Was Scholz’ »Zeitenwende« tatsächlich bezweckt und warum wir einen Aufstand gegen Aufrüstung und den deutschen Militarismus brauchen
»Wir stehen ein für den Frieden in Europa. Wir werden uns nie abfinden mit Gewalt als Mittel der Politik. Wir werden uns immer starkmachen für die friedliche Lösung von Konflikten.« Diese Worte stammen nicht etwa aus einem Appell der Friedensbewegung, sondern aus der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz, in der er drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine eine »Zeitenwende« ausruft und im Hauruckverfahren das größte Aufrüstungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik verkündet. Deutschland soll mit einem 100 Milliarden Euro schweren »Sondervermögen« und einer Verpflichtung zum Zweiprozentziel der Nato, was eine Aufstockung des Rüstungsetats von derzeit 50 Milliarden auf fast 80 Milliarden Euro jährlich zur Folge hätte, schlagartig zum Staat mit den dritthöchsten Militärausgaben der Welt aufsteigen, nur noch übertroffen von den USA und China.
Sicherung des Friedens in Europa?
»Da setzt ein linker Kanzler Forderungen um, für die konservative und bürgerliche Journalisten und Politiker sehr, sehr viele Jahre belächelt worden sind. Vielleicht geht es nur so. Es war auch ein Linker, der Hartz IV einführte«, freute sich der Chefredakteur von »Bild«. Auch im Bundestag erntete Scholz für seine Rede stehende Ovationen und tosenden Beifall. Von SPD und Grünen über FDP und Union bis hin zur AfD ist man sich einig: Deutschland soll die »stärkste und schlagkräftigste Armee in Europa« aufbauen, wie es Finanzminister Christian Lindner formulierte. Die AfD verkündet nach Scholz’ Rede in einem Video stolz: »Die Bundesregierung auf Kurs der AfD-Fraktion.«
Mit Militarismus oder gar einem Anknüpfen an deutsche Großmacht-Ambitionen habe all das selbstverständlich nichts zu tun. Schließlich gehe es darum, dass Deutschland seiner internationalen »Verantwortung« gerecht werde und seinen Beitrag zur »Sicherung des Friedens in Europa« leiste. Angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gebe es keine Alternative, als durch Aufrüstung die eigene »Verteidigungsfähigkeit« und das »militärische Abschreckungspotenzial« zu erhöhen, um so der russischen Aggression entgegenzutreten. Tatsächlich ist diese Begründung jedoch in gleich mehrfacher Hinsicht verlogen.
Die Lügen der Bundesregierung
Die erste Lüge besteht darin, die Aufrüstungspläne als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine darzustellen. In Wahrheit lagen die Pläne längst in den Schubladen. So wurde die Idee eines 100 Milliarden Euro Sondervermögens sowie eine massive Aufstockung des Rüstungsetats im Verteidigungsministerium schon lange vor dem russischen Angriff diskutiert. In einem sechsseitigen Argumentationspapier plädierte das Ministerium bereits Ende Oktober 2021 für ein »Sondervermögen Bundeswehr« in Höhe von 102 Milliarden Euro, so der »Spiegel«. Auch im Koalitionsvertrag der Ampelregierung sind bereits weitgehende Aufrüstungsbestrebungen festgehalten – deutlich vor den ersten Warnungen der CIA vor einer bevorstehenden Invasion Russlands in die Ukraine.
Die Rüstungspläne lagen längst in der Schublade
Sowohl die Anschaffung neuer Kampfflugzeuge zur Sicherung der »nuklearen Teilhabe« als auch bewaffneter Drohnen werden schon im Koalitionsvertrag verkündet. Im Dezember 2021 erklärte Kanzler Scholz nach einem Treffen mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, die deutschen Verteidigungsausgaben seien zuletzt »in einer Weise gestiegen, wie das viele Jahre nicht der Fall war. Das ist etwas, was wir fortsetzen werden nach den Möglichkeiten, die wir haben.« Der Ukrainekrieg erweiterte diese Möglichkeiten offensichtlich massiv und die Bundesregierung nutzte die Gunst der Stunde.
Militarismus: Kein reaktives Vorgehen
Dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen dem russischen Angriff und dem gigantischen deutschen Aufrüstungsvorhaben gibt, wird auch vor dem Hintergrund des Anschaffungszeitraums für die neuen Waffensysteme deutlich. Es ist für den Kriegsverlauf in der Ukraine irrelevant, über welche militärische Stärke die Bundeswehr in vielen Jahren verfügen wird. Es bestand und besteht bis heute also kein akuter Handlungsdruck, der es rechtfertigen würde, solch eine Grundsatzentscheidung nun im Eilverfahren umzusetzen. Die Verkündung drei Tage nach Beginn der russischen Invasion soll die deutschen Rüstungspläne als reaktives Vorgehen erscheinen lassen. Das ist jedoch ein Märchen.
Das Projekt der Remilitarisierung
Die zweite Lüge ist, dass Deutschland als »ökonomischer Riese, aber militärischer Zwerg« es sich zu lange »bequem« gemacht und auf dem Prinzip der »militärischen Zurückhaltung« ausgeruht habe. Die Bundeswehr sei »kaputtgespart« worden und nun brauche es eine Abkehr von der »naiven Friedenspolitik« der Bundesrepublik. Tatsächlich verfolgte die bundesdeutsche Politik das Projekt der Remilitarisierung jedoch seit Gründung der Bundesrepublik – und das zunehmend offensiv.
Der deutsche Militarismus stellt sich offensiv auf
Seit mittlerweile drei Jahrzehnten wird daran gearbeitet, die deutsche Bevölkerung an Auslandseinsätze der Bundeswehr zu gewöhnen. Zugleich wird massiv aufgerüstet. Die angebliche »180-Grad-Wende« in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, von der Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen sprach, ist tatsächlich nichts anderes als eine Fortsetzung und Radikalisierung dieser Politik. Die Behauptung, die Bundeswehr sei »systematisch kaputtgespart« worden und darum »nicht einmal bedingt abwehrbereit«, ist ein Mythos.
Die deutschen Militärausgaben sind nach Angaben des Bundesrechnungshofes allein seit 2014 um 55 Prozent von 32,4 auf 50,3 Milliarden Euro gestiegen. Damit hat Deutschland schon jetzt die siebthöchsten Militärausgaben der Welt. Nun will die Bundesregierung das Land auf Platz drei der hochgerüstetsten Staaten katapultieren. Die Begründung der Ampel-Koalition für das gigantische Aufrüstungsprogramm, dass damit eine »Verteidigungslücke« des Landes und der Nato geschlossen werden müsse, ist eine Farce. Tatsächlich übersteigen die Militärausgaben der Nato-Staaten diejenigen Russlands schon jetzt um fast das zwanzigfache. Damit ist auch das Argument hinfällig, es bräuchte gegen Russland jetzt ausreichende »Abschreckung«, weil offensichtlich die längst existierende Abschreckung den russischen Krieg in der Ukraine nicht verhinderte.
Mythos Demokratie und Menschenrechte
Die dritte Lüge ist, dass es der Bundesregierung mit ihren Aufrüstungsplänen um die Durchsetzung von Frieden, Völkerrecht, Demokratie und Menschenrechten ginge. In Wirklichkeit geht es Deutschland, ebenso wie allen anderen beteiligten Mächten, um die Sicherstellung des größtmöglichen Einflusses zur Wahrung der Interessen des jeweils eigenen Kapitals. Das deutsche Kapital ist stark vom Export und vom weltweiten Zugang zu Rohstoffen abhängig.
Militärische Potenz schafft politischen Einfluss
Deshalb befürwortet es eine aktivere Außenpolitik. Mit der »Wahrnehmung von Verantwortung« hat das nichts zu tun. Deutsche sollen an möglichst vielen Orten mit am Tisch sitzen, wenn über Nachkriegsordnungen verhandelt wird. Um das zu erreichen, muss Deutschland militärische »Glaubwürdigkeit« beweisen, also aufrüsten und auch mit eigenen Truppen in Konflikte intervenieren. So wurden die Stimmen im deutschen Establishment in den vergangenen Jahren immer lauter, die letzten Fesseln des deutschen Militarismus abzulegen.
Militarismus und wirtschaftliche Interessen
Militärische Potenz schafft politischen Einfluss. Und der ist die Voraussetzung, um wirtschaftliche Interessen geltend zu machen. Franz Josef Jung (CDU), Verteidigungsminister von 2005 bis 2009, sprach bereits offen aus, dass es für die Bundeswehr selbstverständlich sei, für den freien Rohstoffzugang zu sorgen. Ähnlich äußerten sich Bundespräsidenten, Generäle und außenpolitische Think-Tanks. Die Grundlagen- und Strategiedokumente der Bundeswehr sprechen es seit Jahrzehnten etwas verklausulierter aus, meinen aber das Gleiche. Auch im aktuellen Weißbuch der Bundeswehr von 2016 wird der Zugang zu Waren und Rohstoffen explizit als Ziel formuliert.
Der deutsche Militarismus stellt sich seit Jahren zunehmend offensiv auf, um im weltweiten Konkurrenzkampf um Einflusssphären, Rohstoffe und Absatzmärkte seine Position zu verbessern. Die zahlreichen Auslandseinsätze und die Aufrüstung der Bundeswehr machen Deutschland jedoch nicht sicherer und die Welt nicht friedlicher. Sie sind vielmehr Teil eines internationalen Wettlaufs um militärische Stärke und internationalen Einfluss zwischen den rivalisierenden kapitalistischen Mächten. Mit »Werteorientierung« hat dies ebenso wenig zu tun wie mit »Friedenssicherung« oder »Demokratie«.
Geschichte: Kontinuität im Expansionsstreben
Auch wenn sich der deutsche Militarismus heute im Gewand der Verteidigung von Frieden, Demokratie und Menschenrechten präsentiert, steht er durchaus in Kontinuität zum deutschen Expansionsstreben in zwei Weltkriegen. Denn obwohl sich die Taktiken und die Begründungen verändert haben, sind die Ziele des deutschen imperialen Projektes dieselben wie vor hundert Jahren: Europa führen, um die Welt zu führen.
Schon in der Entstehungszeit des Deutschen Zollvereins von 1834 wurden erste Pläne für eine »europäische Großraumwirtschaft« unter deutscher Führung entwickelt – zum Beispiel in den Schriften von Friedrich List, dem »Vater der Nationalökonomie«. Preußen und Österreich sollten die Vorherrschaft über ein Gebiet von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer erlangen. Den Ländern Ost- und Südosteuropas schrieb List den Status von Agrar- und Rohstoffproduzenten zu. Gleichzeitig sollten sie als Absatzmärkte für deutsche Produkte und als Handelsbrücke in den Nahen Osten dienen. Außerdem waren Gebiete Afrikas und Lateinamerikas als »Ergänzungszonen« vorgesehen. Eben eine solche »mitteleuropäische Großraumwirtschaft« gegen England, Frankreich, Russland und die USA durchzusetzen, war schließlich die Hauptmotivation des Kaiserreichs, als es den Ersten Weltkrieg anzettelte.
Europa unter deutscher Vorherrschaft
Der »Griff nach der Weltmacht« endete 1918 in der Niederlage. An imperiale Expansion war in der ökonomisch und außenpolitisch geschwächten Weimarer Republik nicht zu denken – vorerst. Mit der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise verschärfte sich die Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Industriestaaten enorm. Diese Situation ließ den Versuch Deutschlands scheitern, die Bedingungen des Versailler Vertrags – die eine Schwächung des deutschen Kapitalismus auf dem Weltmarkt darstellten – auf dem Verhandlungswege aufzuheben. Das Projekt »mitteleuropäische Großraumwirtschaft« rückte daraufhin wieder ins Zentrum des Denkens der deutschen Unternehmer. »Erst ein geschlossener Wirtschaftsblock von Bordeaux bis Odessa wird Europa das wirtschaftliche Rückgrat geben, dessen es zu seiner Behauptung seiner Bedeutung in der Welt bedarf«, erklärte im März 1931 Carl Duisberg, Aufsichtsratsvorsitzender der IG Farben, vor der Industrie- und Handelskammer München.
Gemeint war ein Europa unter deutscher Vorherrschaft. Mit Hitlers Machtergreifung wurden die Weichen für die praktische Umsetzung dieser Pläne gestellt. So begann sich der deutsche Kapitalismus mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935 und einem massiven Aufrüstungsprogramm 1936 auf die militärische Entscheidung des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfs vorzubereiten.
Der deutsche Militarismus nach dem 2. Weltkrieg
Der verlorene Zweite Weltkrieg stellte erneut einen schweren Rückschlag für den deutschen Imperialismus dar – doch bedeutete auch diese Niederlage keineswegs dessen Ende. Einer direkten Wiederaufnahme der militärischen Großmachtambitionen standen zunächst jedoch nicht nur die Siegermächte entgegen, sondern vor allem auch die Stimmung im Land. In den Nachkriegsjahren gab es in weiten Teilen der Bevölkerung eine deutliche Abneigung gegen eine »Remilitarisierung« – so der damals verwendete Ausdruck, im Gegensatz zu dem von Adenauer bevorzugten, neutraler klingenden Begriff »Wiederbewaffnung«.
»Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen«, verkündete der spätere Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß noch im Jahr 1947 mit biblischem Pathos. Kein Jahrzehnt später wurde von 63.000 jungen Männern des Geburtsjahrgangs 1937 auf staatliches Geheiß genau dies verlangt. Denn mit dem beginnenden Kalten Krieg bot sich für den deutschen Imperialismus nur wenige Jahre nach der vernichtenden Niederlage die Chance einer schrittweisen Rückeroberung seines Einflusses. Strauß wurde Bundesminister für Atomfragen und machte sich für die Aufrüstung Deutschlands zur Atommacht stark. Von seinen pazifistischen Parolen der unmittelbaren Nachkriegszeit wollte er nichts mehr wissen und predigte in seinen Bierzeltreden: »Wir können nicht auf die Dauer ein wirtschaftliche Riese und ein politischer Zwerg sein.« Dieser Satz sollte zum Mantra des neuen deutschen Militarismus werden, mit dem die Bevölkerung bis heute auf eine Rückkehr Deutschlands in den Kreis der militärischen Großmächte eingeschworen werden soll.
Stellvertreter-Imperialismus
Tatsächlich war nach 1945 das Auseinanderklaffen von ökonomischer und politischer Macht aus der Sicht der herrschenden Klasse bedenklich. Solange der Ost-West- Konflikt die Welt dominierte, konnte das westdeutsche Kapital zwar damit rechnen, dass die USA als »Weltpolizist« die deutschen Interessen mit vertreten würden. Aber diese Art von Stellvertreter-Imperialismus barg aus deutscher Sicht stets die Gefahr der Abhängigkeit und der Unterordnung unter US-amerikanische Interessen. Diese Situation war von Seiten des westdeutschen Kapitalismus niemals erwünscht, wurde aber als unausweichlich akzeptiert. Dennoch ist die Geschichte der sechziger und siebziger Jahre voller Konflikte und Spannungen zwischen den USA und der BRD. Um zu verhindern, dass sich neben der besonderen militärischen auch noch eine wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA entwickelte, suchten Bonner Regierungen das enge Bündnis mit Frankreich innerhalb der »Europäischen Gemeinschaft«.
Und auch von »militärischer Zurückhaltung« konnte keine Rede mehr sein. In den ersten zehn Jahren nach der Wiederbewaffnung stiegen die Ausgaben im Verteidigungshaushalt rasant. Bis Mitte der 1970er Jahre ging es etwas langsamer voran, danach setzte jedoch ein neuer Schub ein, wobei die Expansion des Budgets der Bundeswehr in all diesen Jahren weitgehend unabhängig davon erfolgte, welche Parteien die Regierung bildeten. Stellte die CSU mit Franz-Josef Strauß einen der energischsten Befürworter der Remilitarisierung, so fand er sein Pendant im SPD-Politiker Georg Leber, der in den 1970er Jahren eine systematische Runderneuerung der Bundeswehr betrieb und es damit fertig brachte, in der Epoche der »Entspannungspolitik« eine einzigartige Aufrüstungspolitik zu betreiben.
Die Wiedervereinigung und die Aufrüstung
Im Jahr der Wiedervereinigung 1990 machte der Verteidigungshaushalt stolze 20 Prozent des Bundeshaushalts aus – ein ähnlich hoher Anteil wie im Kaiserreich. Doch mit dem Zusammenbruch der DDR und des Ostblocks wandelte sich die Situation. Zum einen war der aufgeblähte Einzelhaushalt nicht mehr zu rechtfertigen und auch der Zwei-Plus-Vier-Vertrag sah eine erhebliche Verkleinerung der Bundeswehr auf 340.000 Soldaten vor, während die NVA weitgehend aufgelöst wurde. Zum anderen verloren die USA mit dem Ende des Kalten Kriegs und der deutschen Wiedervereinigung ihre unangefochtene politische Vorherrschaft in Europa.
Der wichtigste Beweis hierfür war die Art und Weise, wie die Kohl-Regierung die Wiedervereinigung betrieb – vorbei an den USA, Frankreich und Großbritannien in direkten, bilateralen Verhandlungen mit der Sowjetführung unter Michail Gorbatschow. Nicht umsonst wurden Stimmen laut, die eine politische Vormachtstellung des wiedervereinigten Deutschlands in Mittel- und Osteuropa befürchteten. Die Regierung Kohl gab sich betont zivil, von neuen, weltweiten Aufgaben der Bundeswehr war zunächst nicht die Rede. Doch das sollte sich schnell ändern.
Eine neue Doktrin für den Militarismus
Denn bereits mit dem »Neuen Strategischen Konzept« der Nato von 1991 setzte eine neue Doktrin im westlichen Militärbündnis ein. Anstelle der Bedrohung aus dem Osten sei nunmehr mit »vielgestaltigen« Risiken zu rechnen, die »aus allen Richtungen« kommen könnten – so etwa terroristische Attacken. Ausdrücklich genannt werden zudem »vitale Interessen« in Bezug auf ökonomischen Wohlstand und globale Rohstoffversorgung. Das »Verteidigungsbündnis« Nato nimmt seither für sich in Anspruch, »out of area«, also weltweit militärisch zu intervenieren. Mit der Beteiligung am Angriff der Nato auf die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 gab es den ersten Bundeswehreinsatz dieser Art.
»Neue Macht – Neue Verantwortung«
Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem bald darauf folgenden Krieg der US-geführten Koalition in Afghanistan unter deutscher Beteiligung ist von angeblicher »militärischer Zurückhaltung« Deutschlands nichts mehr zu spüren. Wenn die deutschen Eliten unter sich sind, reden sie Klartext. Ein Beispiel dafür ist das Papier »Neue Macht – Neue Verantwortung« der Stiftung Wissenschaft und Politik von 2013. Gleich zu Beginn stellen die Autor:innen klar, dass Deutschland »künftig öfter und entschiedener führen« müsse, um seine geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen weltweit zu verfolgen. Sie benennen deutsche Einflusszonen, die auch militärisch gesichert werden müssten: »Eine pragmatische deutsche Sicherheitspolitik« müsse sich »in erster Linie auf das zunehmend instabil werdende europäische Umfeld von Nordafrika über den Mittleren Osten bis Zentralasien konzentrieren«.
Das sind bis heute die Konturen des deutschen Imperialismus: Ausgehend von der wirtschaftlichen und politischen Dominanz in Europa werden weitere Regionen in den Fokus genommen. Von alleiniger Landesverteidigung spricht im Verteidigungsministerium längst niemand mehr. Auslandseinsätze wurden zum Kerngeschäft der Bundeswehr. Und auch die Aufrüstung bekam einen zunehmend offensiven Charakter, um dem Ziel des Umbaus der Bundeswehr hin zu einer global agierenden Kriegsarmee gerecht zu werden. Es geht darum, die Bundeswehr »kriegsbereit und siegesfähig« zu machen, wie es der Bundeswehr Generalleutnant Alfons Mais 2020 offen aussprach.
Scholz’ »Zeitenwende« und der Militarismus
Die Orientierung weg von der Landesverteidigung hin zum militärischen Interventionismus soll durch Scholz’ »Zeitenwende« keineswegs umgekehrt werden. Vielmehr geht es bei den nun geplanten Aufrüstungsmaßnahmen um eine Ergänzung dieses Kurses, um die Bundeswehr sowohl weltweit einsatzfähig zu machen, als auch für einen Landkrieg im Osten zu rüsten. So soll einerseits der Bestand an Kampf- und Transportpanzern aufgestockt werden, während gleichzeitig Projekte wie die Beschaffung verschiedener Militärsatelliten, israelischer Kampfdrohnen oder die Entwicklung der hochfliegenden Spionagedrohne Euro-Hawk die globalen Ambitionen der deutschen herrschenden Klasse widerspiegeln.
Mit aufgefüllten Waffenkammern, neuen Offensivwaffen, der jetzt einsetzenden Dämonisierung der Friedensbewegung und der Entfesselung des deutschen Militarismus sind neue Auslandseinsätze vorprogrammiert. Doch die Geschichte der Bundesrepublik durchzieht nicht nur der Wille der Herrschenden, nach zwei verlorenen Weltkriegen auch militärisch wieder in der Liga der Großmächte mitzuspielen, sondern auch der Widerstand von unten gegen den neuen Militarismus. Bereits die Wiederbewaffnung und die Pläne für eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr in den 1950er Jahren führten zu mehreren Protestwellen. Zu einer der zahlreichen Kundgebungen unter der Parole »Kampf dem Atomtod« versammelten sich vor dem Hamburger Rathaus mehr als 150.000 Menschen. Ende der 1960er Jahre beförderte die Studierendenbewegung und ihre scharfe Kritik am Vietnamkrieg auch Proteste gegen die massive Aufrüstung der Bundesrepublik und gegen zunehmende Rüstungsexporte. Seit Ende der 1970er Jahre führte die geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen zu neuen großen Friedenskundgebungen, darunter diejenige von 300.000 Menschen im Bonner Hofgarten im Oktober 1981. Zur letzten massenhaften Antikriegsbewegung kam im Vorfeld des Irakkriegs als in Berlin mehr als eine halbe Million Menschen auf die Straße gingen.
Militarismus und die Friedensbewegung
Seither hat die Friedensbewegung spürbar an Kraft verloren. Teile der Bewegung bleiben auch mehr als dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs im alten – und schon damals falschen – Lagerdenken verhaftet und sehen in Russland oder China Bündnispartner gegen den US-Imperialismus, die Nato und den deutschen Militarismus. Die Massenproteste zu Beginn des Ukrainekriegs nach dem russischen Angriff im Februar dieses Jahres waren hingegen zu großen Teilen geprägt von einer politisch und medial aufgeheizten Stimmung, der russischen Aggression auch militärisch entgegentreten zu müssen.
Es braucht eine breite Antikriegsbewegung
Die zwischenzeitlich große Zustimmung zum »Zeitenwende«-Kurs der Bundesregierung und ihren gigantischen Aufrüstungsplänen hat jedoch bereits zu bröckeln begonnen. Es ist die Aufgabe der LINKEN, nun alle Kraft in den Aufbau einer breiten Antikriegsbewegung zu stecken. DIE LINKE kann zum Sammelpunkt derjenigen werden, die das Aufrüstungspaket ablehnen und gegen eine drohende militärische Eskalation zwischen Nato und Russland aktiv werden wollen. Auch wenn die Bedingungen dafür nicht leicht sind. Je länger sich der mit Nato-Waffen befeuerte Krieg hinziehen wird und je klarer wird, wer die Rechnung für die gigantischen deutschen Rüstungsvorhaben bezahlen wird, umso mehr wird sich die »Kriegsmüdigkeit« einstellen, vor der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bereits gewarnt hat.
Aufstand gegen Aufrüstung
Und auch wenn die aufgepeitschte Kriegsstimmung und das vorherrschende Denken in militärischer Logik DIE LINKE vorerst in die Defensive gebracht haben, ist der Gedanke absurd, dass die einzige Partei im Bundestag, die die Rüstungspläne der Bundesregierung geschlossen ablehnt, gerade jetzt von ihren antimilitaristischen Positionen Abstand nehmen sollte. Im Gegenteil: Der Krieg in der Ukraine, das neues Wettrüsten und die gefährliche Ost-West-Konfrontation machen eine starke Stimme für Abrüstung und Frieden notwendiger denn je.