Erklärung der International Socialist Tendency vom Dienstag, den 31. Oktober 2023 zur Lage in Palästina/Israel
1. Der Angriff der Hamas und anderer Widerstandsorganisationen am 7. Oktober waren ein
warnendes Zeichen dafür, dass es im Nahen Osten ohne die Lösung der Palästinafrage keinen
Frieden geben wird. Die Reaktion des Staats Israel und seiner westlichen Verbündeten mit den USA
an der Spitze besteht stattdessen darin, einen neuen imperialistischen Krieg zu entfesseln. Bereits
der Angriff der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) auf Gaza hat Tausende zivile Todesopfer
gefordert, das Alltagsleben schwer beeinträchtigt oder die Lebensgrundlagen der Bevölkerung
gleich ganz zerstört.
2. Viel zu viele liberale und reformistische Linke sind ihren Regierungen bei der Verurteilung der
Hamas und der Bestätigung des Rechts Israels auf Selbstverteidigung gefolgt. Die Flut von
Medienberichten über Gräueltaten hat den Blick auf die tatsächlichen Ereignisse des 7. Oktobers
verstellt. Wenn es aber zu einem Zusammenstoß zwischen Unterdrücker und Unterdrückten kommt, kann es keine Neutralität oder Gleichsetzung geben. Wir unterstützen das Recht auf
Selbstbestimmung der palästinensischen Bevölkerung und ihr Recht, den bewaffneten Kampf gegen den israelischen Siedler- und Kolonialstaat aufzunehmen.
3. Die korrupte rechtsradikale Regierung von Benjamin Netanjahu hat mit Unterstützung der
Regierung Joe Bidens nach dem „Abraham-Abkommen“, dem Friedensvertrag zwischen den
Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain im Jahr 2020, die „Normalisierung“ der Beziehungen
mit Saudi-Arabien vorangetrieben. Netanjahu hat versucht, die Palästinenser:innen an den Rand zu
drängen, indem er die Hamas gegen die Palästinensische Autonomiebehörde ausspielte, während
zionistische Siedler und die IDF weiterhin Palästinenser im Westjordanland und in Ostjerusalem
enteigneten und vertrieben.
4. Der Angriff vom 7. Oktober hat auf brutale Weise gezeigt, dass die Palästinenser:innen nicht
ignoriert oder an den Rand gedrängt werden können. Sie haben dabei das israelische Militär und die Sicherheitsbehörden gedemütigt, die den Angriff nicht erwartet hatten und nur langsam den
Gegenschlag eingeleitet haben. Aus Sicht der rassistischen herrschenden Klasse Israels muss diese Niederlage mit einer spektakulären Racheaktion vergolten werden.
5. Die israelische radikale Rechte, deren Einfluss in der Regierungszeit Netanjahus enorm
gewachsen ist, erkennt in diesem neuen Krieg auch eine Gelegenheit, ihren Traum von einem
„Transfer“, also der Massenvertreibung der Palästinenser:innen aus den besetzten Gebieten, wahr
werden zu lassen. Die Anweisung der IDF an die Palästinenser:innen in Gaza, in den Süden zur
ägyptischen Grenze zu gehen, wird von vielen als erster Schritt zur Erreichung dieses Ziels
angesehen, indem sie in die Wüste der Halbinsel Sinai getrieben werden. Die USA haben die
ägyptische Regierung gedrängt, die Grenzübergänge zu öffnen, und Netanjahu hat in der
Europäischen Union dafür geworben, sich dem anzuschließen. Unterdessen haben israelische
Siedler ihre Anstrengungen verstärkt, die Beduinen im Westjordanland zu vertreiben. Die
Regierungen des Nahen Ostens müssen Israel und die westlichen Mächte warnen, dass eine zweite
Nakba die ganze Region in einen Krieg stürzen wird.
6. Die USA, die EU und führende westeuropäische Staaten haben sich sofort hinter Israel gestellt,
nicht nur mit Worten, sondern auch mit militärischer Unterstützung – im Fall der USA mit zwei
Flugzeugträgern, 2.000 Soldaten und mit Luftverteidigungssystemen. Die Regierung Biden hat
ausdrücklich die Hamas und Putin als Feinde der „Demokratie“ in eine Reihe gestellt. Für die
übrige Welt hat das noch einmal die Heuchelei der USA und der Nato unterstrichen, die in der
Ukraine einen Stellvertreterkrieg mit Russland führen, das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine
unterstützen und Moskaus Invasion und die Angriffe auf Zivilisten und Infrastruktur verurteilen,
während den Palästinenser:innen dasselbe Recht verweigert wird und die Augen vor Israels
Verbrechen verschlossen werden.
7. Israel und seine westlichen imperialistischen Verbündeten befinden sich jedoch in einer
schwierigen Lage. Wenn Iran und die Hisbollah im Libanon in den Krieg eintreten, geriete die IDF
stark unter Druck. Die USA bemühen sich, ihre eigenen Truppen und Stützpunkte in der Region zu
schützen; ihre Angriffe auf Ziele in Syrien und Jemen zum Beispiel könnten jedoch eben den Krieg
herbeiführen, den sie zu vermeiden suchen. Washington bemüht sich auch um Beziehungen mit
China, dessen wirtschaftlicher und politischer Einfluss in Nahen Osten rapide zunimmt. Eine
militärische Eskalation in der Region könnte die zunehmenden zwischenimperialistischen
Rivalitäten auf Weltebene verschärfen. Deshalb üben die USA und viele andere Regierungen
zunehmend Druck auf Israel aus, „humanitäre“ Maßnahmen zu ergreifen, um das Leiden der
Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu lindern.
8. Die Belagerung des Gazastreifens hat eine riesige, weltweite Solidaritätsbewegung für Palästina
hervorgerufen, selbst in Ländern mit scharfer Repression. Die Bewegung hat sich trotz der
offiziellen und in den vergangenen Jahren insbesondere in Europa noch verstärkten Kampagnen zur Kriminalisierung der Solidarität mit Palästina entwickelt. In einigen Ländern ist die derzeitige
Eskalation und die wachsende Solidaritätsbewegung mit Palästina begleitet von einer neuen
Repressionswelle und von antimuslimischem Rassismus. Wir stellen uns gegen die in vielen
Ländern verhängten Demonstrationsverbote und die rassistischen Angriffe auf die palästinensische
und muslimische Bevölkerung, der das Demonstrationsrecht verweigert und die des Antisemitismus bezichtigt wird. Zu den Protestierenden gehört eine wachsende Zahl jüdischer Menschen auf der Welt, die es ablehnen, dass Israel in ihrem Namen spricht. Wir in der IS Tendency haben uns aktiv an dem Aufbau der Massendemonstrationen beteiligt und wir verpflichten uns, damit fortzufahren. Sozialist:innen müssen im Zentrum der Bewegung sein, denn sie birgt in den verschiedenen Ländern auch das Potenzial, die revolutionäre Linke qualitativ zu stärken.
9. Die gegenwärtige Solidaritätsbewegung mit Palästina stellt einen beeindruckenden Aufschwung
des Internationalismus dar, in dem sich die viel tiefer reichende Wut gegen unsere herrschenden
Klassen ausdrückt, die sich so schamlos auf die Seite des Zionismus stellt. Druck auf unsere
Regierungen auszuüben ist der Schlüssel. Je nach Land wird es unterschiedliche Schwerpunkte
geben, aber die Forderung nach Ausweisung des israelischen Botschafters könnte ein konkretes
Mittel sein, die Regierung zum Umsteuern zu bringen.
10. Solidarität sollte aber nicht nur auf der Straße zum Ausdruck kommen. Massendemonstrationen
müssen durch direkte und lokale Aktionen und durch die Betonung der Macht der organisierten
arbeitenden Klasse verstärkt werden. Staatlicherseits ist die Bewegung Boycott, Divestment, and
Sanctions in den vergangenen Jahren unter heftigen Druck geraten. Wir müssen die Anstrengungen für ihren Aufbau verstärken. Solidarität mit Palästina in den Gewerkschaften ist hier besonders wichtig. Während der Unity Intifada von 2021 blockierten Hafenarbeiter in verschiedenen Ländern der Welt, von Italien nach Südafrika bis zu den Vereinigten Staaten, die Verschiffung von Waffen an Israel. Wir müssen daran anknüpfen. Unterstützung für Palästinenser:innen zeigt sich auch wieder an den Universitäten, und kämpferische Aktionen zur Unterstützung der BDS-Kampagne können dazu beitragen, eine starke und radikale Studierendenbewegung aufzubauen. Aktivist:innen können auch vor Ort die Forderung nach BDS erheben, zum Beispiel indem sie die Entfernung von israelischen Waren aus dem Supermarktsortiment verlangen.
11. Es wird keine Lösung für die palästinensische Frage geben, solange der zionistische Siedlerstaat
in Israel besteht. Er stützt sich strukturell auf die Enteignung und Unterdrückung der
Palästinenser:innen. Es kann keine friedliche Koexistenz geben, sondern Israel muss entweder
unablässig Krieg gegen die Palästinenser:innen führen oder, wie es die radikale Rechte fordert,
diese vertreiben oder auslöschen. Die Angriffe vom 7. Oktober zeigen darüber hinaus, dass dieser
Staat nicht einmal die Sicherheit seiner jüdischen Bürger:innen garantieren kann – was der
Zionismus als sein historisches Ziel formuliert. Wir unterstützen die ursprüngliche Vision der
palästinensischen nationalen Bewegung von einem säkularen demokratischen Staat auf dem Gebiet Israels und in den besetzten Gebieten, wo Araber:innen, Jüd:innen, Muslim:innen, Christ:innen und Nichtgläubige friedlich miteinander und mit gleichen Rechten ausgestattet leben können. Die Entstehung einer neuen Generation von radikalen Kämpfern in Palästina, die die gescheiterte Zweistaatenlösung und den korrupten Ausverkauf seitens der Palästinensischen Autonomiebehörde ablehnen und den Massenwiderstand früherer Intifadas wieder aufleben lassen wollen, halten wir für sehr wichtig.
12. Der palästinensische Widerstand ist eine wesentliche Voraussetzung für das Erreichen dieses
Staats. Aber die Macht der gesamten arabischen Welt muss mobilisiert werden, um den westlichen
imperialistischen Wachhund Israel zu besiegen. Die bestehenden korrupten, unterdrückenden und
eng mit dem Imperialismus verbundenen arabischen Regime haben sich seit Langem als unfähig
erwiesen, diesen Kampf zu führen. Eine sozialistische Revolution im arabischen Osten, bei der die
Arbeiter:innen, die Armen und Bauern diese Regimes stürzen, würde die Bedingungen für einen
Sieg über Israel sicherstellen. Die Erhebungen von 2011 und kürzlich in Algerien und Sudan haben
uns einen Eindruck von der Möglichkeit einer Revolution im Nahen Osten und in Nordafrika
vermittelt. Der brutale Rachefeldzug Israels gegen die Palästinenser:innen birgt für den westlichen
Imperialismus nicht zuletzt die Gefahr, dass er die arabischen Massen wieder auf die Straße bringt.
Wie Tony Cliff, der Gründer unserer Tendenz, zu sagen pflegte, führt der Weg nach Jerusalem über
Kairo.
Titelbild: IST