Protest gegen Rassisten in Finchley

England: Wie man Rassisten ausbremst

Im letzten Sommer nutzten Rassisten eine Messerattacke in England für Gewalt gegen Geflüchtete. Mobilisierung von links konnte sie zurückdrängen – vorerst. Von Dave Gardner

Im letzten Sommer wurde England von einer Welle rassistischer Gewalt erschüttert, in einem Ausmaß, das wir seit 100 Jahren nicht mehr erlebt haben. In diesem Text berichte ich, wie wir in der Socialist Workers Party in Sheffield diese Tage erlebten, wie wir politisch reagierten und was wir daraus lernen können.

Der Hintergrund zu der Gewalt war die Parlamentswahl am 4. Juli. An dem Tag wurde die kriselnde Konservative Partei nach 14 Jahren abgewählt. Die sozialdemokratische Labour Partei gewann eine große Mehrheit. Das lag vor allem daran, dass die rechtspopulistische Reform UK Partei um Nigel Farage den Konservativen vier Millionen Stimmen abgenommen und dadurch die rechte Wählerschaft gespalten hatte.

Am 27. Juli versuchte der Faschist Tommy Robinson diese Lage auszunutzen. Obwohl wir 5.000 Gegendemonstrant:innen durch die Organisation „Stand Up To Racism“ mobilisiert hatten, konnten wir nur zusehen, wie 15.000 Nazis und Rechtsextreme auf dem Trafalgar Square in London seine rassistische Hetze zelebrierten.

Rassisten nutzen Messerattacke

Zwei Tage später gab es eine entsetzliche Messerattacke bei einer Tanzveranstaltung für Kinder im nordenglischen Southport. Drei Mädchen im Alter zwischen sechs und neun Jahren starben, acht weitere Kinder und zwei Erwachsene wurden verletzt. Im Netz kursierten sofort Falschmeldungen, dass der Täter ein islamischer Asylbewerber sei (er war aber Christ, in Großbritannien geboren und litt unter psychischen Problemen).

Am nächsten Tag gab es vor Ort eine Mahnwache für die Opfer, die friedlich verlief. Aber in den Stunden danach gab es rassistische Ausschreitungen: Eine Moschee wurde belagert und mit Steinen beworfen. Ein Kiezladen wurde geplündert. Ein Polizeifahrzeug wurde attackiert und brannte aus. In den nächsten Tagen kam es auch zu Ausschreitungen in anderen Städten, offenbar von losen Netzwerken von Rechten organisiert.

Rassisten machen Jagd

In Sheffield erfuhren wir, dass die Rechten eine Demonstration am folgenden Sonntag vor einem Hotel einige Kilometer außerhalb der Nachbarstadt Rotherham (eine Partnerstadt von Riesa) planten, das als Unterkunft für Geflüchtete diente.

Schon ein Jahr zuvor hatten Nazis versucht, vor diesem Hotel zu demonstrieren. Damals hatten wir eine Gegendemo organisiert, die die Rechten ferngehalten hatte. Wir hatten wichtige Beziehungen zu den Flüchtlingen aufbauen können. Wir wollten diesen Erfolg nun wiederholen. Trotz einer Anlaufzeit von nur etwa 48 Stunden haben wir den letzten nicht für den Sommerurlaub ausgebuchten Reisebus der Stadt gemietet. Schließlich waren wir am Sonntag mit 120 Antirassisten rechtzeitig vor dem Gebäude.

Kein Schutz durch die Polizei

Keine:r von uns war auf das vorbereitet, was in den nächsten Stunden passierte. Uns gegenüber, getrennt durch die Polizei, sammelten sich die ersten Nazis. Wir skandierten, wir sangen, wir tanzten und trommelten. Aber es kamen immer mehr Rechte, bis wir rund 1000 von ihnen gegenüberstanden. Wir rückten zusammen. Es flogen die ersten Flaschen und Steine auf uns. Sie zogen Skimützen an, holten sich Stöcke und versuchten, zu uns zu gelangen. Nachdem wir die Stellung zwei Stunden gehalten hatten, teilte die Polizei unseren Ordnern mit, dass sie uns trotz Kampfaufrüstung und berittenen Polizist:innen nicht schützen konnten.

Wir wurden von der Polizei weggebracht, und hatten trotzdem noch Glück, dass der Einkesselungsversuch der Nazis nicht aufging. Wir mussten zwei Kilometer zu unserem Bus laufen, während die Nazis von ihren Autos aus uns beleidigten. Es war eine demütigende, traumatische Erfahrung, die ich nie wieder machen will.

Aber viel schlimmer was das, was folgte. Brennende Mülltonnen wurden ins Hotel gerammt. Den Nazis ist es kurz gelungen, in das Gebäude einzudringen. Die Geflüchteten und die Angestellten der Anlage mussten sich in ihren Zimmern verbarrikadieren. Die Polizei hat die Nazis zwar aus dem Hotel herausgedrängt, wurde aber dann stundenlang von den Faschisten mit allerlei Projektilen beworfen. Erst spät am Abend konnten die Geflüchteten evakuiert werden. Heute ist das Hotel geschlossen und die Asylsuchenden auf andere Städten verteilt.

Rechter Terror in vielen Städten

An jenem Sonntagabend wurde das Ausmaß des rechten Terrors sichtbar. Nicht nur in Rotherham, sondern auch in Sunderland, Middlesborough und Telford hatte es pogromartige Ausschreitungen gegeben. Die Polizei schaute machtlos zu, als Rassisten Jagd auf ethnische Minderheiten machten. Dann kündigten rechte Sozialmedienkanäle mit brennenden Emojis an, dass sie am Mittwochabend gegen Migrationsanwält:innen landesweit vorgehen wollten: In 40 verschiedenen Städten (auch in Sheffield und in Rotherham) sollte – maskiert – vor Büros und Kanzleien „protestiert“ werden.

Am Montag stand das ganze Land unter Schock. Die Angst, besonders in den migrantischen Gemeinden, war enorm. Während einige Länder erste Reisewarnungen für Großbritannien herausgaben, wirkten unsere Politiker ratlos: Ihnen fiel nicht mehr ein, als die Polizei zu loben und sich auf sie zu verlassen. Die Rechten schienen auf dem Vormarsch zu sein, und die Welt aus den Fugen zu geraten. Die Lage war beängstigend.

Aktive treffen und beraten sich

In Sheffield riefen wir durch „Stand Up to Racism“ zu einem „Unity Meeting“ am nächsten Abend auf. Wir wollten mit Aktivist:innen diskutieren, wie wir auf die Nazidrohung reagieren sollen. Wir hatten nur 24 Stunden Zeit und versuchten, so viele Menschen wie möglich per Telefon, Chat-Gruppen, Emails usw. zu erreichen und einzuladen.

Der Dienstag brachte die erste Wende. Im Gemeindezentrum mussten wir zweimal das Zimmer wechseln, weil so viele gekommen waren. Schließlich versammelten sich über 500 Menschen in dem überdachten Hof. Viele von uns waren den Tränen nah, ein solches Zeichen der Solidarität an jenem Abend zu erleben.

Aber was tun gegen die Rechten, die am nächsten Abend wieder randalieren wollten? Wir haben dafür argumentiert, dass wir uns den Nazis widersetzen müssen. Das war unsere Erfahrung aus dem erfolgreichen Kampf gegen die National Front in den 70er Jahren, gegen die British National Party in den 90er Jahren, und aus der langen internationale Tradition von Antifaschismus. Genau diese Erfahrung würde nun eine neue Generation von Aktivist:innen machen. Die Stärke unserer Seite liegt in unserem sozialen Gewicht. Die Mehrheit der Gesellschaft lehnt den Rassismus ab. Unsere Gemeinden sind solidarisch und in der Organisation der Arbeiterbewegung schlummert eine riesige Kraft. Wir sind mehr!

Suche nach der richtigen Strategie

Aber das Argument war nicht leicht zu gewinnen. Nach der Erfahrung von Sonntag hatten viele sehr große Angst vor rechter Gewalt und waren abgeneigt, wieder auf die Straße zu gehen. Die Polizei hatte aufgerufen, den bedrohten Anwaltsbüros fernzubleiben. Einige der betroffenen Anwält:innen hatten sich diesem Appell auch angeschlossen. Auch die meisten Politiker:innen sagten, dass wir alle zu Hause bleiben sollten. Im Nachhinein erfuhren wir sogar, dass Abgeordnete der Labour-Partei eine Weisung von ihrer Parteispitze bekommen hatten, sich von Gegendemonstrationen fernzuhalten. Es wurde auch klar, wie bedrückend die Angst in den betroffenen Gemeinden war. Nicht nur, weil sie im Fadenkreuz der Nazis standen, sondern auch, weil sie fürchteten, für die Gewalt selber verantwortlich gemacht zu werden.

Dennoch beschloss die Versammlung, Gegenproteste für den nächsten Abend in Sheffield und Rotherham zu organisieren. Vor allem, weil wir, nach einer Woche von Schock und Angst, jetzt alle auch eine Wut spürten. Wir Sozialist:innen hatten jahrzehntelang zusammen mit Antirassist:innen gegen Rassismus gekämpft, um solidarische, tolerante Gemeinden aufzubauen. Wir wollten uns verteidigen! Wir wollten uns von den Nazis nicht spalten lassen! Besonders die Jüngeren mit Migrationshintergrund machten sich stark für ein Zeichen des Widerstands am nächsten Abend.

Solidarität gewinnt

Am Mittwoch Abend hielt das ganze Land den Atem an. Würde die Nazi-Gewalt weitergehen? Wir hatten zwar Sicherheitskonzepte entwickelt, aber wie groß war die Gefahr? Besonders für Rotherham machten wir uns Sorgen, da das Ziel der Nazis wieder außerhalb der Stadt lag und schwer zu erreichen war. Trotzdem versammelten sich erneut über 100 mutige Antifaschist:innen schützend vor dem dortigen Anwaltsbüro. Sie sahen einige Nazis, die in ihren Autos die Gegend umkreisten – und dann wegfuhren! Auch in Sheffield, wohin die meisten Antifaschist:innen mobilisierten, konnten die Nazis nicht Fuß fassen. Ein lauter, bunter Gegenprotest von über 1.500 Antirassist:innen zelebrierte die Diversität der Stadt.

Meldungen aus anderen Städten erreichten uns nach und nach. In Oxford verjagten 300 Antifaschist:innen ein Handvoll Nazis. In Derby waren wir 500, in Hastings und Nottingham ebenso viel. In Birmingham gab es 1.000 Nazi-Gegner, in Newcastle 3.000. Auch in Brighton und Liverpool waren Tausende auf der Straße. In Bristol, wo die Nazis am Wochenende ihre Gewalt gezeigt hatten, wagten an diesem Abend 7.000 Antifaschist:innen, ihnen die Stirn zu bieten. In Finchley, Nordlondon, kamen 3.000, aber den Höhepunkt bildete Walthamstow im Osten der Hauptstadt. Auf Bildern, die um die Welt gingen, sah man, wie mehr als 10.000 Antirassist:innen die Straßen füllten und feierten, als ein paar gedemütigte Nazis von den Polizisten weggebracht werden mussten.

Mobilisierung bringt die Wende

Fast überall, wo die Nazis ihre Gewalt fortsetzen wollten, hatten Antifaschist:innen den Politiker:innen und der Polizei getrotzt und den Schutz ihrer Städte, Gemeinden und Mitmenschen selber in die Hand genommen. Dieser Abend brachte die Wende nach zehn Tagen rassistischer Hetze und Gewalt. Die Welle des rechten Terrors war gebrochen.

Sogar die konservativen Hetzblätter auf der Insel konnten diesen Antifaschismus von unten nicht ignorieren. Mit einem schönen Bild von unserer Demo in Walthamstow versuchte die Daily Express, sie zu einem patriotischen Aufstand umzudeuten: „United Britain Stands Firm Against Thugs“ („Vereinigtes Britannien zeigt Kante gegen die Schlägertypen“). Auch die Politik versuchte, den Erfolg für sich zu buchen: Die Labour Abgeordnete für Walthamstow, Stella Creasy, hatte zuvor die Menschen gebeten, dem Rat der Polizei zu folgen und zu Hause zu bleiben. Danach gratulierte sie – ohne rot zu werden – den Antifaschist:innen und feierte ihren Wahlkreis als ein „Haus der Liebe“.

Lehren im Kampf gegen Rassisten

Was können wir für Deutschland aus diesen zehn Tagen lernen? Erstens: Im Kampf gegen den Faschismus können wir uns nur auf uns selber verlassen. Die Polizei hatte die Welle der Gewalt in England nicht gestoppt. Auf den Staat für Schutz gegen rassistischer Gewalt zu hoffen ist ein gefährlicher Irrtum – erst recht, wenn wir uns an die Zeiten erinnern, in der der Staat gemeinsame Sache mit den Nazis machte. Ein Nazi hat nicht vor der Polizei Angst, sondern vor der Erkenntnis, dass er einer entschlossenen, ablehnenden Mehrheit gegenüber steht.

Zweitens: Es gibt Zeiten, in denen es aussehen kann, als ob die Rechten einfach durchmarschieren. Solche Wochen erleben wir auch im Moment. Trump greift die Zivilgesellschaft frontal und überall an. Hetze wird verbreitet, der bürgerliche Konsens zerrissen. Es herrscht Schockstarre unter den Liberalen, es herrscht Angst unter den Betroffenen. Aber solche Angriffe erzeugen auch Widerstand! Die Wut, die der rechte Terror in England schließlich hervorrief und die uns zu den Gegenprotesten ermutigte, wird auch in diesen Wochen spürbar werden. Und das auch hier in Deutschland, wo die Nachahmer von Trump vermehrt auf Gegenprotest stoßen.

Revolutionäre Organisation ist entscheidend

Drittens: In Zeiten, in denen alles ins Wanken gerät, ist revolutionäre Organisation unglaublich wichtig. Die Gegendemonstrationen vom 7. August kamen nur zustande, weil organisierte Sozialist:innen konsequent und hartnäckig dafür argumentiert hatten. Die Socialist Workers Party hat in dieser Zeit mit sehr vielen mutigen und engagierten Aktivist:innen zusammengearbeitet. Selbstverständlich hätte es auch ohne uns Gegenproteste gegeben. Aber viele Aktivist:innen waren durch die Tage davor desorientiert und sich nicht im Klaren über die richtige Strategie.

Die Stoßrichtung, die wir in die Mobilisierung einbringen konnten, war enorm wichtig für den späteren Erfolg – und war natürlich auch kein Zufall. Wir hatten im Vorfeld einen landesweiten Austausch, um die nötigen nächsten Schritte zu diskutieren und zu beschließen. Als wir in Sheffield beim „Unity Meeting“ unsere Argumente für eine Strategie der Konfrontation einbrachten, konnten wir uns auf die Theorie, Praxis und Erfahrung unserer Organisation beziehen. Wir wussten auch, dass wir Genoss:innen in jeder Stadt im Land hatten, die dort die gleichen Argumente einbrachten.

Dynamik scheint gebrochen

Die Nazi-Gefahr in England ist leider längst nicht gebannt. Die politische und mediale Hetze gegen Migrant:innen geht auch dort ununterbrochen weiter. Das schafft den Nährboden, auf dem die Nazis gedeihen. Zehn Wochen nach den Pogromen mobilisierten wir 20.000 Menschen gegen Tommy Robinson in London – aber es waren 25.000 auf seiner Seite. Am 1. Februar brachten seine Anhänger:innen in London noch 5.000 Menschen auf die Straße. Die Dynamik scheint erstmal gebrochen, doch es bleibt viel zu tun.

In Deutschland geht die aktuelle Gefahr von den Nazis in der AfD aus. Aber wir haben sie in der Vergangenheit zurückgeschlagen, und wir können und müssen es wieder tun. Hier ist der antifaschistische Reflex sehr viel stärker als in England, und dass sollte uns Mut machen! Der Kampf gegen Rechts hat allerhöchste Priorität, und diese Erfahrung aus England hilft uns hoffentlich dabei, auch hier das Ruder herumzureißen.