sich auf bestimmte Weise verhalten.

So ist es. Sobald ich mich in den verschiedenen Kontexten in der deutschen Öffentlichkeit als Jüdin zu erkennen gebe, werde ich immer wieder daran erinnert, dass mein Denken und mein Fühlen nicht zählen. Es zählt nur, was jene, die den Diskurs kontrollieren, über mich als jüdische Person denken, was sie in mich hineinprojizieren.

Welche Beziehung habt ihr zu der internationalen Organisation „Jewish Voice for Peace”?

Wir arbeiten auf internationaler Ebene mit Einzelnen zusammen und haben gute Verbindungen zur Jewish Voice. Über unsere Arbeit und unsere Aktionen hier entscheiden aber allein die Vorstandsmitglieder, die alle in Deutschland leben. Für uns ist es wichtig, dass wir von den größeren Organisationen unabhängig sind, weil die Umstände hier so besonders sind.

Welche besondere Rolle kommt Jüd:innen in dem Kampf der Palästinenser:innen zu?

Der Prozess der Dekolonisierung Palästinas bedeutet auch den Prozess der Dekolonisierung des Judaismus vom Zionismus.

Was würdest du dir im Nahen Osten im Moment wünschen?

Ich wünsche mir einen Ort, wo alle als Gleiche vor dem Gesetz leben können. Ein System, das durch demokratische Prozesse geschaffen wird von allen, die darin leben werden. Ich denke, das ist die einzige Möglichkeit, weiterhin gemeinsam in dieser Region zu leben. Wir brauchen einen Ort, dem sich möglichst viele Einzelpersonen und Gemeinschaften, die ihn gemeinsam nutzen, zugehörig fühlen können. Dieser Ort kann mehr als einen Namen haben. 

Ich denke, Queerness wäre eine Lösung. Es ist eine Aufforderung, kritisch über eine Reihe uns vorgegebener Kategorien nachzudenken, die wesentliche Unterschiede zwischen uns festschreiben.

(Lies hier den ISvU-Artikel: „FAQ: Wie steht die Initiative SvU zur Befreiung Palästinas?)

Und kommen wir dahin?

Das größte Problem ist die Idee von Deutschland. Was hat es mit Deutschland auf sich, dass Muslim:innen und Jüd:innen sich als Feinde verstehen sollen? Es liegt allein in der Idee Deutschlands begründet, wenn deutsche Politiker fordern, dass Juden die Palästinenser nicht als mögliche Nachbarn und Geschwister betrachten sollen. Wie kommt es, dass die politische Elite Deutschlands uns nicht nur als nichtjüdisch genug beschimpft, sondern sogar als eine Bedrohung für Juden – also uns selbst! – und für Deutschland, wenn Jüd:innen von Palästinenser:innen als Gleiche sprechen?

Das Jüdische Museum hat dich als Museumsführerin entlassen. Wie lautete die Begründung?

Offiziell wurde ich entlassen, weil ich den Begriff „Apartheid“ in Bezug auf das Westjordanland verwendet habe. Die Bildungsabteilung des Museums hat erklärt, Schüler:innen, die das Museum besuchen, könnten nicht erfassen, was Apartheid bedeutet. Allerdings verwende ich so viele Begriffe, die die Leute nicht kennen. Eben darum geht es bei der Arbeit an einer Bildungseinrichtung wie einem Museum, insbesondere dem Jüdischen Museum, das Jugendlichen Informationen zu Themen anbietet, zu denen sie selbst keinen Zugang in diesem deutschen Schulsystem haben.

Ich erkläre den Begriff Apartheid nicht nur, ich frage am Anfang die Teilnehmenden, ob sie erläutern können, was das bedeutet. Immer wusste jemand, was das heißt. Immer gibt es eine Person, die auch genauestens den Ursprung erklären kann, den historischen Kontext und sogar, warum das auf die Lage im Westjordanland zutrifft. Laut Amnesty International erstreckt sich die Apartheid auf das gesamte Gebiet, das wir Palästina, oder Israel, nennen. Auf meinen Rundgängen spreche ich jedoch spezifisch vom Westjordanland.

Wer nicht hier aufgewachsen ist, versteht oft nicht, wie hier im deutschen Bildungssystem über den Nahen Osten gesprochen wird. Was wissen die Leute bei deinen Touren, was nicht?

Sie wollen eine Geschichte hören, die die Geschichte Deutschlands und Israels miteinander verbindet und was Judaismus bedeutet. Und ich erzähle ihnen jedes Mal, warum ich nach Berlin gekommen bin. Ich wurde in einer Stadt namens Haifa geboren und bin dort aufgewachsen. An dieser Stelle frage ich: „Wo liegt Haifa?“ Was würdest du sagen?

An der Mittelmeerküste, würde ich sagen.

Sie liegt am Mittelmeer. Einige Leute nennen dieses Gebiet Palästina, andere Israel. Ich wuchs in einer Stadt auf, wo viele Palästinenser:innen und Jüd:innen zusammengelebt haben. Seit meiner Jugend war mir sehr bewusst, dass dieses Land mehr als nur einen Namen trägt, und das ist absolut in Ordnung. Es gibt jedoch ein Gebiet, das Westjordanland genannt wird, mit Städten wie Ramallah und Dschenin, wo der Großteil der Bevölkerung sich als Palästinenser:innen versteht. Das Regime, das dieses Gebiet kontrolliert, sieht sie auch als Palästinenser:innen an. Eine Minderheit der Leute dort sind Jüd:innen, die in sogenannten Siedlungen leben. Das israelische Gesetz gilt für die Bewohner der Siedlungen, während die palästinensische Bevölkerung in demselben Gebiet dem Militärrecht des Staats Israel unterworfen ist. Unterschiedliche Gesetze gelten für jüdische und nichtjüdische Menschen. Und eben das ist laut Amnesty International eins der Merkmale von Apartheid.

Du wurdest also entlassen, weil du das Westjordanland ein Apartheidgebiet genannt hast? Wer war dafür verantwortlich?

Genau! Die endgültige Entscheidung hat die Leiterin der Bildungsabteilung, Diana Dressel, gefällt.  Bei dem Treffen, auf dem meine Entlassung entschieden wurde, hat sie angeblich das Dilemma erklärt, dass ich für meine Arbeit aber viel Lob bekomme. Sie meint, meine pädagogische Arbeit sei außergewöhnlich. Aber seit ich das Wort Apartheid verwendet habe, kann sie mir keine weiteren Führungen vermitteln. Ich arbeite freiberuflich für das Museum, ich kann also nur arbeiten, wenn ich gebucht werde.

Wurde auch von außen Druck ausgeübt?

Ich weiß, dass es noch andere Gründe gibt, die ich hier nicht nennen kann. Aber mein Anwalt und ich überlegen, wie wir mit den internen Informationen umgehen wollen.

Im Jüdischen Museum gibt es gute Ausstellungen und im Museumsshop findest du CDs von dem antizionistischen Sänger Daniel Kahn. Trotzdem war bereits der Direktor Peter Schäfer zum Rücktritt gezwungen, nachdem das Museum einen offenen Brief jüdischer Wissenschaftler:innen gegen die Kriminalisierung der Kampagne BDS veröffentlicht hatte.

Einige Jahre lang war das Museum von einer gewissen Ambivalenz geprägt. Aber mit jedem Skandal begreifen wir besser, was für eine Art Institution das Jüdische Museum ist, welcher Ideologie es dient und welche Politik seine Entscheidungen leitet. Amnesty International, israelische Menschenrechtsorganisationen und sogar zionistische Generale nennen die Lage im Westjordanland Apartheid. Wir können also festhalten, dass die Entscheidung, jemand wegen der Verwendung des Begriffs Apartheid zu feuern, ein Akt der Vernebelung ist. Es geht darum, ob du das Recht hast, diese Realität zu benennen.

Siehst du einen Zusammenhang zu der wachsenden Unterdrückung in Deutschland mit Demonstrations- und Raumverboten?

Auf jeden Fall. Das Museum möchte sich als pluralistischer Ort verkaufen, vor allem im Sinne der Präsentation einer Vielfalt jüdischer Stimmen. Aber es scheitert immer und immer wieder. Das Tragische daran ist, dass die meisten der Leute, die darüber entscheiden, wer dort arbeitet, welche Ausstellungen, welche Installationen dort zu sehen sind, selbst keine Juden sind. Nichtjuden konstruieren für jüdische Leute, was Judaismus bedeutet, was Juden sagen dürfen, was Juden nicht sagen dürfen, was Juden sind, was sie nicht sind. Das gilt auch für die sogenannten Beauftragten für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus: Felix Klein, Samuel Salzborn, Michael Blume, Uwe Becker, Ludwig Spaenle – und so weiter und so fort.

Welche Reaktionen gab es auf deine Entlassung?

99 Prozent der Nachrichten an mich sind solidarisch. Ich denke, viele begreifen die Heuchelei ihrer politischen Führung, die sich an die Seite Israels stellt, eines rassistischen Staats, der jetzt gerade Millionen Palästinenser:innen zur Flucht zwingt, wieder einmal, und Tausende Palästinenser:innen tötet, selbst Israelis, die von der Hamas als Geiseln festgehalten werden. Die israelische Regierung tötet diese Geiseln lieber, bzw. lässt bereitwillig zu, dass die Geiseln getötet werden, als eine humanitäre Lösung zu finden. Das bricht mir das Herz. Diese Strategie ist rein rassistisch. Und sie kommt zu einer Zeit, wo diese Regierung ihre eigenen Staatsbürger zu opfern bereit ist, um ein Gefühl der Feindschaft zwischen Jüd:innen und Muslim:innen oder Jüd:innen und Palästinenser:innen aufrechtzuerhalten.

Gibt es eine Kampagne für deine Wiedereinstellung? Möchtest du das überhaupt?

Die Arbeit im Jüdischen Museum begreife ich als außerordentlich wichtig. Sie kann längerfristig Wirkung zeitigen. Denn diese Jugendlichen, die meinen Geschichten zuhören, sind auch künftige Wähler in Deutschland. Und wenn ihnen die in Deutschland lebenden Juden wirklich am Herzen liegen, sollten sie zumindest verstehen, was der Staat Israel im Namen des Judentums tut und wie Deutschland diese rassistische Ideologie sogar unterstützt.

Wie können wir dich unterstützen?

Ich arbeite an einer Petition. Sodann an einer Pressemitteilung mit meiner Sicht der Dinge. Und das Dritte ist eine Spendensammlung für mich selbst, weil die Museumsarbeit in den vergangenen Monaten mein Hauptjob war. Das unterstreicht auch die finanzielle Gewalttätigkeit des deutschen Vorgehens gegen hier lebende Jüd:innen. Folgt mir bitte auf meinen Social-Media-Kanälen, schon das ist eine sinnvolle Unterstützung.

Wäre ein Boykott des Jüdischen Museums eine gute Idee?

Schreibt an das Jüdische Museum, besteht darauf, eine Antwort zu erhalten. Was einen Boykott betrifft: Der Eintritt für das Museum ist ohnehin frei. Ich denke, die Installationen dort haben einen Wert an sich und könnten noch wertvoller sein mit der richtigen Vermittlung. Dort arbeiten immer noch erstaunliche Museumsführer:innen, mit denen ich auch befreundet bin. Ihnen sende ich meine besten Wünsche, sie leisten sehr wichtige Arbeit. Das Problem sind die politischen Entscheider, die den Leuten vorschreiben wollen, was sie denken und wissen dürfen, nicht die Einzelnen, die trotz solcher Beschränkungen dort Bildungsarbeit leisten.

Kann Druck auf die Leitungsgremien ausgeübt werden?

Das Museum erhält öffentliche Gelder vom deutschen Staat, er und seine Beamten treffen die Entscheidungen. Fordert den Service ein, den ihr verdient. Schreibt an jede Person auf jeder institutionellen Ebene des Museums. Denn dieser Fall wirft viele Fragen auf für alle, die sich als Teil eines demokratischen Systems verstehen. Was hier geschieht, ist das Gegenteil von Demokratieförderung. Es bedeutet, Leute zum Schweigen zu bringen, Zensur, Verhinderung von Wissenserwerb und der Benennung der Wahrheit.

Deine neue Initiative ist, die Diskussion über Palästina an Berliner Universitäten zu tragen. Wie ist das bisher gelaufen?

Zwei Wochen lang hatten wir Veranstaltungen mit Dutzenden Studierenden von verschiedenen Universitäten in Berlin und Potsdam. Wir erhalten so viele Rückmeldungen von Studierenden, aber auch von Mitarbeiter:innen und Professor:innen, die uns erzählen, dass Leute Angst haben, ihre Meinung zu äußern, sobald es darum geht, dass nicht nur jüdisches Leben zählt, sondern auch palästinensisches. Wer darauf besteht, dass alle Einwohner einer Region als gleichwertige Menschen wahrgenommen werden sollten, wird schnell zur Zielscheibe von Sanktionen, Boykott, Investitionsabzug. Nicht nur ich habe meinen Arbeitsplatz verloren. Das ist derzeit die Atmosphäre der Angst an den Universitäten Deutschlands. Das hat nichts mehr mit akademischer Freiheit zu tun. Es ist sehr gefährlich für die gesamte Gesellschaft. Denn kritisches Denken gehört zum Wesen eines funktionierenden demokratischen Staats.

Wer beteiligt sich an deiner Initiative?

Studierende verschiedener Level: Bachelor, Master, Promovierende. Es sind Deutsche, Palästinenser:innen, Israelis und Studierende von anderen Ländern. Es sind Leute, die begreifen, dass auch palästinensisches Leben zählt. Das ist etwas sehr Menschliches und leicht zu verstehen.Wir genießen auch die Unterstützung einiger Professor:innen und von Leuten, die an der Uni arbeiten, nicht nur Lehrpersonal, sondern auch Forschende und Verwaltungsmitarbeiter:innen. Die Namen dieser mutigen Leute darf ich zu ihrem Schutz nicht nennen. Wir haben Studierende verschiedener Universitäten, von der Freien Universität, der Humboldt-Universität, der Technischen Universität, der Universität der Künste, der Hertie School, der Alice Salomon Hochschule, der Universität Potsdam und der Filmuniversität Babelsberg. Wir haben eine Petition verfasst mit sehr klaren Forderungen. Wir wollen betonen, dass es im deutschen akademischen Bereich nicht so weitergehen kann. Es ist ein rassistisches Verständnis davon, wie wir die Welt wahrnehmen sollten. Wir wollen  die akademische Freiheit zurückfordern, die uns nach dem deutschen Grundgesetz zusteht.

Vergangene Woche habe ich mich mit spanischen Sozialist:innen getroffen, einige von denen haben im deutschen Bildungssystem gearbeitet. Sie möchten den Palästinenser:innen helfen. Wie können diese Leute deine Kampagne unterstützen?

Zuallererst: Schreibt uns, nehmt Kontakt auf über studentscollectiveberlin@gmail.com oder über Instagram. Wir sind nicht nur da, um nach außen zu wirken, sondern auch, um uns gegenseitig zu unterstützen. Das ist eins der sehr wichtigen Ziele dieses von uns geschaffenen Netzwerks. Schließt euch uns an, ihr seid nicht allein. Wir haben auch bereits einen guten Überblick über die verschiedenen Formen der Unterdrückung von Personen, die sich für grundlegende Menschenrechte einsetzen. Wendet euch an uns, wir geben euch die notwendigen Informationen. Auch wenn ihr selbst von Repression betroffen seid, kontaktiert uns, denn wir bauen ein Archiv auf, das leider jeden Tag umfangreicher wird.

Kannst du ein paar Beispiele nennen, wie die akademische Freiheit beschnitten wird?

Ein Beispiel ist von der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies, wo ich derzeit Doktorandin bin. Kurz nach den Ereignissen vom 7. Oktober wandten wir uns an den Leiter unserer Einrichtung mit dem Angebot, eine öffentliche Podiumsdiskussion zu veranstalten, bei der unter anderem ich über die Ergebnisse meiner in den vergangenen vier Jahren durchgeführten Forschung berichten könnte. Wir wollten über die Unterdrückung palästinensischer Stimmen in Deutschland sprechen. Die Berliner Polizei hatte zu dem Zeitpunkt Leute verhaftet, weil sie eine Kufija getragen haben. Gerade das wollten wir an einem Graduiertenkolleg diskutieren, das den Anspruch erhebt, sich mit Realitäten zu befassen, die für muslimische Kulturen und Gesellschaften charakteristisch sind. Wir haben Podiumsteilnehmer von Palästina spricht und der Palästina Kampagne vorgeschlagen, zwei Organisationen, die enorm dazu beitragen, die Erfahrungen der Palästinenser:innen sichtbar zu machen. Wir waren schockiert über die Weigerung der Institutsleitung, eine solche Podiumsdiskussion durchzuführen, weil dieses Thema gerade „zu politisch“ sei. Gleichzeitig hat die Universität, der das Graduiertenkolleg angegliedert ist, öffentlich ihre Solidarität nur mit den israelischen Opfern des Angriffs vom 7. Oktober formuliert. Die Tausenden Palästinenser:innen, die im Namen eines jüdischen Staats getötet wurden, kamen darin nicht vor.

Die derzeitig sichtbarste Repression im Bildungssystem gibt es an Schulen. Du hast von dem Kufija-Verbot gesprochen, das faktisch das Verbot aller „palästinensischen Symbole“ bedeutet.  Du arbeitest überwiegend an der Universität. Kannst du dich auch mit Leuten an Schulen vernetzen?

Wir möchten unser Netz so weit wie möglich spannen. Wo du auch bist, sei es an der Universität oder an der Schule: organisiere dich. Hör dich um, und du wirst sehen, dass du nicht allein bist. Aber sei auch vorsichtig, sei dir der möglichen Risiken bewusst. Wir wissen, wie viel Macht rassistische Leute haben. Und das im heutigen Deutschland!

Ihr hattet bisher zwei Treffen der Palästina-Solidarität an der Uni. Plant ihr weitere?

Wer werden uns regelmäßig treffen. Die geplante Petition ist das eine, helft uns, sie zu verbreiten. Wir haben Verständnis dafür, wenn ihr anonym unterschreibt, weil es für manche gerade nicht anders geht. Aber schon das ist eine große Unterstützung, deine Stimme ist wertvoll. Wir unterstützen auch  Initiativen, die jeweils auf die verschiedenen Universitäten zugeschnitten sind. Wir sind ein Kollektiv aus Kollektiven. Wir tun das Bestmögliche, uns gegenseitig zu unterstützen. Wir arbeiten auch an Demonstrationen auf dem Campus und organisieren Podiumsdiskussionen. Ihr könnt alle relevanten Updates auf unserer Instagram-Seite sehen. Macht unsere Initiative bekannt.  

Udi, vielen Dank für das Gespräch.


Udi Raz ist Promotionsstipendiatin an der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies. Dort untersucht sie das zeitgenössische Selbstverständnis des christlichen Deutschlands an der Schnittstelle der Kategorien „Muslime“ und „Juden“. Udi wuchs in Haifa, einer Stadt zwischen Tel-Aviv und Beirut, auf. Ihre Arbeit ist geprägt von lokalen und globalen, antikolonialen und dekolonialistischen sowie queeren gesellschaftspolitischen Bewegungen. Seit 2010 lebt sie in Berlin, wo sie zunächst Kultur und Geschichte des Nahen Ostens und dann Islamwissenschaften an der Freien Universität Berlin studierte.

Das Interview führte Phil Butland. Phil Butland ist Sprecher der LINKE.Berlin LAG Internationals und leitender Redakteur von The Left Berlin sowie Unterstützer der Initiative Sozialismus von unten

Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews auf theleftberlin.com.

Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning.

Titelbild: Mariano Mantel