»Erdrutschsieg« für Labour – wie weiter für die Linken?

Am 4. Juli erzielte Labour einen historischen Wahlerfolg. Wie stehen die Chancen, dass dem anstehenden Regierungswechsel auch ein Politikwechsel folgt?, fragt Carl Schreiber

Bei den Unterhauswahlen am 4. Juli konnte die Labour Party, die britische Entsprechung zur SPD in Deutschland, einen von britischen Medien als »Erdrutschsieg« bezeichneten Erfolg erzielen. Dabei gewann sie 411 von insgesamt 649 Mandaten und damit eine klare absolute Mehrheit.

Für die Regierungsbildung sind die Sitze das einzig Ausschlaggebende. Um die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse einschätzen zu können, braucht es aber einen genaueren Blick auf das Wahlergebnis.

Vor fünf Jahren hatte der rechte Flügel der Labour Party unter Keir Starmer das schlechte Abschneiden von Labour unter dem Parteilinken Jeremy Corbyn genutzt, um diesen vom Parteivorsitz zu verdrängen. Tatsächlich hatte Labour 2019 das historisch schlechteste Ergebnis seit 1918 eingefahren: Nur 202 Sitze und 10.269.051 Stimmen, was 30,1 Prozent der abgegebenen Stimmen entsprach.

Bei dieser Wahl hingegen, diesmal unter dem rechtesten Vorsitzenden, den Labour jemals hatte, gewann die Partei 9.708.716 Stimmen, also rund eine halbe Millionen Stimmen weniger, was bei allgemein niedrigerer Wahlbeteiligung aber für 33,7 Prozent reichte.

»The winner takes it all«

Wie kann ein prozentualer Zuwachs von 2,6 Prozentpunkten zu einer mehr als Verdoppelung der Mandate führen? Zwei Faktoren spielen eine Rolle: Erstens das britische Wahlsystem, bei dem in jedem Wahlkreis der Kandidat oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen gewinnt, egal wie viele es sind (»the winner takes it all«). Es können theoretisch 20 Prozent der Stimmen reichen, wenn fünf weitere Parteien jeweils knapp darunter liegen.

Dieses System bevorzugt große Parteien, traditionell gewinnen Labour und die konservative Partei, die Tories, fast alle Sitze. Da aber die Tories nach 15 Jahren an der Regierung derart unbeliebt geworden sind, dass sie von 13.966.454 Stimmen 2019 auf 6.828.925 Stimmen dieses mal komplett abgestürzt sind, also fast die Hälfte ihrer Stimmen verloren haben, hat das Ergebnis von Labour, das noch unter dem historisch schlechten der letzten Wahl liegt, gereicht, die meisten Sitze zu gewinnen.

Labour war nicht die einzige Partei, die von dem schlechtesten Wahlergebnis der Konservativen in ihrer Geschichte profitieren konnte. Auch die liberale Partei, das Pendent zur FDP, konnte mit fast unverändertem Stimmanteil 72 Sitze erobern, 64 mehr als 2019, und damit ein Rekordergebnis erzielen.

Gefahr von rechts

Am stärksten Zulegen konnte allerdings die offen rassistische und rechtspopulistische Partei »Reform UK«, die von Nigel Farage als Nachfolge der »Brexit Partei«, und davor »UKIP« gegründet worden war. Mit einem Wahlkampf, der hauptsächlich auf die Abwehr von Einwanderung ausgerichtet war, konnte Reform auf Anhieb fünf Sitze erobern.

Aber diese Zahl täuscht über die tatsächliche Gefahr hinweg. Reform bekam 14,3 Prozent der Stimmen, fast halb so viele wie Labour, und wurde damit die drittstärkste Partei.

Die krisengeschüttelten Tories hatten im Wahlkampf versuchten, die Abwanderung von Stimmen nach rechts zu verhindern, indem sie ein Abschiebeprogramm durchsetzten, bei dem das Asylrecht praktisch außer Kraft gesetzt wurde. Ein Gesetz ermöglichte es, Flüchtende jeglicher Herkunft ohne Asylverfahren nach Ruanda abzuschieben.

Labour kritisierte dieses Gesetz rein auf formaler Grundlage, ohne den rassistischen Annahmen dahinter zu widersprechen. So blieb das Argument stehen, dass ein paar Tausend geflüchtende Menschen für die Misere des britischen Sozialstaates verantwortlich seien – insbesondere, weil Labour auch in den sozialen Fragen, wie Gesundheitssystem, Teuerung und Wohnungsmarkt, um nur die brennendsten Themen zu nennen, keinerlei linke Alternative zu den Tories bot.

Und so war Reform Hauptgewinnerin der Wahl. Sie konnte in erheblichem Maße Stimmen von enttäuschten ehemaligen Torie-Wähler:innen gewinnen – auch aus traditionellem Labour-Millieu.

Labour und Palästina-Solidarität

Aber auch Kräfte links von Labour konnten Achtungserfolge erringen. Die Grünen zum Beispiel konnten ihren Stimmenanteil auf 6,8 Prozent fast verdreifachen und sich in zwei Wahlkreisen durchsetzen.

Ein viel wichtigeres Signal allerdings ist das Ergebnis einer Reihe von unabhängigen Kandidat:innen, die als Vertreter:innen der Palästina-Solidaritätsbewegung angetreten waren. Unter ihnen ist auch der mittlerweile wegen angeblichem Antisemitismus aus der Labour Partei ausgeschlossene ehemalige Parteivorsitzende Jeremy Corbyn.

Die Solidaritätsbewegung mit Palästina in Großbritannien ist sehr groß. Seit Oktober letzten Jahres haben 13 landesweite Demonstrationen stattgefunden, bei denen Hunderttausende Menschen auf der Straße waren. Am Tag nach der Wahl, am 5. Juli, fand in London die bisher letzte in dieser Reihe statt, um die neue Regierung mit einem eindeutigen Signal zu begrüßen. Es haben 140.000 Menschen teilgenommen.

Diese unabhängigen Kandidat:innen konnten fünf Wahlkreise gewinnen, wobei es in mehreren weiteren Wahlkreisen sehr knapp war. Leider sind sie nicht als eine landesweite Kraft flächendeckend kandidiert. Hier steht noch viel Arbeit bevor.

Herkules-Aufgabe

Die Linke in Großbritannien steht nach dieser Wahl vor einer Reihe von Aufgaben. Zuerst, und wahrscheinlich am unmittelbarsten, ist die Herausforderung, die im Windschatten des Rassismus des Wahlkampfes und des Erfolges von Reform UK aufsteigenden Stiefelnazis zu stoppen. Alle Antifaschist:innen, Antirassist:innen und Linken sollte sich darüber im Klaren sein, dass hier eine sehr unmittelbare Gefahr heranwächst. Wenn Nazis wieder, wie zuletzt in diesem Frühjahr, mit Tausenden durch London marschieren können, ohne von einer breiten und entschlossenen Bewegung gestoppt zu werden, werden sie weiter aufbauen.

Gleichzeitig braucht es eine Bewegung gegen den Rassismus. Migrant:innen sind nicht verantwortlich für Ungleichheit oder Sozialabbau in einem Land. Nirgendwo.

Es braucht einen geduldigen Aufbau von den Kräften in den Gewerkschaften, die nicht aus falsch verstandener Rücksichtnahme mit der neuen Labour-Regierung die notwendigen Kämpfe für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und einen Ausbau der Sozialsysteme zurückhalten wollen.

Natürlich wird auch die Bewegung gegen den Genozid in Gaza, und die Palästina-Solidaritätsbewegung insgesamt, ihre Bemühungen fortsetzen müssen. Nachdem Starmer im Wahlkampf vor allem mit der Aussage aufgefallen war, dass »Israel jedes Recht« hätte, über die »Mittel seiner Verteidigung selbst zu entscheiden«, kann die Demo vom 5. Juli nur ein erster Schritt gewesen sein.


Titelbild: blogsmedia.lse.ac.uk