Aktionen wie ihre sind ein Symbol für Freiheit und gegen den Rechtsruck, meint Iris Hefets. Ein Interview über ihren Ein-Personen-Protest für Gaza am Hermannplatz
Hallo Iris. Danke, dass du mit uns sprichst. Könntest du zunächst ein paar Worte darüber verlieren, wer du bist?
Ich bin Iris Hefets. Ich bin Israelin und lebe seit 2002 in Berlin. Ich arbeite hier als Psychoanalytikerin und bin Mitglied der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost in Deutschland. Früher war ich Vorsitzende, jetzt bin ich Vorstandsmitglied.
Wir lesen momentan sowohl in der deutschen als auch in der internationalen Presse viel darüber, wie schwierig es für Jüd:innen in Berlin ist, insbesondere in Neukölln. Was ist diesbezüglich deine Erfahrung?
Nun, meiner Erfahrung nach ist es nicht besonders schwierig. Natürlich besteht ein Interesse daran, es so darzustellen, als sei es hier für Israelis schwierig. Aber die meisten Israelis in Berlin leben entweder in Neukölln oder in Prenzlauer Berg. Sie gehen dorthin und leben dort, also denke ich, dass es dort für sie in Ordnung ist. Es gibt einen Artikel von Yossi Bartal über Israelis in Neukölln, der mehr dazu sagt.
Und das Buch von Armin Langer, „Ein Jude in Neukölln“.
Wie sieht es hingegen derzeit für Muslime in Neukölln aus?
Vorurteile gegen Muslim:innen
Ich bin keine Muslima, du müsstest dazu Muslime befragen. Aber ich kann sagen, was ich dazu über verschiedene Kanäle gesehen und gehört habe. Es ist schwierig, heutzutage in Deutschland muslimisch zu sein. Seit dem 11. September 2001 gibt es Vorurteile gegenüber Muslim:innen, die bei jedem Angriff, wie jetzt nach Israels Angriffen auf den Gazastreifen oder den Libanon, hervorgeholt werden.
Die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie schreibt den Kindern vor, dass sie keine Accessoires tragen dürfen, die sie mit ihrer muslimischen Identität verbinden, wenn sie zur Schule gehen. Das ist Unterdrückung.
Wenn es um Israel und Palästina geht und du Muslim:in oder PoC bist, wird es dir verboten zu sein, wer du bist. Du musst europäisch oder deutsch sein und deutsch zu sein bedeutet, symbolische, aber inhaltsleere Bekenntnisse abzugeben, wie das „Existenzrecht Israels“. Du musst zunächst diesen hohlen Phrasen zustimmen, um das Recht zu bekommen, dich überhaupt zu äußern. Bei weißen Deutschen wird das natürlich nicht vorausgesetzt. Das ist rassistisch. Und es ist auch eine Art von heuchlerischem Moralaposteltum.
Rechtsruck in Deutschland
Es gibt Berichte über Dutzende von Minderjährigen, die in der Sonnenallee festgenommen wurden und über ein Kind, das von seinem Lehrer geschlagen wurde. Was glaubst du, was hier passiert?
Wir müssen das vor dem Hintergrund des Rechtsrucks in Deutschland betrachten. Die deutschen Politiker interessieren sich nicht wirklich für Israel, sonst würden sie eine andere Politik betreiben und nicht eine, die für ein „Weiter so“ steht. Die Lage in Israel wird dadurch nur noch schlimmer. Wenn die Deutschen sich wirklich für das Leben der Israelis und Jüd:innen interessieren würden, würden sie anders handeln.
In der deutschen Außenpolitik wird von etwas Plattem wie der „deutschen Staatsräson“ gesprochen, was eigentlich ein Begriff aus der Zeit Preußens ist. Das zeigt uns, welche Art von Rückschritt wir hier in Deutschland erleben.
Wenn wir die Stimmen für rechte Parteien in Deutschland – die AfD, die CDU und die Freien Wähler – zusammenzählen, dann sind sie in der Mehrheit. Und wir erleben, wie bereits Tabus gebrochen werden. Vor ein paar Jahren noch hätte es keine Zusammenarbeit zwischen der CDU und der AfD gegeben. Jetzt gibt es sie.
Das geht sogar über die rechtsgerichteten Parteien hinaus. Alle im Bundestag vertretenen Parteien stellen sich hinter die Parole „Solidarität mit Israel“.
Alle Parteien driften nach rechts. Guck dir die Asylpolitik an. Anstatt Widerstand zu leisten und zu sagen, nein, wir machen bei dieser rechten Politik nicht mit, versuchen die linken Parteien, die rechte Politik nachzuahmen. Das ist ein Fehler, denn wenn jemand etwas wählen will, dann wird er das Original wählen. Warum SPD wählen, wenn man auch AfD wählen kann?
Grundrechte werden eingeschränkt
Wir sprechen heute unter anderem über deinen persönlichen kleinen Akt des Widerstands. Ein Video von deinem Ein-Personen-Protest auf dem Hermannplatz hat sich in den sozialen Medien in Windeseile verbreitet. Selbst ein Freund in Norwegen es gepostet. Kannst du uns sagen, was du getan hast und warum?
Die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost wollte kürzlich eine Demonstration auf dem Oranienplatz anmelden. Das wurde nicht genehmigt, weil in Berlin Versammlungsverbot herrscht. Das ist beängstigend, denn es geht um die Einschränkung demokratischer Grundrechte. Bei dem Rechtsruck, von dem ich gesprochen habe, geht es nicht nur um Palästina und Terrorismus. Danach wird es etwas anderes geben, was als Begründung dient.
Die Meinungsfreiheit wird in Deutschland eingeschränkt. Als ich vor 15 bis 20 Jahren hierherkam, konnte ich sagen, was ich wollte und kein Deutscher hat mir unterstellt, dass ich Antisemitin wäre. Es gibt immer mehr Einschränkungen und wir stehen mehr und mehr unter Beobachtung verschiedener Institutionen.
Ich habe Freunde gefragt, die Juristen sind, ob ich, wenn eine Demonstration nicht erlaubt wurde, alleine mit einem Schild da stehen dürfe und sie sagten mir: „Das kannst du auf jeden Fall.“ Es ist umstritten, ob zwei oder drei Personen eine Versammlung darstellen, aber eine Person ist nach deutschem Recht keine Versammlung.
Mir war aber auch klar, dass wir uns in einer Zeit befinden, in der die deutsche Verfassung nicht mehr der Maßstab ist, nach dem gehandelt wird. Ich kenne das aus Israel. Israel befindet sich seit 1948 im Ausnahmezustand, der jedes Jahr verlängert wird. Wenn dann etwas als Terrorismus einstuft wird, darf man machen, was man will.
Aktion in Neukölln
Für mich war es wichtig, meine Aktion in Neukölln durchzuführen, weil ich in Neukölln arbeite. Ich habe viele Freunde, die dort leben – Israelis, Familienangehörige, Juden, Palästinenser und so weiter. In Neukölln kannst du alles finden.
Ich war schockiert zu sehen, wie leer der Hermannplatz geworden ist, seitdem die Polizei dort so präsent ist. Er erinnerte mich an den Platz in der Nähe des Nablustors in Ostjerusalem. Paramilitärs sind dort zur Unterdrückung der Palästinenser:innen so präsent, dass der Platz wie ausgestorben ist, bis die Palästinenser:innen ihn sich in der Zeit des Ramadans zurückerobern.
Das passiert auch gerade in Berlin. Es ist ein Comeback der Zeit vor der Nazizeit. Wir gehen zurück zu Bismarck, auch was die Architektur angeht. Zum Beispiel soll Karstadt abgerissen werden. Man will dort ein Gebäude errichten, das schon vor dem Krieg dort stand. Die Deutschen denken, die Nazizeit sei aufgearbeitet und jetzt wollen sie wieder zur Tagesordnung übergehen. Aber wir wissen, was passieren kann, wenn die Deutschen wieder zur Tagesordnung übergehen.
Du standest also auf dem Hermannplatz gegenüber von Karstadt und hast ein Schild hochgehalten. Was stand auf dem Schild?
Auf der einen Seite habe ich auf Deutsch geschrieben: „Als Israelin und Jüdin: Stoppt den Genozid in Gaza.“ Auf der anderen Seite stand dasselbe auf Englisch: „As an Israeli and a Jew: Stop the genocide in Gaza.“ Aber was auf dem Schild stand, war nicht das Problem.
Die Rolle der Polizei
Wie hat die Polizei anfangs reagiert?
Sie kamen sofort zu mir und baten mich, das Schild herunterzunehmen. Ich fragte, warum. Sie sagten mir, es sei verboten, also fing ich an zu argumentieren und sagte, dass ich nach deutschem Recht als Einzelperson hier stehen darf. Sie sagten, es sei egal, was auf dem Schild stehe, ich dürfe einfach nicht hier sein.
Dann behaupteten sie, es sei eine Versammlung, weil andere Leute dazugekommen waren und ich sagte, „die Leute sind nur dazugekommen, weil Sie gekommen sind“. Ich sagte: „Ich kann die Leute bitten, nicht neben mir zu stehen. Sagen Sie mir einfach, wie groß der Abstand sein muss.“ Dann meinten sie, ich würde zu viel diskutieren und ich müsse mit ihnen kommen.
Sie brachten mich zu ihrem Einsatzwagen und steckten mich in eine geschlossene Zelle, in der eine Kamera von der Decke auf mich gerichtet war. Ich hatte mein Telefon dabei und rief meinen Anwalt an und er sagte, er sei auf dem Weg. Sie taten nichts weiter. Sie haben nur gewartet, bis sich die anderen Leute wieder zerstreut hatten.
Kundgebung für Israel
Dann kamen sie zu mir und forderten mich auf, meine Identität nachzuweisen, also gab ich ihnen meinen israelischen Pass. Sie kamen wieder und sagten zu mir: „Okay, aber es ist verboten, propalästinensische Kundgebungen abzuhalten.“ Also habe ich gesagt, dass ich Israelin bin und was ich hier mache, ist eine Kundgebung für Israel. Es ist wichtig für mich, denn meine Familie lebt im Süden Israels, und wenn Israel den Völkermord in Gaza fortsetzt, sind wir dem Ende nahe.
Sie konnten darauf nichts erwidern, aber wir konnten einen Palästinenser hören, der ebenfalls verhaftet worden war und sie sagten zu mir, diese seien Leute barbarisch, woraufhin ich als Psychotherapeutin erwiderte, dass es für ihre Psyche nicht gut ist, wenn sie ein solches Ausmaß an Gewalt erleben und ihr ausgesetzt sind. Meiner Erfahrung nach und auch laut Fachliteratur kann so etwas zu Angststörungen, Panikattacken und Erektionsproblemen führen.
Der Polizist lachte und sagte: „Ich mag Sie. Sie erinnern mich an die Mutter eines Freundes.“ Als sie hörten, dass ich Israelin bin, fanden sie mich sympathisch. Weil ich Jüdin bin und keine junge Frau mehr, wäre es ein Problem für sie, mich zu verletzen. Das ist immer noch wichtig. Sie empfinden gewisses Unbehagen. Die Polizisten sagten mir, es sei zu meiner eigenen Sicherheit, dass ich nicht dort stehen dürfe. Ich sagte ihnen, wenn es nicht sicher ist, müssen sie dafür sorgen, dass es sicher wird und mich nicht daran hindern, meine verfassungsmäßigen Grundrechte wahrzunehmen.
Viele zustimmende Reaktionen
Sie kamen dann zurück und sagten, sie hätten die Sache geklärt, ich hätte recht und es täte ihnen leid. Ich dürfe aber immer noch nicht auf der Mitte des Platzes stehen. Sie eskortierten mich also in eine andere Ecke, was eigentlich viel besser war, da die Leute, die aus der U-Bahn-Station kamen, mich so auch sahen.
Ich stand dort eineinhalb Stunden lang. Ich bekam viele zustimmende Reaktionen. Viele Leute haben mich umarmt und gesagt, es ist gut, dass ich das sage, denn in Deutschland darf heute niemand mehr frei darüber reden. Es war ein breites Spektrum an Leuten aus Japan, aus Ägypten, ein weißer Deutscher, der mir erzählte, dass seine Frau Ägypterin ist und sie wirklich Angst hat, jetzt in Berlin auf die Straße zu gehen.
Am Tag danach habe ich es wieder getan. Zwei Polizisten blieben in meiner Nähe. Es gab Leute, die mit Kufija und palästinensischen Fahnen neben mir stehen wollten, aber ich sagte ihnen, dass wir das nicht dürfen, weil es dann eine Versammlung wäre. Also musste ich weiter alleine da stehen.
Hast du Anfeindungen erlebt?
Nur von der Polizei.
Aufstand gegen den Rechtsruck
Es wurde bekannt gegeben, dass Demonstrationen für die nächsten Wochen verboten seien, allerdings wurden Demos bisher ohnehin kurzfristig verboten. Was können wir jetzt tun?
Wir brauchen mehr Aktionen wie diese, vor allem von weißen Deutschen, von Menschen, die Pässe haben. Wir dürfen nicht mundtot gemacht werden. Im Gazastreifen findet derzeit ein Völkermord statt. Aktionen wie diese sind ein Symbol für den Kampf für Freiheit. Es ist ein Aufstand gegen den Rechtsruck in Deutschland.
In den sozialen Netzwerken verbreiten sich die Sachen, die wir aus dem Hebräischen und Englischen ins Deutsche übersetzen, sofort. Wir erreichen auf diese Weise viele Menschen. Es gibt in Deutschland eine sehr große Kluft zwischen dem, was die Politiker beschließen, was die Presse propagiert und dem, was die Menschen denken. Wenn es diese starke Kraft von unten nicht geben würde, wäre es auch nicht nötig, Menschen zu unterdrücken.
Israel ist ein gescheiterter Staat
Identifikation mit Israel bedeutet Identifikation mit einem kolonialen, rassistischen, ethnokratischen, neoliberalen Staat mit Apartheidpolitik. Der Staat Israel wurde am Samstag, den 7. Oktober 2023 als ein gescheiterter Staat entlarvt. Es war nicht nur der militärische Zusammenbruch, sondern der Staat hatauch bei der Aufgabe versagt, die Krankenhäuser mit Lebensmitteln und die Soldaten mit Transportmitteln und Waffen zu versorgen. All das wurde durch eine Initiative jüdischer Israelis über Social Media organisiert.
Es wird viel Wirbel um gute Ernährung gemacht, aber in den Krankenhäusern in Ashkelon im Süden Israels gibt es überhaupt kein Essen mehr. Der Staat funktioniert einfach nicht. Meine Kollegen, Psychotherapeuten, gehen zu den Menschen hin, die aus dem Süden Israels evakuiert wurden, und versuchen, sie emotional zu unterstützen, ohne dass das wirklich organisiert wurde.
Israel hat eine Armee, die ihre Soldaten nicht einmal mit dem Nötigsten versorgt. Nach neoliberaler Logik ist es ein Fehler, in die Zukunft zu investieren und Vorräte anzulegen, weil das zu einem finanziellen Verlust führen könnte. Das Scheitern einer Gesellschaft, die die Realität auf so vielen Ebenen leugnet, wurde an diesem schrecklichen Samstag auf grausame Weise sichtbar.
Angst vor BDS
Die Menschen, die dieses Interview lesen, sehen die Bombardierung des Gazastreifens. Krankenhäuser in Gaza werden bombardiert oder müssen schließen, weil sie keinen Strom haben. Aber auch in Berlin gibt es zunehmende Repressionen. Wie können wir uns dagegen wehren?
Ich bin – selbstverständlich – für die Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS). Die Palästinenser haben einen gewaltfreien Kampf geführt, den Deutschland aktiv bekämpft hat. Das Kräfteverhältnis hier bedeutet, dass der deutsche Staat keine Sanktionen über Israel verhängen wird, die Menschen müssen Israel privat boykottieren. Wer eine Kreuzfahrt nach Israel macht, sieht nur die Spitze eines Eisbergs.
Es spielt keine Rolle mehr, ob die Waren aus den besetzten Gebieten stammen oder nicht. Jedes israelische Produkt muss boykottiert werden. Es ist nicht so, dass das nicht passiert, aber es passiert eben viel im privaten Bereich. Die Menschen haben Angst vor der BDS-Kampagne. Israel muss sehen das seine Taten Konsequenzen haben, damit es die Realität nicht mehr so leicht ignorieren kann. Nur dann wird es möglich sein, einen Wandel herbeizuführen, der nicht so blutig ist.
Wir müssen mehr mit dem Globalen Süden zusammenarbeiten. Ereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft in Katar haben deutlich gezeigt, dass die Menschen in diesen Ländern nicht eins mit den Herrschenden sind. Die marokkanische Mannschaft hat Palästina ebenso unterstützt, wie es Fans aus Japan und Südamerika taten.
Es ist Zeit aufzustehen
Ich hoffe, dass es dieses Mal anders sein wird, denn es gibt heute viel mehr nicht weiße Menschen in Deutschland. Ich verstehe, dass sie Angst haben und dass sie sich von Deutschland bedroht fühlen. Es ist an der Zeit, dass die weißen Deutschen etwas dazu sagen.
Wir können die politischen Parteien vergessen. Ich weiß nicht, was von der Linkspartei übrig ist. Vielleicht sind die Leute an der Basis besser als die Führung, aber sie ist nicht links. Die Tatsache, dass eine Anti-BDS-Resolution, also eine Resolution gegen den gewaltfreien Kampf, von der Linken bis zur AfD unterstützt wird, sagt alles darüber aus.
Es ist an der Zeit für weiße Deutsche aufzustehen, mitzureden und zusammen mit PoCs wie uns dem gesellschaftlichen Mainstream eine andere Richtung zu geben.
Erstveröffentlichung bei The Left Berlin
Aus dem Englischen von Marijam Sariaslani