Werbeartikel des Europaparlaments

Europawahl: Krisenpolitik stärkt Nazis 

Die Europawahl zeigt eine wachsende Entfremdung zwischen Bevölkerung und etablierten Parteien. Davon profitieren vor allem Nazis – die Linke muss jetzt die Zeichen der Zeit erkennen. Ein Kommentar von Christine Buchholz

Am 9. Juni 2024 fand die Wahl zum 10. Europäischen Parlament statt. In der Vergangenheit hatten diese „Europawahlen“ – tatsächlich nimmt nicht ganz Europa an dieser Wahl teil – eine geringere Bedeutung als die nationalen Wahlen. 

Diesmal kam der Europawahl jedoch wegen der internationalen Krisen, dem anhaltenden Krieg um die Ukraine, dem Genozid in Gaza, sowie dem Erstarken rechter Parteien eine größere Bedeutung zu. Sie hat die Entfremdung eines großen Teils der Bevölkerung von den etablierten Parteien sichtbar gemacht.

Die „Mitte“ macht die Nazis stark

Empörung und Angst angesichts des Erstarkens von Rechtspopulisten und Faschisten sind berechtigt. Deswegen mobilisieren wir in breiten und entschlossenen Bündnissen gegen die AfD und andere Faschisten. Wenn wir gegen die Rechten antreten, dürfen wir jedoch nicht vergessen: Die Asylverschärfungen in Europa (Gemeinsames Europäisches Asylsystem, GEAS), die Sündenbock-Hetze gegen Migrant*innen, die Angriffe auf die Palästina-Solidarität und die Debatten um schnellere Abschiebung von Straftätern nach dem Messerangriff von Mannheim zeigen, wie die politische „Mitte“ rassistische Stimmungen anfacht.

Diese „bürgerliche Mitte“, ihre Parteien CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP sowie ihre Medien tragen wesentlich die Verantwortung für den Erfolg der Rechten. Aber auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat mit rassistischen und islamfeindlichen Ressentiments gespielt und eine Verschärfung der Asylpolitik gefordert. Damit hat sie das Ausgreifen rassistischer Haltungen befördert, statt sie zurückzudrängen.

Die Ergebnisse der Europawahl

Die folgende Tabelle zeigt die Anzahl der Sitze, auch als Anteil in Prozent, der verschiedenen Fraktionen im EU-Parlament für die Wahlen von 2019 und 2024. Die Parteien in den jeweiligen Staaten sind in der Regel Teil einer dieser Fraktionen (Die Linke ist zum Beispiel in der Fraktion „Die Linke – GUE/NGL“.)

Rechtes ParteienspektrumFraktion Sitze 2019  Sitze 2024 
EVPEuropäische Volkspartei (Christdemokraten)17625,0%18625,8%
EKREuropäische Konservative und Reformer699,8%7310,1%
RenewRenew Europe (FDP und ähnliche)10214,5%7911,0%
IDIdentität und Demokratie (extreme Rechte)497,0%588,1%
AfDAlternative für Deutschland152,1%
Summe rechtes Spektrum  39656,2% 41157,1%
   
Linkes Parteienspektrum  
S&DProgressive Allianz der Sozialdemokraten13919,7%13518,8%
Grüne/EFADie Grünen/Europäische Freie Allianz7110,1%537,4%
LinkeDie Linke – GUE/NGL375,2%425,8%
BSWBündnis Sahra Wagenknecht60,8%
Summe linkes Spektrum 24735,0% 23632,8%
Fraktionslose und Neue 628,8% 7310,1%
Summe 705100,0% 720100,0%

Hinter diesen Zahlen verbirgt sich, dass in einigen Ländern extrem rechte und faschistische Parteien am stärksten abschnitten. So wurde in Frankreich die Partei des Rassemblement National (Nationaler Zusammenschluss), der Marine Le Pen bis 2022 vorsaß, stärkste Kraft. In Italien gewannen die Fratelli d’Italia mit Georgia Meloni, in Österreich die FPÖ mit Herbert Kickl und in den Niederlanden die Partij voor de Vrijheid (PVV) mit Geert Wilders. Diese Parteien gehören zur ID-Fraktion, die Fratelli d’Italia zur EKR.

Sozialdemokraten

In einigen Ländern waren sozialdemokratische Parteien die stärkste Kraft, so in Dänemark, Schweden und in Rumänien, in Portugal und Spanien jeweils der Partido Socialista.

In Ungarn blieb die als EU-kritisch geltende Regierungspartei Fidesz mit Viktor Orbán mit 44,6 Prozent der Stimmen weiterhin stärkste politische Kraft. Doch die neue EU-freundlichere Partei Respekt und Freiheit (Tisza) mit Péter Magyar holte aus dem Stand 29,7 Prozent.

Frankreich

Frankreich ist nach Deutschland die zweitgrößte Volkswirtschaft in der EU. Dort holte der RN 32 Prozent der Stimmen. Das sind doppelt so viele wie Präsident Emmanuel Macron, der deshalb für Ende Juni / Anfang Juli Neuwahlen zum Parlament anberaumt hat. Ein riskantes Manöver, der RN könnte die stärkste Fraktion werden und den Ministerpräsidenten stellen.

Ein Rechtsruck in Deutschland

In Deutschland ist die Wahlbeteiligung gestiegen. Sie betrug 64,8 Prozent, nach 61,4 Prozent im Jahr 2019.

In Deutschland behauptete der konservativ-liberale Teil des politischen Spektrums (CDU/CSU und FDP) mit insgesamt etwa 35 Prozent seine Stellung als relativ stärkste politische Kraft. Die SPD verlor, ausgehend von einem historisch niedrigen Wahlergebnis 2019, nochmals etwa 2 Prozent und erreichte 13,9 Prozent. Die Grünen, die im Jahr 2019, als die Wahlen von großen Demonstrationen für den Klimaschutz begleitet wurden, ihr Ergebnis verdoppeln konnten, verloren stark und sind mit 11,9 Prozent knapp über ihrem Stimmenanteil von 2014.

Die AfD steigerte ihren Stimmenanteil von 11,0 Prozent auf 15,9 Prozent und feierte sich als Wahlsieger. Es ist allerdings wichtig zu sehen, dass die AfD im Vergleich zu den Umfragewerten im Dezember 2023, als sie in Umfragen etwa 23 Prozent erreicht hatte, deutlich verlor. Die großen Demonstrationen gegen die AfD zu Beginn des Jahres haben ebenso dazu beigetragen wie die Skandale, in die die Spitzenkandidaten der AfD, Krah und Bystrom, verwickelt sind.

Europawahl bringt BSW ins EU-Parlament

Gemessen an der hinzugewonnenen Zahl der Sitze im EU-Parlament war in Deutschland das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) am erfolgreichsten. Das BSW zog mit 6 Sitzen in das Parlament ein. Die Freien Wähler gewannen einen Sitz, und die Partei des Fortschritts und Volt, beide EU-freundlich, gewannen jeweils einen bzw. zwei Sitze hinzu.

Parteien, die mit Positionen links von der Partei Die Linke geworben haben, darunter MERA25, DKP, MLPD und SGP, konnten nicht hinzugewinnen. MERA25 konnte in Berlin 1,4 Prozent der Stimmen gewinnen, blieb aber in vielen anderen Orten, ebenso wie die anderen Parteien, unter 0,5 Prozent.

Die Linke wird schwächer

Im Bundesgebiet insgesamt halbierte sich Die Linke von 5,5 auf 2,7 Prozent. In Ostdeutschland haben 5 Prozent die Linke gewählt, in Westdeutschland 2 Prozent.

Die Linke konnte nur an einzelnen Orten hinzugewinnen. In Mainz, dem Wohnort des Arztes und Aktivisten Gerhard Trabert, der auf Platz 4 der Liste kandidierte, gewann sie 500 Stimmen hinzu. Dort liegt sie bei 5000 Stimmen oder 4,8 Prozent der Wählerstimmen. In Freiburg gewann die Linke 150 Stimmen hinzu und landete bei 6,2 Prozent. 

In ostdeutschen Kreisen ist die Linke gegenüber 2019 am stärksten eingebrochen. Tendenziell verlor sie vor allem prozentual in den Wahlkreisen, wo sie 2019 noch hohe Werte erzielte. Sie erreichte in Leipzig 10,5 Prozent, in Jena 9,9 Prozent und in Chemnitz 5,4 Prozent.

Kriegstreiberei zahlt sich nicht aus

Die Grünen haben versucht, ihre Klimapolitik auf Kosten der Masse der Bevölkerung durchzusetzen, die ohnehin schon unter der Inflation leidet. Dazu kommt die Unterstützung der Grünen für die militärische „Zeitenwende“.

In der Kriegsfrage verfolgte die SPD einen Zickzackkurs. Einerseits die „Zeitenwende“, ein neues Budget für die Bundeswehr und die Erlaubnis für die Ukraine, Ziele in Russland zu beschießen, andererseits Plakate für Frieden. 

Dass die FDP etwas verlor, ist bemerkenswert, weil ihre Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sich besonders scharf für Kriegsausweitung hervorgetan hatte.

AfD stark in der Arbeiterschaft

Der Erfolg der AfD ist angesichts ihres immer offener zu Tage tretenden faschistischen Kerns und der Skandale um die beiden Spitzenkandidaten Krah und Bystron schockierend. Allerdings ist zur Kenntnis zu nehmen, dass die AfD sich – wie unglaubwürdig auch immer – für Frieden und gegen Krieg positioniert hat.

Besorgniserregend sind die 18,5 Prozent, die die AfD bei Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern erhielt. Damit erhielt sie mehr Stimmen als die SPD. Das BSW schnitt bei Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern hingegen unterdurchschnittlich ab, obwohl Sahra Wagenknecht Arbeiterinnen und Arbeiter als Zielgruppe ausgab.

Enttäuschte Jugend

Die Stimmanteile bei 16-24Jährigen im Vergleich zu 2019 gingen bei Die Linke um 2 Prozentpunkte zurück auf jetzt 6 Prozent. Die Linke erzielte bei den Jugendlichen also mehr als bei der Bevölkerung insgesamt, wo sie knapp 3 Prozent erzielte. Sie liegt bei den 16-24Jährigen mit dem BSW gleichauf. 

Die Grünen werden nur noch von 11 Prozent der Jugendlichen (alle Wähler 12 Prozent) gewählt. 2019 waren es noch 34 Prozent. Hier dürfte die Enttäuschung über den Verrat an der Klimawende eine Rolle gespielt haben.

Die AfD wurde von 16 Prozent der Jugendlichen gewählt, das entspricht dem Gesamtergebnis. Die AfD konnte aber ihr Ergebnis bei den Jugendlichen um 11 Prozentpunkte gegenüber 2019 verbessern.

Die Linke und das BSW

Das BSW erzielte 2,5 Millionen Stimmen, die Linke verlor 0,9 Millionen Stimmen. 

Betrachtet man allerdings die einzelnen Wahlkreise, dann fällt ein statistischer Zusammenhang auf: Je höher das Ergebnis des BSW in einem Wahlkreis, desto größer der Rückgang in Prozentpunkten von Die Linke. 

Die Linke fokussierte ihren Wahlkampf auf Sozialpolitik und soziale Gerechtigkeit. Seit Beginn des Krieges drückt sie sich in der Öffentlichkeit um eine offensive Haltung gegen Waffenlieferungen und die Eskalationspolitik der NATO herum. Auch auf den Krieg in Gaza reagierte sie abwiegelnd und defensiv. Meist stellten sich Parteivorstand und Gliederungen der Linken nicht solidarisch an die Seite der angegriffenen und diffamierten Solidaritätsbewegung mit Palästina.

Das BSW dagegen punktete mit einer klaren Haltung gegen den Krieg und war mit sozialpolitischen Themen präsent. Kritikwürdig ist, dass diese in den Rahmen eines nationalen Interesses gestellt und aus einer Perspektive der Klassenversöhnung formuliert wurden.

Es ist ein offensichtlicher Unterschied, dass die Linke die wachsende Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung nicht adressiert. Ebensowenig hat sie einen oppositionellen Gegenpol zur herrschenden Politik dargestellt.

Mehr Systemkritik wagen

Die Herausforderungen für den deutschen Kapitalismus sind groß. Billige Energie aus Russland fällt weg. Die Konkurrenz mit China und den USA verschärft sich. Angesichts der Aufrüstung im Rahmen der Zeitenwende sind starke Angriffe auf den Sozialstaat zu erwarten.

Die gesellschaftliche Linke muss den Widerstand gegen diese Angriffe organisieren. Sie muss aktiver werden gegen Aufrüstung und die Unterstützung der Kriege in der Ukraine und in Gaza sowie gegen die Gefahr des Faschismus.

Die Partei Die Linke wird tiefer in die Krise geraten, wenn sie weiterhin keine klare antikapitalistische Haltung einnimmt, und stattdessen Werbung für kluge Konzepte ohne Umsetzungsperspektive macht. Sie muss endlich die Ampel-Regierung wegen der massiven Aufrüstung, der Waffenlieferungen an die Ukraine, der Unterstützung des Genozids in Gaza, dem Versagen in der Klimapolitik und den drohenden Sozialkürzungen offensiv angreifen.

Das heißt, mit klaren oppositionellen Positionen und Botschaften eine gesellschaftliche Bewegung aufbauen und Gegenöffentlichkeit schaffen. Die Linke darf dabei keine Rücksicht auf die Frage nehmen, ob die Forderungen, die sie im Rahmen einer solchen Bewegung vertritt, mit einer Regierungsbeteiligung vereinbar sind.

Ohne die Orientierung auf eine solche Bewegung und Gegenöffentlichkeit bleibt die Partei in dem erfolglosen Versuch, es allen recht zu machen und bei den Medien nicht anzuecken, gefangen.


Titelbild: wikimedia fabian.aichwald File:Europaparlament Werbeartikel.jpg