Antisemitismus ist auch 80 Jahre nach dem Holocaust eine Gefahr und muss bekämpft werden. Das Gros antisemitischer Äußerungen und Straftaten kommt von Rechts. Mit dem Erstarken der AfD haben antisemitische Verschwörungsmythen an Bedeutung gewonnen. Zugleich wird der Vorwurf des Antisemitismus genutzt, um Kritik an Israel zu delegitimieren.
Was ist Antisemitismus?
Antisemitismus ist eine Form von Rassismus. Er weist Menschen jüdischer Religion oder mit jüdischem Hintergrund fixe, überhistorische Charaktereigenschaften zu. Er definiert eine Gruppe von Menschen als Jüdinnen und Juden und weist dieser Gruppe eine Reihe von Eigenschaften zu. Diese Eigenschaften müssen nicht alle negativ sein. Entscheidend ist, dass die Mitglieder der Gruppe die Zuschreibungen nicht durch ihr Verhalten bestätigen müssen – und auch nicht widerlegen können. Die Zuschreibungen sind Vorurteile und somit gegenüber jeglicher rationaler Überprüfung oder Erfahrung immun. »Jüdisch« wird zu einer unveränderlichen Eigenschaft, wie die jüdische Soziologin Hannah Arendt in ihrem Buch »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« feststellte: »Aus dem Judentum konnte man entkommen, aus der Jüdischkeit nicht.«
Der moderne Antisemitismus prägte die wahnhafte Vorstellung von den Juden als einer biologisch »minderwertigen Rasse«, die sich global verschworen hätte, andere Völker als Minderheiten zu unterwandern, um sie dann »aussaugen« zu können. Der deutsche Historiker Heinrich von Treitschke prägte 1879 den Bannstrahl: »Die Juden sind unser Unglück«. Der Antisemitismus Treitschkes nährte sich aus Legenden wie der einer jüdischen Weltverschwörung, die letztlich zum »Sieg des Judenthums über das Germanenthum« führe (Titel des 1879 erschienenen Buches von W. Marr). Dazu gehört die Vorstellung, dass das »jüdische Finanzkapital« verantwortlich für alle Kriege und Wirtschaftskrisen sei. Aber auch die russische Revolution von 1905 und der Bolschewismus werden als Teile einer »jüdischen Weltverschwörung« interpretiert. Wie bei anderen Formen des Rassismus auch, spielt es keine Rolle, ob die Konstruktion der Gruppe biologisch oder kulturell begründet wird. Letzteres ist in den vergangenen Jahrzehnten in Mode gekommen, da biologischer Rassismus in Folge der »Rassenlehre« der Nazis in Verruf gekommen war. In jeder Form des Rassismus gibt es ein willkürliches Kriterium, anhand dessen die Gruppe abwertend definiert wird.
Beim Antisemitismus ist es zunächst die Religion. Doch für Antisemiten spielt es keine Rolle, ob jemand tatsächlich religiös ist. Die Religion wird biologisiert. Der moderne Antisemitismus gipfelte im Terror der Nazis und der Shoah, dem Holocaust: Über sechs Millionen Jüdinnen und Juden haben die Nazis zwischen 1938 und 1945 ermordet. Sie haben die technischen Möglichkeiten eines modernen kapitalistischen Staates, seiner Verkehrsnetze, seiner Verwaltungsapparate und auch seiner Tötungstechniken benutzt, um die europäischen Juden systematisch zu vernichten.
Wann ist der Antisemitismus entstanden?
Der Antisemitismus ist ein relativ modernes Phänomen, das sich mit der Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, dem Kolonialismus und dem Aufkommen anderer Formen des Rassismus erst in der frühen Neuzeit entwickelte. Der Antisemitismus ist ein Produkt der europäischen Geschichte. In vielen europäischen Ländern wurde der Antisemitismus dann im 19. Jahrhundert von den herrschenden Eliten als Reaktion auf die Entstehung der revolutionären Arbeiterbewegung geschürt. Diskriminierung, organisierte Übergriffe und Pogrome waren beispielsweise im zaristischen Russland an der Tagesordnung. Der russische Geheimdienst produzierte nach der Revolution von 1905 die antisemitische Schrift »Protokolle der Weisen von Zion«. Die Schrift wurde zur »Bibel« des exterminatorischen Antisemitismus der Nazis und wird trotz dessen auch heute noch weit verbreitet. Es entstanden antisemitische politische Massenbewegungen in weiten Teilen Europas. In Russland organisierte der Adel mit dem Zaren die Schwarzhundertschaften, die in Pogromen bis 1917 Tausende Jüdinnen und Juden ermordeten. In Deutschland formierte sich seit Mitte der 1870er Jahre ein politischer Antisemitismus. Hier machten deutschnationale Gruppen die Bekämpfung, Isolierung, Vertreibung und schließlich die Vernichtung alles »Jüdischen« zu ihrem Programm. Die Stuttgarter antijüdischen Krawalle im Jahr 1873 waren der Startpunkt einer sich langsam formierenden und dann gegen Ende des Jahrzehnts rasch ansteigenden ersten Welle des modernen Antisemitismus in Deutschland. Dieser Aufstieg fiel nicht nur zusammen mit dem »Gründerkrach« von 1873 und der darauffolgenden zwanzigjährigen großen Depression, sondern auch mit dem Entstehen und Wachstum der Arbeiterbewegung, in der sich auch viele Jüdinnen und Juden engagierten. Das Erstarken des Antisemitismus erfolgte mit stillschweigender Tolerierung durch den deutschen Kaiser und die protestantische Staatskirche mit dem Ziel, die Ausbreitung des Atheismus durch den Marxismus zu stoppen.
Was ist der Unterschied zwischen Antisemitismus und Antijudaismus?
Schon vor der Entstehung des modernen Antisemitismus im 19. Jahrhundert wurden Jüdinnen und Juden in Europa diskriminiert, verfolgt und ermordet. Im Unterschied zum modernen Antisemitismus war dieser christliche Antijudaismus religiös und nicht »rassistisch« begründet. Mithilfe von Aberglaube und religiösen Vorurteilen wie der Behauptung, die »Juden« würden »Brunnen vergiften«, »rituelle Kindsmorde« begehen und hätten »Jesus verraten«, wurden Menschen jüdischen Glaubens zu Sündenböcken gemacht.
Aber ein Jude galt nicht durch seine Geburt als minderwertig. Es war seine Religion, die ihn zum Außenseiter machte. So konnten Menschen jüdischen Glaubens durch Übertritt zum Christentum der Diskriminierung entgehen. Erst im 19. Jahrhundert hatten die Rassentheorien Hochkonjunktur, im Wesentlichen, um den Kolonialismus und die Sklaverei zu rechtfertigen und die Arbeiterbewegung zu spalten. Dass Jüdinnen und Juden nicht mehr nur als religiöse Außenseiter, sondern als Mitglieder einer zugleich biologisch »minderwertigen« wie »bedrohlichen Rasse« gesehen wurden, die sich gegen alle anderen verschworen hätte, ist der entscheidende Unterschied zwischen Antijudaismus und dem modernen Antisemitismus.
Die Übergänge vom religiös motivierten Antijudaismus zum modernen Rassenantisemitismus erfolgten nicht plötzlich, sondern allmählich, über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Die Grundlage wurde bereits in der spanischen Inquisition gelegt, die der christlichen Eroberung Andalusiens folgte und eine Brückenfunktion zwischen dem religiösen Antijudaismus und dem rassistischen Antisemitismus der Neuzeit bildete. Während der Antijudaismus nur ein Teil des christlichen Weltbildes war, funktioniert der moderne Antisemitismus als ein umfassendes Weltbild. Den bewussten Übergang vom christlichen Antijudaismus zu einem modernen rassistischen Antisemitismus vollzog der erste politische Führer der antisemitischen Bewegung Österreichs, Georg von Schönerer, 1884 mit der agitatorischen Parole: »Ob Jud, ob Christ ist einerlei – in der Rasse liegt die Schweinerei.«
Der moderne Antisemitismus unterscheidet sich also von »traditionellen« Formen des Judenhasses oder des christlichen Antijudaismus des späten Mittelalters durch seine biologistisch-rassistische Begründung, in der religiöse und kulturelle Vorurteile gegen Juden aus der Zeit des Spätfeudalismus wiederbelebt und rassenbiologisch neu begründet wurden.
Ist Kritik an Israel antisemitisch?
Eine Kritik an der Politik des Staates Israel ist nicht per se antisemitisch. Aber es gibt auch eine rassistische, antisemitische Kritik an Israel. Wer Kritik an Israel mit verallgemeinernden Aussagen über Jüdinnen und Juden vermischt, bedient antisemitische Vorurteile. Kritik an Israel ist antisemitisch, wenn der Eindruck erweckt wird, »die Juden« als »Volkseinheit« wären verantwortlich für die Politik einer staatlichen Gewalt. Die zionistische Bewegung ist nicht identisch mit der israelisch-jüdischen Bevölkerung. Nicht »die Juden« entrechten die Palästinenser, sondern der zionistische israelische Staat und seine Unterstützerinnen und Unterstützer.
Der israelische Sozialist Michel Warschawski bringt den Unterschied zwischen Antisemitismus und Antizionismus so auf den Punkt: »Wie jeder andere Rassismus negiert der Antisemitismus (oder die Judenfeindlichkeit) den Anderen in seiner Identität und in seiner Existenz. Der Jude ist, egal was er tut, egal was er denkt, Hassobjekt bis hin zur Ausrottung, nur weil er Jude ist. Der Antizionismus hingegen ist eine politische Kritik an einer politischen Ideologie und Bewegung; er greift nicht eine Menschengruppe an, sondern stellt eine bestimmte Politik in Frage.« Es leben heute über eine Million Araber auf israelischem Staatsgebiet. In den besetzten Gebieten Ostjerusalems und im Westjordanland leben heute hunderttausende Juden. Eine linke, antizionistische und sozialistische Kritik sollte betonen, dass alle Menschen dort bleiben könnten, wo sie heute leben – vorausgesetzt, es gibt einen wirklichen Neuanfang auf der Basis realer Gleichberechtigung von Juden und Arabern. Dies schließt das Rückkehrrecht der vertriebenen Palästinenser mit ein und setzt einen Bruch mit der Politik der Kolonisierung des Landes durch den israelischen Staat voraus. Es schließt zugleich das Recht der jüdischen Bevölkerung ein, im historischen Gebiet Palästinas zu leben.
Eine wirkliche Lösung des Konfliktes kann es nur dann geben, wenn das Ursprungsproblem beseitigt wird: die ethnische Teilung Palästinas. Dies ist möglich, wenn ein gemeinsamer, weltlicher und demokratischer Staat geschaffen wird, in dem Juden, Muslime und Christen mit gleichen Rechten zusammenleben können. In der jüdischen Gemeinde gab es immer schon eine antizionistische Strömung. Ein prominenter Vertreter ist der Literaturwissenschaftler Noam Chomsky. In einem Appell, den er zusammen mit 33 weiteren jüdischen Intellektuellen verfasste, steht: »Wir dürfen unsere palästinensischen Schwestern und Brüder nicht zu einem Schicksal verdammen, ähnlich wie das, wogegen unsere Vorväter zu Recht kämpften. Wir Juden müssen ein Ende des Kriegs gegen die Palästinenser und der israelischen Besetzung vom Westjordanland und Gaza, das Recht auf palästinensische Selbstbestimmung und den Abbau der israelischen Apartheid fordern. Es ist nicht in unserem Interesse, dass wir die Zustände, die Widerstand und Blutvergießen andauernd reproduzieren, verstärken. Solidarität mit den Palästinensern ist in Wirklichkeit Solidarität mit den Juden.«
Was ist die wirkliche Triebfeder des Antisemitismus in Deutschland heute?
Die hohe Anzahl antisemitischer Straftaten und Angriffe auf Menschen jüdischen Glaubens oder Abstammung in Deutschland steht auch in Verbindung mit dem Aufstieg der AfD und der von ihr verbreiteten allgemeinen Hetze gegen Andersgläubige, Menschen dunkler Hautfarbe, Migranten und Geflüchtete. Die Triebfeder dieses neuen Rassismus in allen seinen Unterarten ist die Wiedererweckung eines völkisch gefärbten Nationalismus durch die AfD. Der historische völkische Nationalismus in Deutschland kennzeichnete einen aggressiven, imperialistischen Herrschaftsanspruch nach außen und einen biologisch und kulturell homogenen Volkskörper nach innen. Er richtete sich – vor dem Ersten Weltkrieg – gegen Chinesen, Slawen, Afrikaner, aber auch gegen Engländer und Franzosen. Er gipfelte in der von Kaiser Wilhelm II 1907 in einer Rede gebrauchten Formel »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.« Seit den 1880er Jahren kam es zu einer Berührung und Überschneidung von einem nach innen gewandten Antisemitismus und völkisch-nationalen Anschauungen. Aber erst mit dem vorläufigen Ende deutscher Weltherrschaftspläne mit der Niederlage von 1918 erfolgte die Verschmelzung von völkischem Nationalismus und Antisemitismus zu jener präfaschistischen Weltanschauung, an die Hitler und seine faschistische Bewegung dann bruchlos anknüpfen konnten.
Die AfD versucht den alten völkischen Nationalismus wiederzubeleben. Dabei legt sie einen Schwerpunkt auf einen Aspekt, nämlich den nach innen gerichteten Kampf, um die Wiederherstellung eines ethnisch einheitlichen Volkskörpers. So beleidigte beispielsweise der AfD-Vorsitzende von Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, Menschen mit türkischen Wurzeln als »Kümmelhändler« und »vaterlandsloses Gesindel« und fügte hinzu: »Diese Kameltreiber sollen sich dorthin scheren, wo sie hingehören, weit, weit, weit, hinter den Bosporus, zu ihren Lehmhütten und Vielweibern. Hier haben sie nichts zu suchen und zu melden.«
Aber auch der Herrschaftsanspruch nach außen kommt langsam ans Licht. Der Thüringer AfD-Chef, Björn Höcke, erklärte im Februar 2018: »Wir werden die Macht bekommen – und dann werden wir das durchsetzen, was notwendig ist, damit wir auch in Zukunft noch unser freies Leben leben können. Dann werden wir nämlich die Direktive ausgeben, dass am Bosporus mit den drei großen M – Mohammed, Muezzin und Minarett – Schluss ist.«
Der völkische Nationalismus stellt die Hierarchisierung von Nationen und »Völkern« her, indem das eigene »Volk« als besonders wertvoll dargestellt wird (»Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein«). Die Überhöhung des eigenen »Volks« trägt in sich den Keim der Exklusivität (»Deutschland den Deutschen«) und der Erniedrigung anderer Ethnien und religiöser Minderheiten. In seiner 1933 erschienen Schrift »Porträt des Nationalsozialismus« schreibt der russische Marxist Leo Trotzki: »Um die Nation über die Geschichte zu erheben, gab man ihr als Stütze die Rasse. (…) Auf der Ebene der Politik ist der Rassismus eine aufgeblasene und prahlerische Abart des Chauvinismus, gepaart mit Schädelmessungen. (…) (Man) besäuft sich an den Vorzügen der eigenen Rasse.«
Die Folge einer solchen Politik: Alle Menschengruppen, die nicht der völkisch-rassistisch angepriesenen eigenen Nation angehören, müssen ausgegrenzt, vertrieben und – wenn »nötig« – vernichtet werden. Zurzeit hat in der AfD der Kampf gegen den »Islam« Vorrang. Doch Vertreter des neofaschistischen Flügels, wie Björn Höcke, machen keinen Hehl daraus, dass sie nicht nur Muslime meinen. Im Rahmen einer Kampagne gegen den Bau einer Moschee in Erfurt erklärte er: »Wenn orthodoxe Juden zu Tausenden einwanderten, hätten wir das Problem auch.«
Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen beschreibt diese Gefahr. Er meint: »Die AfD tritt manchmal mit der Idee an uns heran, dass wir uns doch mit ihnen gegen islamischen Antisemitismus wenden sollten. Aber ich habe mir deren Veranstaltungen angeschaut: Diese Leute hassen heute die Muslime, und morgen hassen sie uns«.
Welches Verhältnis hat die neue Rechte zum Antisemitismus?
Die neue Rechte hat ein taktisches Verhältnis zum Antisemitismus. Sie hofft so, aus dem Schatten des Holocaust heraus zu treten. Das ist nicht neu. Schon in den 1980er-Jahren umwarb der Gründer des faschistischen Front National in Frankreich, Jean-Marie Le Pen, jüdische Gemeinden und versuchte, bei ihnen mit pro-israelischen Stellungnahmen zu punkten. Das hielt ihn nicht davon ab, den Holocaust in einem Interview als eine »Fußnote der Geschichte« des Zweiten Weltkriegs zu bezeichnen und Platten mit Liedern der Waffen-SS zu vertreiben. Diese Taktik von Le Pen hat wieder Konjunktur. Inzwischen gehört die Freundschaft zu Israel und zum Zionismus zum Alltagsrepertoire der Führerinnen und Führer der radikalen Rechten in Europa. Heinz-Christian Strache (FPÖ), Marine Le Pen (FN) oder Geert Wilders (Freiheitliche/Niederlande) sind inzwischen alle in Israel gewesen. Auch Vertreterinnen und Vertreter der AfD äußern sich immer wieder gegen Antisemitismus, zuletzt im Januar 2018 anlässlich der Bundestagsdebatte zu dem Thema. Auch die AfD verknüpft das mit Freundschaftsbekundungen für Israel. Gleichzeitig ist der Antisemitismus längst fester Bestandteil der Partei, nämlich in Gestalt ihres faschistischen »Flügels«. So wurden weder Björn Höcke (»Denkmal der Schande«) noch Wolfgang Gedeon (»Die Protokolle der Weisen von Zion sind hochwertig, ja genial«) aus der Partei ausgeschlossen. Diese beiden »Fälle« sind kein Betriebsunfall. Sie sind nur die Spitze des Eisbergs. Der Sozialwissenschaftler Jan Riebe spricht in Bezug auf die AfD von einer Doppelstrategie: »Die Partei spielt sich als Vorkämpfer gegen Antisemitismus auf, wenn dieser von Muslimen kommt – in den eigenen Reihen unternimmt man dagegen nur wenig.«
Zugleich hat der Antisemitismus eine weitere, gar wichtigere Funktion für die deutsche Rechte. Die Konstruktion einer jüdischen Weltverschwörung erklärt in ihrer Ideologie die angebliche Fremdbestimmung Deutschlands und verbindet antikapitalistisch angehauchte Elitenkritik mit dem »berechtigten« Nationalismus »stolzer Deutscher«. Wo immer der Faschismus in Deutschland auftritt, wird er früher oder später mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert. Seine geistigen und politischen Führerinnen und Führer können nicht anders, als den Antisemitismus und den Holocaust zu relativieren oder ganz zu leugnen, mit dem Ziel den Faschismus zu legitimieren. Darunter fallen Forderungen nach Abschaffung der Stolpersteinverlegung oder Attacken auf die Erinnerungskultur. Jüngst forderte AfD-Chef Alexander Gauland: »Wer Geschichte säubert, zerstört unsere Identität. (…) Wenn die Franzosen zurecht stolz auf ihren Kaiser sind und die Briten auf Nelson und Churchill, haben wir das Recht, stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen.« So erweisen sich die Attacken der AfD auf die Erinnerungskultur als eine wichtige Triebfeder des Wiederentstehens antisemitischer Vorurteile.
Wie wirkt sich der Rechtsruck in Deutschland mit der AfD an der Spitze auf den Antisemitismus aus?
AfD-Fraktionschefin Alice Weidel behauptet, die AfD sei die »einzige Schutzmacht für jüdisches Leben« in Deutschland. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die AfD droht zu einer neuen faschistischen Massenpartei zu werden. Damit steigt auch die Gefahr des Antisemitismus. Zwar setzt die AfD zurzeit ihren Schwerpunkt auf den Kampf gegen den »Islam«. Doch in der Partei wirken immer mehr Kader der radikalen Rechten, die keinerlei Berührungsängste mit dem Nationalsozialismus haben und aus ihrem Antisemitismus keinen Hehl machen. Sie haben eine wohlkalkulierte Strategie: Die Fokussierung auf das Thema »Islam« dient als Türöffner auch für ihren Antisemitismus.
Weil für viele Gläubige im Islam, genauso wie im Judentum, eine an Handlungen ausgerichtete Religionspraxis wesentlich ist – wie das Einhalten von Speisegeboten, das ritualisierte Gebet oder auch eine bestimmte Form der Kleidung – treffen manche AfD-Attacken auf das »islamische Leben« auch das »jüdische Leben« in Deutschland. Ein Beispiel dafür war die Debatte um das Verbot von Beschneidung von Jungen, welches auch von der AfD gefordert wird.
Ein weiteres Beispiel sind die Angriffe der AfD auf die Regelungen zur Schächtung. Schächten ist in Deutschland seit 1933 verboten. Es gibt heute jedoch Ausnahmeregelungen für Juden und Muslime. Die AfD will diese Ausnahmen aufheben. Die Partei schreibt: »Die AfD lehnt das qualvolle betäubungslose Schächten von Tieren als unvereinbar mit dem Staatsziel Tierschutz ab.« Die AfD sucht sich gezielt einen einzelnen Aspekt der Schlachtindustrie heraus, weil sie damit antimuslimischen Rassismus und Antisemitismus stärken kann. Es ist ein Mythos, dass andere Schlachtmethoden weniger Schmerzen und Angstzustände für die Tiere bedeuten. Für die meisten islamischen und jüdischen Gemeinden in Deutschland ist die betäubungslose Schächtung wesentlicher Bestandteil ihrer Religionsausübung. Von daher sind die Ausnahmeregelungen für jüdische und muslimische Schlachter zu verteidigen.
Im Übrigen erinnert die Forderung nach einem kompletten Schächtverbot an das Vorgehen der NSDAP, die den Tierschutz für ihre antisemitischen Ziele missbrauchte. So verboten die Nazis 1933 das Schächten und bestraften es mit Gefängnis – später auch mit Haft im Konzentrationslager. Dass es hier nicht um Tierschutz, sondern um Hass gegen eine religiöse Minderheit ging, zeigt die Tatsache, dass die Nazis das Schächtungsverbot für muslimische Soldaten und Truppenverbände, die in der Wehrmacht kämpften, aufhoben.
Sollte der Rechtsruck und der Aufstieg der AfD weitergehen, besteht auch die Gefahr, dass der Antisemitismus wieder ansteigt. Wie die Beispiele zur Beschneidung und zum Schächten zeigen, ist die Partei eine reale Bedrohung – auch für das »jüdische Leben« in Deutschland.
Foto: Jim Forest on Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)