Am Mittwoch haben Zehntausende Antirassist:innen auf den Straßen die Aufmärsche von rassistischen Mobs verhindert. Derweil ist der Kampf um die Interpretation der Ereignisse in vollem Gange. Ein Kommentar von Carl Schreiber
Nazis wie Tommy Robinson nahmen einen Dreifachmord in Southport zum Anlass für eine anscheinend lange vorbereitete und gut organisierte Welle rechter Mobilisierungen. Innerhalb von Stunden nach der Tat wurde eine Lügenpropaganda verbreitet, mit erfundenem Namen und Tathergang, Verschwörungsszenarien zum Vorgehen des Staates usw. Noch am selben Abend standen Busse bereit, um gewalttätige Rassisten zu Ausschreitungen zu fahren.
Offensichtlich hielten die Nazis die Stimmung für reif, um mit gewalttätiger Propaganda in weitere Schichten der Bevölkerung auszugreifen. Sie wiederholten dabei die rassistischen Slogans der Tories aus dem Wahlkampf, wie »Stoppt die Boote«. Wer diese Ziele umsetzen will, so ihre Nachricht, darf sich nicht auf die Regierung verlassen, sondern muss das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen.
Trauriger Höhepunkt dieser Welle der Gewalt war der Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Rotherham am Sonntag (wir berichteten).
Nachdem in der ersten Woche nach dem Mord in Southport die rechten Aufmärsche unbehelligt marodieren konnten, hatten die Nazis für Mittwoch zu einem Landesweiten Protesttag aufgerufen und über 100 »Kundgebungen« angemeldet.
Britische Regierung, Polizei und Medien erwarteten harte Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Rechten. Auch Medien in Deutschland berichteten. Es sollte ganz anders kommen.
Antirassist:innen in der Gegenmobilisierung
Antirassistische Netzwerke, allen voran Stand up to Racism, hatten, alarmiert von der rechten Gewalt, alle Anstrengungen unternommen, so viele Menschen wie möglich zu Gegenprotesten zu mobilisieren. Eine wichtige Rolle haben auch die Netzwerke der Palästina-Solidarität gespielt, die in den letzten Monaten deutlich gewachsen sind. Und die Massenproteste des letzten Jahres gegen den Genozid in Gaza haben auch vielen muslimischen Organisationen den Mut gegeben, sich an den Protesten zu beteiligen.
Fast überall, wo rechte Kundgebungen angemeldet waren, kamen so viele Antirassist:innen zusammen, dass die Rechten entweder gar nicht oder nur unter massivem Polizeischutz ihre Slogans rufen konnten. Bilder aus Brighton zum Beispiel zeigen, wie fünf Rassisten hinter einer Polizeikette ihre Schilder hochhalten, während die gesamte Straße und Nebenstraßen voller Gegendemonstrant:innen waren.
Insgesamt waren Zehntausende Menschen an den Gegenprotesten beteilig. Britische Medien sprechen von 25.000 Antirassist:innen. Aber die tatsächliche Beteiligung war viel höher. Allein in Walthamstow in London waren 10.000 an den Gegenprotesten beteiligt. Die Bilder aus Brighton zeigen auch eher Tausende als Hunderte.
Kein Verlass auf den Staat!
Es war insgesamt ein großer Erfolg für die antirassistische Bewegung, so viele Menschen innerhalb so kurzer Zeit mobilisieren zu können. Und es kam sowohl für die Nazis als auch die Polizei überraschend. Die Polizei begnügte sich mit der Rolle der Beschützer der Rassist:innen, eskortierte sie in Sicherheit.
An den wenigen Orten, an denen keine ausreichende Gegenmobilisierung zustande kam, konnten die Rassist:innen hingegen ungestört ihre Aufmärsche durchführen. Die Polizei hat sie nicht gehindert. Insofern geht die Behauptung des neuen britischen Premierministers Keir Starmer an den Tatsachen vorbei, der Abend sei ein Triumph für Polizei und Justiz.
Nicht der Staat, sondern massenhafte und breite Mobilisierung, die konsequent jeden rechten Aufmarsch konfrontiert und unterbindet, ist der Schlüssel zum erfolgreichen Kampf gegen Nazis und rassistische Hetze. Trotz des Erfolges steht die antirassistische Bewegung in Großbritannien noch vor großen Herausforderungen. Zwar unterstützen laut Umfragen »nur« etwa sieben Prozent der Briten die rechten Aufmärsche. Aber die dahinterliegende rassistische Stimmung geht deutlich weiter.
Rassistische Kampagne
Die Tories hatten in ihrem Wahlkampf voll auf Rassismus gesetzt. »Stoppt die Boote«, in Anspielung auf Flüchtende, die mit Kleinbooten verzweifelt versuchen, den Ärmelkanal zu überqueren, war ein zentraler Slogan. Die wichtigste Gesetzesinitiative des letzten Jahres der Tory-Regierung war das sogenannte »Ruanda-Gesetz«, das es erlauben sollte, Flüchtende unabhängig von ihrer Herkunft und der Fluchtursachen direkt nach Ruanda abzuschieben. Das Gesetz ist schließlich vor britischen Gerichten gescheitert, was von den Nazis genutzt wurde, Selbstaktivität in der »Flüchtlingsabwehr« zu propagieren.
So haben die Tories eine Rechtsverschiebung eingeleitet. Sie selbst konnten davon bei der Wahl nicht profitieren und haben massiv Stimmen verloren. Hauptgewinnerin der Wahl war die Reform Partei des Rechtspopulisten Nigel Farage, die aus dem Stand heraus über vier Millionen Stimmen gewinnen konnte. Nur aufgrund des speziellen Wahlsystems in Großbritannien konnte Reform nicht über drei Sitze hinauskommen und stattdessen Labour die meisten Abgeordneten stellen (siehe unsere Wahlanalyse).
Dieser Rechtsrutsch wurde auch dadurch ermöglicht, dass Labour dem Rassismus nichts entgegensetzte. Im Gegenteil: Starmer versuchte sich als konsequenterer Kämpfer gegen »illegale Einwanderung« zu profilieren (»härter gegeben als die Konservativen«, Aaron Winter, Soziologe). Er bediente dabei wieder die rassistischen Stereotype von »guten« und »schlechten« Flüchtenden.
Herausforderungen für Antirassist:innen
Der Rassismus der britischen Politik ist vor allem ein Versuch, von der eigenen Verantwortung für die sozialen Abstieg großer Teile der arbeitenden Bevölkerung abzulenken. Wegen der Spar- und Sozialabbaupolitik der letzten Jahrzehnte leben mittlerweile 20 Prozent der Briten in Armut, über 14 Millionen Menschen.
Wie die »Asylflut«-Kampagne der CDU am Anfang der 1990er Jahre, die in Deutschland zu den rassistischen Pogromen in Hoyerswerda, Mölln und Solingen geführt hatte, ist auch der Rassismus der Herrschenden in Großbritannien dem Ziel untergeordnet: Lieber Flüchtlingsheime brennen als eine Bewegung gegen die soziale Ungleichheit kommt auf.
Die Aufgabe für Antirassist:innen wird nun sein, das Argument in der Bevölkerung zu verbreiten, dass nicht die Ärmsten der Armen, nicht ein paar Tausend Geflüchtete pro Jahr, für die Armut von Millionen verantwortlich sind. Hohe Mieten, Wohnungsmangel, Wartezeiten in Krankenhäusern… Das ist das Ergebnis einer Prioritätensetzung für die Profite einer kleinen Minderheit zu Lasten der großen Mehrheit.
Am besten können diese Argumente verbreitet werden, wenn es eine Bewegung an eben diesen und anderen sozialen Fragen gibt. Ohnmacht ist der Nährboden für Rassismus. Eine starke soziale Bewegung hingegen ist die beste Grundlage für dessen erfolgreiche Bekämpfung.
Titelbild und Fotos: SWP