Die Hisbollah und Israels verlorener Krieg

Was als lang geplanter israelischer Angriff begonnen hatte, um die Hisbollah zu vernichten, endete mit einer Erniedrigung für Israel. Von Chris Harman aus dem Herbst 2006


Anmerkung der Svu-Redaktion: Der seit neun Monaten andauerte Völkermord Israels in Gaza hat im Südlibanon zu anhaltenden Grenzgefechten der israelischen Armee mit der Hisbollah geführt. Nun drohen die Grenzgefechte von Seiten Israels in einen vollumfänglichen Krieg gegen die Hisbollah zu eskalieren. Eine solche Eskalation gab es bereits vor 18 Jahren. Wir dokumentieren die damalige Analyse von Chris Harman auf Grund der aktuellen Kriegsgefahr im Libanon.


Zum ersten Mal konnten die israelischen Verteidigungskräfte einen echten Krieg nicht für sich entscheiden. (Olivier Roy, Financial Times)

Was diesen Feldzug auf besonders dramatische Weise auszeichnet, ist sein Ausgang. Die Araber fanden sehr schnell eine Bezeichnung für ihn: „sechster israelisch-arabischer Krieg. Und für einige von ihnen, auch für einige Israelis, zählt er hinsichtlich seiner strategischen, psychologischen und politischen Konsequenzen zu den möglicherweise bedeutendsten Auseinandersetzungen seit Israels „Unabhängigkeitskrieg“ von 1948. Über einen Monat lang hielt eine kleine Bande irregulärer Kämpfer einer der mächtigsten Armeen dieser Welt stand und fügte ihr beträchtliche Verluste zu. (David Hirst, altgedienter Nahostkorrespondent des Guardian)

Die israelischen Militärbehörden bezeichneten die Aktionen ihrer Soldaten südlich des Flusses Litani als „Säuberungen“ und „Aufräumaktion“. Aus Sicht der Libanesen war es eher die Hisbollah, die „aufräumte“. Bis gestern Nacht hatten die Israelis es nicht einmal geschafft, die toten Insassen eines Hubschraubers zu bergen, der Samstagnacht über einem libanesischen Tal abgeschossenen worden ist. (Robert Fisk vom Independent am letzten Kriegstag)

Die Hisbollah konnte Israel keine entscheidende Niederlage zufügen. Das schiere Ungleichgewicht der Kräfte schloss das aus, genauso wie der vietnamesische Widerstand den USA keine entscheidende Niederlage zufügen konnte. Israel war seinerseits aber auch nicht in der Lage, der Hisbollah eine Niederlage zuzufügen. In diesem Sinne ist die Hisbollah zweifellos der wahre politische Sieger und Israel der wahre Verlierer dieses 33-Tage-Kriegs. (Gilbert Achcar, in Frankreich lebender libanesischer Marxist)

Die Hisbollah ist gleich geblieben. Sie wurde nicht zerschlagen, auch nicht entwaffnet, nicht einmal vertrieben. Ihre Kämpfer haben sich auf dem Feld bewährt und dafür zollten ihnen sogar israelische Soldaten Anerkennung. (Uri Avnery, israelischer Autor)

Zu derselben Schlussfolgerung kamen alle Seiten nach dem 33-tägigen Krieg Israels gegen die Hisbollah und den Libanon im vergangenen Sommer. Was als lang geplanter israelischer Angriff begonnen hatte, um die Hisbollah zu vernichten, endete mit einer Erniedrigung für Israel.

Dieser Ausgang war nicht nur ein Schock für die israelische Armee. Er war ein vernichtender Schlag für George W. Bush und seinen Juniorpartner Tony Blair, die versucht hatten, die US-amerikanische Globalhegemonie angesichts ihres kläglich scheiternden Irakabenteuers auf diese Weise zu retten. Die US-Regierung hatte dem israelischen Militär zumindest ihr stillschweigendes Einverständnis signalisiert und war möglicherweise sogar an der Planung des am 12. Juli eingeleiteten Angriffs direkt beteiligt – das behauptet jedenfalls der amerikanische Journalist Seymour Hersh. [2] Ihre Zielsetzung war einfach: Die Israelis sollten als Teil einer Gesamtoffensive gegen den Iran selbst dem iranischen Einfluss im Libanon, und nach Möglichkeit auch seinem Einfluss auf die Schiiten im Irak, einen vernichtenden Schlag versetzen.

Charles Krauthammer von der Washington Post drückte es so aus:

Eine Niederlage der Hisbollah wäre ein riesiger Verlust für den Iran, sowohl psychologisch als auch strategisch. Der Iran würde seine Stütze im Libanon verlieren. Und damit auch seinen privilegierten Zugang zum Nahen Osten und seinen wichtigsten Machthebel zur Destabilisierung der Region. Es wäre dann für alle Welt ersichtlich, dass er sich bei dem Versuch, zur regionalen Supermacht zu werden, vollkommen übernommen hat. [3]

Die israelische wie die amerikanische Regierung hatten mit einem leichten Sieg gerechnet. Hani Shukrallah, Geschäftsführer der einflussreichen Kairoer Wochenzeitung Al-Ahram, schilderte seine Sicht der Dinge:

Es schien möglich zu sein, der Schlange Hisbollah den Kopf abzuschlagen. Ein Jahr zuvor hatte eine breite Schicht der libanesischen Bevölkerung gegen Syriens politische und militärische Herrschaft über ihr Land aufbegehrt … Washington hatte in Paris, dem vormaligen Hauptrepräsentanten des „alten Europas“, auf einmal einen willfährigen, wenn auch ungewöhnlichen Partner gefunden … Die arabischen Regime mit ihren finsteren Klagen über die wachsende Gefahr eines „schiitischen Bogens“ in ihrer Mitte hatten ihre eigenen Gründe, sich zu wünschen, dass die Hisbollah von der Bildfläche verschwindet … Die Amerikaner und Israelis waren sich ihrer Strategie so sicher, dass sie anfänglich mit einem Erfolg innerhalb einer Woche rechneten. [4]

Es kam aber alles anders:

Auf die erste Woche folgte die zweite, dann die dritte, aber der Libanon brach immer noch nicht zusammen … Siebzehn Tage nach Beginn des israelischen Angriffs auf den Libanon begann Israel mit dem Rückzug seiner Golani-Elitebrigade aus der südlibanesischen Stadt Bint Dschbeil, deren Einnahme nur eine Woche zuvor verkündet worden war. [5]

Was als großartiger militärischer und politischer Vorstoß für Israel und die USA geplant war, verkehrte sich in sein Gegenteil:

Alle schlugen auf einmal einen anderen Ton an. Die Israelis, die anfänglich von der Zerschlagung der Hisbollah gesprochen hatten, redeten nun davon, die Hisbollah-Raketen außer Reichweite der nordisraelischen Städte zu halten. Die US-Außenministerin Condoleezza Rice, die gerade eine Woche zuvor mit dem Veto Washingtons gegen einen Waffenstillstand der Weltöffentlichkeit buchstäblich die Zunge herausgestreckt hatte, kehrte eiligst in die Region zurück und sprach auf einmal von „großen Opfern“, die beide Seiten erbringen müssten. Die Europäer, die sich bisher damit begnügt hatten, wegzusehen, und nur leise von der „Unverhältnismäßigkeit“ der israelischen Reaktion murmelten, waren jetzt … bereit, deren Brutalität und das Blutbad unter Zivilisten offen zu verurteilen … Währenddessen saßen die „arabischen Freunde“ in der Tinte – wieder einmal. Angesichts der aufkochenden Wut der Bevölkerung überschlugen sie sich jetzt regelrecht in dem Versuch, Israel in angemessen empörter und blumiger Rhetorik zu verurteilen. [6]

Der Kontrast zu früheren arabisch-israelischen Kriegen hätte kaum größer sein können. Sie alle endeten mit einem schnellen Sieg der israelischen Armee und prompten Friedensangeboten der arabischen Streitkräfte. Der Krieg von 1967 ist das anschaulichste Beispiel: In nur sechs Tagen schlugen die israelischen Streitkräfte drei arabische Armeen und erlangten die Kontrolle über das Westjordanland, den Gazastreifen, die Golanhöhen (die sie selbst 39 Jahre später noch immer besetzt halten) und die Sinaihalbinsel (die sie nach Unterzeichnung des Friedensabkommens 1977 an Ägypten zurückgaben).

Für eine ganze Generation arabischer Nationalisten bedeutete die Niederlage von 1967 das Ende ihres Projekts der Unabhängigkeit vom Imperialismus und der Befreiung Palästinas. Nun hat eine arabische Armee den Sieg davongetragen. [7] Die Folgen für den gesamten Nahen und Mittleren Osten können immens sein.

Die Stärke der Hisbollah

Neben der Überlegenheit ihrer Waffensysteme, dank der massiven US-Militärhilfe seit Beginn der 1950er Jahre [8], gab es zwei weitere Gründe, warum Israel seine Gegner zuvor so leicht hatte besiegen können:

  • Die Soldaten der israelischen Armee waren viel kämpferischer als ihre arabischen Gegner. Sie hatten sich das Land eines fremden Volkes angeeignet und sahen keine andere Wahl als zu kämpfen, um es zu behalten. In dieser Hinsicht hatten sie Ähnlichkeiten mit einer Bürger- oder Volksarmee, trotz ihrer privilegierten Stellung im Vergleich zu den Arabern. Im Gegensatz dazu bestanden die Armeen der verschiedenen arabischen Staaten aus zwei Gruppen, die beide kein besonderes Interesse hatten, ernsthaft zu kämpfen, wie Tony Cliff anlässlich des Kriegs von 1967 schrieb. [9] Das Offizierskorps war mehr damit beschäftigt, seine gesellschaftlich privilegierte Stellung im eigenen Staat zu bewahren, als Opfer für die Palästinenser zu erbringen. Und von den Bauern, die massenweise zur Armee eingezogen wurden, konnte man schlecht erwarten, dass sie ihr Leben für die Verteidigung des Anspruchs der Palästinenser auf ihr Land riskierten, wenn ihnen selbst dieser Anspruch im eigenen Land weitgehend versagt blieb.
     
  • Die israelische Armee bestand überwiegend aus gebildeten Siedlern mit entsprechenden Kenntnissen im Umgang mit modernen Waffen im Gegensatz zu den arabischen Armeen, in denen mehrheitlich schlecht ausgebildete bäuerliche Wehrpflichtige dienten.

In dem jüngsten Krieg hatte sich das Blatt auf beiden Seiten gewendet:

Die Hisbollah wurde von keiner Regierung aufgebaut und nicht von Mitgliedern einer privilegierten Schicht befehligt, die sich vor allem mit dem eigenen gesellschaftlichen Aufstieg beschäftigen. Vielmehr wurde sie von unten aufgebaut, von Menschen, die sich so gegen die erfahrene Unterdrückung durch andere Gruppen der libanesischen Gesellschaft und die ab 1982 bestehende Besatzung durch die israelischen Streitkräfte wehrten. Sie wurde von Menschen aufgebaut, die sehr wohl wissen, dass sie um das Eingemachte kämpfen, wie bescheiden dieses in manchen Fällen auch sein mag.

Als Ergebnis eines jahrzehntelangen stetigen Bildungsfortschritts schließen derzeit jährlich abertausende Studenten ihr Studium mit den erforderlichen technischen Kenntnissen für den Umgang mit hoch entwickelten Waffen ab. Ein Autor der Hisbollah gibt in seinem Buch den Hinweis: „Dank der wachsenden Präsenz von gebildeten und kultivierten Mitgliedern konnten moderne Computer, Kommunikationstechnologien und Ingenieurskünste gewinnbringend eingesetzt werden.“ [10]

Das ermöglichte es der Hisbollah, „die dezentralisierte Flexibilität einer Guerillastreitmacht mit der technischen Ausgereiftheit einer Nationalarmee zu vereinen und solch ausgeklügelte Waffen wie die ferngelenkte Antischiffsrakete „C-802 Noor“ (eine iranische Variante der chinesischen „C-802 Silkworm“) zu bedienen, durch die am 14. Juli ein israelisches Kriegsschiff getroffen wurde.“ [11]

Während also schließlich eine höher gerüstete arabische Streitmacht entstanden ist, hat die israelische Armee ihrerseits einigen Vorsprung eingebüßt. Die ursprüngliche Sied­ler­gemeinschaft, die entschlossen war, auf dem Land eines anderen Volkes ihre eigene Gesellschaft aufzubauen, ist einer Gesellschaft der zweiten und dritten Generation gewichen, die seit vier Jahrzehnten keine Bedrohung für ihren Wohlstand erlebt hat. Die neuen Siedler (eine Million Russen beispielsweise, deren Zugehörigkeit zum Judentum oft zweifelhaft ist [12]) sind gekommen, um die Früchte dieser etablierten Gesellschaft zu genießen, und nicht, um für deren Aufbau zu kämpfen. Sie werden eingezogen, um die Besatzung im Westjordanland aufrechtzuerhalten. Dazu gehört, Zivilisten von sicheren, befestigten Stellungen und schwer gepanzerten Fahrzeugen aus zu bombardieren, aber nicht wirklich zu kämpfen.

Der ehemalige israelische Minister Jossi Sarid argumentiert:

Die IDF [Israeli Defense Forces – israelische Armee] war auf diesen neuen Krieg im Libanon nicht richtig vorbereitet … Statt sich wie eine Armee vorzubereiten und auch so zu operieren, ist sie wie eine Fremdenlegion oder eine Art Polizei aufmarschiert und ist entsprechend vorgegangen … Während der Intifada-Jahre wurde den jungen Soldaten und Offizieren erzählt, sie befänden sich im Krieg … Aber zwischen dem Kampf in den [besetzten] Gebieten und einem Krieg gibt es höchstens vage Ähnlichkeiten … Die Umzingelung eines Hauses, um gesuchte Terroristen festzunehmen – das ist kein Krieg. Gezielte Morde – das ist kein Krieg. Razzien in Fabriken – das ist kein Krieg. Sogar die Belagerung des Hauptquartiers von Jassir Arafat in Ramallah ist keine Militäraktion, die Stoff für Bücher hergibt. Fast alles, was in den besetzten Gebieten seit dem Einmarsch der IDF passiert, ist in Wirklichkeit bloß eine Luxusvariante von Krieg. [13]

Nachdem also die israelischen Streitkräfte vergeblich versucht hatten, die Zivilbevölkerung durch Luftangriffe zu terrorisieren und zu unterwerfen, stießen sie mit ihren Panzern in den Libanon vor und wurden zu einer leichten Zielscheibe für die Panzerfäuste der Hisbollah. Israel hatte in den ersten Kriegstagen gemeinsam mit den USA und Großbritannien alles daran gesetzt, einen Waffenstillstandsaufruf der UN zu vermeiden, begrüßte jedoch einen Monat später sichtlich erleichtert die amerikanisch-französische Zustimmung zur Aufstellung einer internationalen Streitmacht nach UN-Resolution 1701, um das zu tun, was den Israelis nicht gelungen war, nämlich die Aktivitäten der Hisbollah in dem Gebiet zwischen der israelischen Grenze und dem Litani zu beenden.

Die Gründe für den Erfolg der Hisbollah

Der Bericht eines Hisbollah-Mitglieds liefert zwei Erklärungen, warum die Hisbollah militärisch erfolgreicher ist als früherer arabischer Widerstand gegen Israel: Zum einen sei es „der Glaube der Kämpfer an die Sache“ [14] und zum anderen die Vorsicht der Hisbollah, nicht in die „Falle“ der „Unterordnung“ unter die Politik von Staatsmächten zu geraten. [15]

Die Erfolglosigkeit früherer arabischer Armeen gegenüber israelischer Aggression liegt jedoch nicht daran, dass sie von Regierungen befehligt wurden. Viel wichtiger war, dass die Regierungen und ihre Armeen den Klassencharakter ihrer Gesellschaften widerspiegelten. Die Armeen, die 1948 so kläglich scheiterten, wurden von Regimes kommandiert, die die Interessen der alten „feudalen“, also landbesitzenden Klassen vertraten und von den westlichen Kolonialmächten eingesetzt worden waren – wobei die schlagkräftigste Armee in der Region, die jordanische, von britischen Offizieren kommandiert wurde. [16] Die unterschiedliche Interessenlage der beteiligten herrschenden Klassen verhinderte eine strategische oder militärische Koordination, weshalb der Krieg zwar ein Kampf gegen die Israelis war, gleichzeitig aber auch ein Wettstreit untereinander um das palästinensische Land.

Noch vor dem Krieg von 1967 wurden diese Regime durch revolutionäre Bewegungen und Militärputsche gestürzt und durch zumindest verbal dem arabischen Nationalismus verpflichtete Regierungen ersetzt, die von einer einzigen arabischen Nation „vom Atlantik bis zum Golf“ im Interesse der Bevölkerung sprachen. Es wurden substanzielle Reformen durchgeführt, große Landgüter aufgeteilt und ein Großteil der Industrie verstaatlicht. Die verantwortlichen Offiziere setzten aber diese Reformen im Interesse jener Klasse um, der sie selbst angehörten. Als aufstrebender Flügel der Mittelschicht wollten sie den Staat in den Dienst ihres eigenen Fortkommens stellen. Das zeigte sich an dem Verhalten der Mehrheit des Offizierkorps. Sie brachten nur wenig mehr Hingabe, Mut und Kompetenz auf als ihre Kollegen 1948. Trotz des ganzen Geredes von der „arabischen Nation“ standen ihre Klasseninteressen an erster Stelle, und diese waren untrennbar verbunden mit dem Erfolg des eigenen Nationalstaats und nicht mit einem vereinten, koordinierten Kampf gegen Israel. Davon zeugten ihre Unfähigkeit in strategischen und taktischen Fragen sowie ihr Unwillen, die israelische Armee in Guerillakämpfe zu verwickeln, die ihre materiellen Interessen hätten gefährden können.

Unmittelbar nach der Niederlage von 1967 verglich Tony Cliff die verheerende Strategie des bedeutendsten arabischen nationalistischen Regimes, nämlich Nassers Ägypten, mit der Strategie der Nationalen Befreiungsfront in Vietnam gegen die USA:

Die Stärke jeder antiimperialistischen Befreiungsbewegung liegt bei den mobilisierten Arbeitern und Bauern, in ihrer Selbstaktivität und in der richtigen Auswahl des schwächsten Glieds in der imperialistischen Kette. Daher hat die Nationale Befreiungsbewegung (NLF) in Vietnam vollkommen Recht, wenn sie sich auf große Guerillaeinheiten und Armeen stützt und die US-Armee und deren Anhänger aufreibt. Die potenzielle Macht der arabischen Befreiungsbewegung liegt bei den Arbeitern und Bauern. Ihre Angriffsziele sollten die Ölfelder, die Pipelines und Raffinerien sein. Die Bauern sollten eine revolutionäre Landreform durchführen, um so die soziale Basis für einen Guerillakrieg zu schaffen. Nassers Militärangriff gegen Israel ist das genaue Gegenteil der Politik und Taktik der NLF. [17]

Die arabischen nationalistischen Regime, die als Klassenregime in den Kapitalismus integriert sind, waren nicht zu der Kriegsführung fähig, mit der Israel und seine Helfershelfer hätten geschlagen werden können. Und nachdem sie zum dritten Mal und trotz einiger anfänglicher Erfolge im Jom-Kippur-Krieg von 1973 Israel nicht in die Knie zwingen konnten, zogen sie die Konsequenz und schlossen ein Abkommen nach dem anderen mit dem Imperialismus und sogar – im Fall von Nassers Nachfolgern in Ägypten – mit Israel.

Dagegen steht der Erfolg der Hisbollah, und die Ursache ist nicht, dass sie nicht die Staatsmacht innehat, sondern dass sie aus einem von unten aufgebauten Widerstand entstanden ist.

Die Hisbollah nach dem gewonnenen Krieg

Die Schiiten des Libanon waren schon immer der am meisten unterdrückte Teil der Bevölkerung. Das heißt nicht, dass sie sich ausschließlich aus Arbeitern oder Bauern zusammensetzten. Es gab unter ihnen immer schon eine Hand voll sehr wohlhabender Familien neben einer Schicht von Ladenbesitzern, Händlern und Freiberuflern. Aber der Prozentsatz der Schiiten, die zu den unteren Gesellschaftsklassen gehörten, war wesentlich höher als bei den anderen Religionsgemeinschaften des Landes – sie waren „überrepräsentiert in den unterentwickelten Sektoren von Industrie und Landwirtschaft.“ [18] Sogar die Mittelschicht sah sich eingezwängt in der vom französischen Imperialismus ererbten Staatsstruktur, in der sich die Führer der maronitischen Christen, der sunnitischen Muslime und der Drusen die politische Macht teilten. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit von den Franzosen waren 40 Prozent aller Führungsposten im Staatsdienst von Maroniten besetzt, 27 Prozent von Sunniten und lediglich 3,2 Prozent von Schiiten. [19] Dieses Diskriminierungsmuster blieb – wenn auch weniger stark ausgeprägt – im Wesentlichen bis zum Taif-Abkommen von 1989 bestehen, das dem Bürgerkrieg ein Ende setzte.

Zweierlei trug zur Entstehung der Hisbollah als Bewegung bei. Das Erste war die iranische Revolution von 1979, durch die ein von schiitischen Geistlichen angeführtes Regime an die Macht kam. Einige der schiitischen Geistlichen im Libanon hatten enge Bildungs- und Familienbeziehungen zu den Siegern im Iran. Aus deren Ideologie der Befreiung von Unterdrückung und Armut durch die Schaffung einer islamischen „Gemeinschaft“, die Reiche wie Arme vereinigt und Gier und Vereinzelung infolge „westlicher Einflüsse“ überwindet, schöpften sie ihre Ideen. Durch religiöse Predigten und die Schaffung einer „soziopolitischen Bewegung mit der vordringlichen Aufgabe, die Armut zu lindern“ – vor allem im Süden des Libanon, der östlich gelegenen Bekaa-Ebene und den „Elendsvororten um Beirut“ –, versuchten sie, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. [20]

Das Zweite waren die israelischen Angriffe auf den Libanon in den Jahren 1978 und 1982, um die Palästinenserbewegung zu zerschlagen. Es stellte sich bald heraus, dass vor allem die mehrheitlich schiitische Bevölkerung im Südlibanon die Hauptlast der israelischen Besatzung zu tragen hatte. Die radikale schiitische Geistlichkeit begann im Bekaatal mit Hilfe einer großen Abordnung Revolutionärer Garden aus dem Iran eine Guerillaorganisation aufzubauen, die der israelischen Besatzung gewachsen war. Die Ausbildung beschränkte sich nicht auf militärische Aspekte. Dazu gehörte auch eine grundlegende religiöse Schulung, um eine tiefe Hingabe an den Kampf zu entwickeln. In einem Bericht hieß es:

Die Kämpfer der Hisbollah müssen sich dem größeren Dschihad unterziehen, der geistig-religiösen Wandlung, wenn sie den kleineren Dschihad meistern wollen, also den bewaffneten Kampf, der Märtyrertum erfordert. Weil sie ihr Selbst und ihre irdischen Begierden überwanden und die Tugenden des Märtyrertums annahmen, konn­ten die Hisbollah-Kämpfer Angst und Schrecken unter ihren Feinden säen. [21]

Ihre Bereitschaft zum Märtyrertum galt als wesentlich für den Kampf, denn das „Machtungleichgewicht“ infolge des Waffenarsenals der Israelis „konnte nur durch das Märtyrertum ausgeglichen werden“. [22] Ein sehr tief verankertes schiitisches religiöses Empfinden war nötig, um die erforderliche Geisteshaltung herbeizuführen. Allerdings waren Selbstmordattentate keineswegs die hauptsächliche Kampfform.

„Vorrang haben jene Methoden, die kein Märtyrertum erfordern … Es wurden lediglich zwölf Operationen mit Autobomben registriert.“ Zum Märtyrertod kam es meistens im Zuge „atypischer“ Operationen, in denen der Tod „ein vorhersehbares Ergebnis“ darstellte. [23]

Wesentlich für die Strategie der Hisbollah gegen die israelische Besatzungsarmee im Südlibanon in den Jahren 1982 bis 2000 waren Überraschungsangriffe und nicht scheinbar heldenhafte, in Wirklichkeit aber verheerende Zusammenstöße unter Bedingungen, die der Gegner diktierte. So stieg die Zahl der Operationen von 100 in den Jahren 1985 bis 1989 auf 1.030 in den Jahren 1990 bis 1995 und auf 4.928 von 1996 bis 2000 [24], als die israelischen Streitkräfte schließlich ihren ungeordneten Rückzug antraten, was das Ansehen der Hisbollah enorm steigerte. Nach einigen Quellen zählte die Hisbollah vor drei Jahren „20.000 Kämpfer und 5.000 Sicherheitskräfte“. [25]

Ihre Popularität war so groß, dass sich sogar Nichtschiiten dem aktiven Widerstand anschließen wollten und gesonderte Guerillaeinheiten für sie geschaffen wurden, wobei die Oberaufsicht in den Händen der „Frommen“ blieb. Nach Hamzehs Angaben umfasst die Islamische Strömung der Hisbollah sunnitische Gruppen, die ihre Aktivitäten mit der Hisbollah absprechen, sowie libanesische Widerstandsbrigaden aus Islamisten und Nichtislamisten. [26] Während des 33-Tage-Kriegs koordinierte sie auch ihre Aktivitäten mit unabhängigen Widerstandsorganisationen wie denen der Kommunistischen Partei Libanons.

Die Hisbollah begann nicht als militärische Organisation, und auch heute ist sie weit mehr als das. Ihr Wohlfahrtsnetz bestehend aus Kliniken, Krankenhäusern, Schulen, Gemeinde- und Bildungsbeihilfen hat sie erheblich ausgeweitet. Nach einigen Schätzungen ist es heute in den südlichen Vororten Beiruts, im Bekaatal und im Südlibanon größer als das des libanesischen Staats. [27] In ihren medizinischen Einrichtungen werden angeblich eine halbe Million Menschen jährlich behandelt. Und um ihre Unterstützerbasis zu erweitern, ist sie dazu übergegangen, in ihren Gebieten auch Sunniten, Christen und Drusen zu versorgen.

Sie hat mit al-Manar einen modern ausgestatteten Fernsehsender, der „mit seinen hunderten von Angestellten die Atmosphäre eines Konzerns ausstrahlt“ [28], und ihre „Gewerkschaftsabteilung hat Vertreter in der Libanesischen Arbeiterföderation, den libanesischen Gewerkschaften, der Libanesischen Vereinigung der Landwirte, der Libanesischen Vereinigung der Hochschulangestellten, dem Ingenieursverband und der Libanesischen Studentenvereinigung“. [29]

Dieses Netz aus volksnahen Aktivitäten und Organisationen erklärt den großen Rückhalt, den die Hisbollah in der Bevölkerung hat und der ihr ermöglichte, unmittelbar vor den Geschützen der israelischen Panzer zu operieren. Dieses Netz ermöglichte es der Hisbollah, sich selbst im Zentrum der libanesischen öffentlichen Institutionen zu etablieren. Lokalbehörden und Parlamentsabgeordnete stehen unter ihrem Einfluss, und seit dem letzten Jahr hat die Partei zwei Vertreter in der Regierung.

Dadurch ist sie allerdings zu einem Spagat gezwungen:

Zum einen musste sie einen Kompromiss hinsichtlich ihrer religiösen Basis eingehen. Die Schiiten sind die größte Minderheit in der libanesischen Gesellschaft, dennoch sind sie eine Minderheit, und unter den Schiiten gibt es neben der Hisbollah noch weitere politische Kräfte. Um unter solchen Bedingungen den Einfluss der Organisation zu festigen, und um die Gefahr eines neuen Bürgerkriegs entlang konfessioneller Trennlinien abzuwenden, hat die Hisbollah-Führung ihre Forderung nach einem schiitisch-islamischen Staat fallenlassen, die sie unter Chomeinis Einfluss ursprünglich erhoben hatte. [30]

Der parteieigene Historiker der Hisbollah, Qassem, belegt anhand von Zitaten, dass der Koran einen Zwang in Religionsfragen ablehnt, und er argumentiert, dass deshalb „ein islamischer Staat nicht geschaffen werden kann, indem eine Gruppierung oder ein Flügel ihn in Beschlag nimmt, um ihn anschließend anderen Gruppierungen aufzuzwingen“. Die Hisbollah, schreibt er, fordere „die Implementierung des islamischen Systems auf der Grundlage direkter und freier Wahlen durch das Volk und nicht durch eine zwangsweise Einführung …“ Und: „Wir glauben, dass unsere politische Erfahrung im Libanon ein Muster zu Tage gefördert hat, das sich mit einer islamischen Vision von einer gemischten Gesellschaft vereinbaren lässt – in einem Land, das nicht einer islamischen Denkweise folgt.“ [31] Bei Gemeindewahlen stellte die Hisbollah wirtschaftliche und soziale Fragen in den Vordergrund. Sie „präsentierte ihre Kandidaten auf einer nichtkonfessionellen Plattform und stellte Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit in der Gemeindearbeit in den Vordergrund“. [32]

Das heißt nicht, dass sich die Hisbollah in eine liberale Freidenkerorganisation verwandelt hätte. In der Vergangenheit hat sie ihre Gegner mit Waffengewalt zur Räson gebracht, Anfang der 1980er Jahre traf es manche kommunistische Widerstandskämpfer sowie die ebenfalls schiitische Konkurrenzorganisation Amal (obwohl viele kommunistische Aktivisten kurz danach zur Hisbollah wechselten und Hisbollah heute sowohl mit der Kommunistischen Partei als auch mit Amal zusammenarbeitet). Ihre Führer sind nach wie vor einer religiösen Vision verbunden und geben sich große Mühe, in den von ihnen kontrollierten Gebieten Zustimmung für ihre Vorstellungen zu gewinnen (beispielsweise für die Verschleierung von Frauen). Wo sie können, versuchen sie, entsprechend ihrer Auslegung der Scharia Recht zu sprechen (in der die Rolle islamischer Richter bei der Vermittlung in Konfliktfällen stark betont wird, um die alten Blutrachetraditionen zwischen den Familien zu durchbrechen). [33] Dass aber ihre Anführer auch Nichtschiiten und sogar nichtreligiösen Kräften die Hand reichen, um den „großen Satan“ USA und den „kleinen Satan“ Israel zu be­kämpfen, steht im Widerspruch zu ihrem eng religiösen Ausgangspunkt und ist mit ein Grund für vergangene Spaltungen innerhalb der Hisbollah-Führung. [34] Dieser Widerspruch wird sich noch vertiefen mit dem weltweit zunehmenden Widerstand von Nichtschiiten und Nichtmuslimen gegen den Imperialismus.

Dieser Widerspruch geht zudem mit weiteren Kompromissen mit noch ganz anderen Kräften einher: mit dem libanesischen Staat, den übrigen politischen Parteien im Land – einschließlich derer, die sich auf die Seite des Imperialismus geschlagen haben – und den arabischen Anrainerstaaten. Das libanesische politische System beruht auf Abkommen der Führungen der verschiedenen Religionsgemeinschaften untereinander, um sich Zugang zu staatlichen Pfründen zu verschaffen, womit sie sich die Treue ihrer jeweiligen Anhängerschaft sichern. In einem solchen Geflecht können große Konflikte zwischen den verschiedenen Parteien entflammen und sogar militärisch ausgetragen werden, ohne dass das politische und ökonomische System an sich in Frage gestellt wird.

Nachdem die Hisbollah anfangs dieses System angegriffen hatte, hat sie nun entschieden, ein Teil davon zu werden. Daraus folgten Wahlabkommen nicht nur mit der antiimperialistischen Linken, sondern ebenfalls mit der proimperialistischen Rechten. Bei den Wahlen stellte sie Gemeinschaftslisten mit der Kommunistischen Partei in Nabatijeh und Tyrus auf, schloss sich aber in Beirut der Liste von Saad Hariri an, dem mit Saudi-Arabien liierten Milliardärssohn des ermordeten Premierministers Rafik Hariri. Sie rechtfertigte diesen Handel mit ideologischen und politischen Gegnern mit dem Argument, „das konfessionelle Gleichgewicht aufrechterhalten zu wollen“. [35] Das jüngste Abkommen schloss sie mit Michel Aoun, dem maronitischen General und Ministerpräsidenten in der Endphase des Bürgerkriegs der 1980er Jahre.

Es wird behauptet, dass dieses Vorgehen der Hisbollah während der Konfrontation mit Israel einen gewissen Schutz gewährte. Aoun war nach 15 Jahren im Exil bestrebt, seine eigenen Ansprüche auf den Präsidentschaftsposten zu fördern und unterstützte die Hisbollah tatsächlich bis zu einem gewissen Grad, beispielsweise indem er für die Aufnahme tausender Flüchtlinge in christlichen Dörfern des Libanongebirges sorgte. Der prowestliche Hariri-Block hingegen, der die Regierung beherrscht, hatte gehofft, die Israelis würden die Hisbollah zerschlagen und er selbst die Kontrolle über den Süden des Landes übernehmen können. [36] Einen wirklichen Schutz für die Hisbollah bot nur ihre breite soziale Basis und ihre Kampffähigkeit – hätte diese auch nur vorübergehend nachgelassen, hätten die meisten ihrer „Verbündeten“ in treuer Freundschaft zu Washington, Paris oder Riad ihr den Dolch in den Rücken gestoßen. Allerdings engen diese Abkommen den Handlungsspielraum der Hisbollah zweifellos ein.

Früher stimmte die Hisbollah gegen Rafik Hariris Haushaltspläne mit dem Argument, die libanesische Regierung führe sich wie ein „Aufsichtsrat“ auf und Hariri leite das Land wie eines seiner Unternehmen. [37] Mit ihrem Eintritt in die Regierung im letzten Jahr entschloss sie sich, das bestehende System zu akzeptieren. Damit hat sie noch weniger Möglichkeiten als zuvor, die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern, unter denen sie ihre politische Basis aufgebaut hat, und es wird noch schwieriger, den starken Einfluss konfessionell spaltender Politiker auf die jeweilige Anhängerschaft zu untergraben. Die Hisbollah mag in der Lage sein, bestimmte Wohlfahrtsleistungen durch ihre eigenen karitativen Netze zu erbringen. Diese aber sind kein Ersatz für Leistungen, die der Staat erbringen sollte und auch könnte, wäre er nicht mit dem neoliberalen Kapitalismus verflochten.

Solche politischen Manöver untergraben auch die Fähigkeit der Hisbollah, den Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus so zu führen, wie sie sich das möglicherweise vorstellt. In der Schlussphase des 33-Tage-Kriegs wurde großer Druck auf die Hisbollah ausgeübt, das endgültige Waffenstillstandsabkommen zu unterschreiben, und sie gab schließlich nach. Im Rahmen des Abkommens durften israelische Streitkräfte im Südlibanon bleiben, die israelische Blockade blieb bestehen und es kamen französische Truppen ins Land, obwohl die französische Regierung und die USA sich darauf geeinigt hatten, dass die Hisbollah entwaffnet werden sollte. Ihr Anführer Nasrallah erklärte: „Wir sehen hier das vernünftige, das mögliche und natürliche Resultat der großartigen Standhaftigkeit der Libanesen entsprechend ihren unterschiedlichen Auffassungen.“ [38]

Die proamerikanische Regierung „drohte zusammenzubrechen“, als ihre Hoffnungen auf einen schnellen israelischen Sieg verflogen. „Ihr nacktes Überleben hing von der Hisbollah ab. Die Partei sieht keine Alternative zu einem ‚breiten Konsens‘.“ Seit dem Sieg der Hisbollah jedoch „tut die Siniora-Regierung alles, Anstrengungen für einen Wiederaufbau zu blockieren und zu torpedieren, während sie US-amerikanisches Geld annimmt … Das jüngste Beispiel ist das Regierungsveto gegen den Vorschlag des Arbeitsministers und Hisbollah-Vertreters in der Regierung, Hilfszahlungen an jene zu leisten, die durch den Krieg ihren Arbeitsplatz verloren haben.“ [39]

Es handelt sich nicht nur um Kompromisse in innenpolitischen Fragen. Die Hisbollah hatte sich lange Zeit auf ihr Bündnis mit Syrien verlassen. Naim Qassem gibt die offizielle Denkart der Hisbollah wieder, wenn er sagt, dass „es nur natürlich ist, wenn sich die Ansichten der Hisbollah mit denen Syriens decken, denn niemand ist vor Israels Ambitionen sicher“, und dass „die Beziehungen zu Syrien … den Eckstein für die Bewältigung zentraler regionaler Verpflichtungen“ bilden. [40] Aber das syrische Regime lässt sich nicht von antiimperialistischen, nicht einmal von antizionistischen Prinzipien leiten. Im ersten US-Krieg gegen den Irak bot es den USA willig seine Hilfe an. Schon zuvor, im Jahr 1976, intervenierte Syrien im Libanon, um den zu erwartenden Sieg des Bündnisses von Linken mit Palästinensern in der ersten Phase des Bürgerkriegs zu vereiteln, und stellte sich Mitte der 1980er Jahre den Palästinensern in den Weg, als diese Militärstützpunkte im Süden aufbauen wollten. Qassem räumt ein: „Syrien brachte 27 Parteimitglieder um, als es 1987 in Beirut einmarschierte, um den Bürgerkrieg zu beenden.“ [41] Es ist ein offenes Geheimnis, dass Syrien schon morgen ein Abkommen mit Israel (und auch mit den USA) schließen würde, wenn es die von Israel im Jahr 1967 besetzten Golanhöhen zurückbekäme.

Die Hisbollah schaut aber nicht nur auf Syrien. Qassem besteht darauf, dass keiner der arabischen Staaten gestürzt werden müsse, möge er durch die Zusammenarbeit mit dem Imperialismus und dem Zionismus noch so kompromittiert sein. Sie „müssen einiges ändern und sich mit ihren Völkern aussöhnen“ [42], und „aktive gesellschaftliche Kräfte müssen sich anstrengen und zu einer positiven Transformation mit politischen Mitteln und ohne Waffengewalt beitragen“. [43] Aber „wer auch immer die Losung ausgibt, Palästina könne nur befreit werden, wenn zuvor die arabischen Regime befreit würden, ist auf dem Irrweg und er­schwert lediglich die Aufgabe der Befreiung“. [44]

Dementsprechend hat die Hisbollah die Einmischung Katars im Süden begrüßt. Die Katarer haben trotz ihrer engen Beziehungen mit den USA und mit Israel grünes Licht erhalten, den Süden wieder aufzubauen. Dafür werden wir einen politischen Preis zahlen müssen. Nur wenige Parteimitglieder haben Ägypten, Jordanien oder Saudi-Arabien verurteilt – dafür umso mehr Menschen, die der Partei nahe stehen. [45]

Eine Lehre aus der Vergangenheit

Keine arabische Armee hat so viel erreicht wie die Hisbollah während des 33-Tage-Kriegs. Das ist allerdings nicht das erste Mal, dass eine Guerillakraft entsteht, die anscheinend besser als ein arabischer Staat zu kämpfen vermag. Eine solche Bewegung entstand bereits in Gestalt der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO nach der Niederlage von 1967. [46] Nicht nur für Palästinenser, sondern auch für Aktivisten im gesamten Nahen Osten bildete die PLO einen Anziehungspunkt, nachdem die arabischen Regime, ob alten oder neuen nationalistischen Schlages, versagt hatten. Ein palästinensischer Student schrieb unter dem Namen Ibrahim Ali Anfang 1969:

Der Junikrieg, der die Korruptheit und den Bankrott dieser Regime teilweise ans Tageslicht brachte, hat die Palästinenser gezwungen, ihr Verhältnis zu diesen Staaten neu zu bewerten … Das zeigte sich an der großen Unterstützung der Bevölkerung für die von den arabischen Regierungen unabhängig handelnden Guerillaorganisationen. [47]

Die palästinensische Partisanenorganisation Fatah schaffte es, dieses Gefühl in ihre Bahnen zu lenken und die Führung der palästinensischen Bewegung nach ihrem beachtlichen Sieg über die Israelis im März 1968 an sich zu reißen, nur neun Monate nach der Niederlage von 1967. Die Israelis hatten einen Großangriff gegen das jordanische Dorf Karameh eingeleitet, in dem die Fatah ihr Haupt­quartier hatte. Die Guerillas wehrten den israelischen Angriff so lange ab, bis sich die jordanische Armee in die Schlacht einmischen musste. Am Ende hatten die Israelis 28 Tote, 80 Verletzte und den Verlust von vier Panzern zu beklagen. [48]

Aber Karameh stellte sich bald als Eintagsfliege heraus. Die PLO hatte gesiegt, weil die Israelis in ein Gebiet vorgerückt waren, in dem die Palästinenser bereits bewaffnet waren, und weil die reguläre jordanische Armee eingegriffen hatte. Das konnte aber kein Leitfaden dafür sein, die israelische Armee auf der anderen Seite des Jordans, in Palästina selbst, erfolgreich herauszufordern. Ibrahim Ali stellt richtigerweise fest:

folgte nicht die Schaffung von Guerillastützpunkten in den israelisch besetzten Gebieten. Das ist nicht allein mit der Wachsamkeit der Israelis und ihrer Politik der schweren Vergeltungsschläge zu erklären. Die meisten öffentlichen Bediensteten im Westjordanland erhalten doppelte Bezüge, nämlich von den Jordaniern und den Israelis. Der Wirtschaftsverkehr zwi­schen Ost- und Westjordanland läuft normal weiter, während israelische Flugzeuge Napalmbomben über arabischen Dörfern abwerfen. Die Israelis fahren eine Doppelstrategie: schwere Vergeltungsschläge auf der einen und Zugeständnisse auf der anderen Seite. Ob­wohl alle Guerillaorganisationen zum bewaffneten Kampf aufrufen, der zu einem entzionisierten und demokratischen binationalen Staat führen soll, hat keine bislang ein entsprechendes Pro­gramm entworfen. [49]

Es hätte nur eine Möglichkeit für die palästinensischen Guerillaorganisationen gegeben, das Kräftegleichgewicht entschieden zu ihren Gunsten zu verschieben: wenn sie zu einer revolutionären Veränderung in dem einen oder anderen Anrainerstaat Israels beigetragen hätten. Dafür gab es gute Gelegenheiten, vor allem in Jordanien. Die Monarchie war zunehmend instabil, nachdem die Armee die Hälfte ihres fruchtbaren Landes an Israel verloren hatte (das Westjordanland war bis 1967 Teil des jordanischen Königreichs), und angesichts einer palästinensischen Bevölkerungsmehrheit in den ihr verbliebenen Gebieten. Ihre Schwäche zeigte sich darin, dass sie die von der Fatah angeführte PLO quasi als Staat im Staat gewähren lassen musste. Aber anstatt den revolutionären Sturz der Monarchie anzustreben, die von den Briten eingesetzt worden und in Geheimverhandlungen mit den Israelis zur Aufteilung Palästinas 1947/48 verstrickt war, verfolgte die Fatah-Führung in Jordanien eine Politik der „Nichteinmischung“. Auf die Frage, was aus den reaktionären arabischen Regimes werden solle, wiesen selbst eher linksorientierte Persönlichkeiten der Fatah auf den alten arabischen Spruch hin, es sei nicht nötig, die Frucht vom Baum zu pflücken, wenn er bald von einem Sturm geschüttelt werde – und der Sturm sei eben die Niederlage des Zionismus. [50] Währenddessen wandte sich die PLO mit der Bitte um finanzielle Unterstützung an die arabischen Staaten, einschließlich der reaktionärsten Re­gime der Golfregion, und schneiderte ein entsprechendes politisches Programm.

Die Folgen wurden sichtbar, als die jordanische Monarchie beschloss, die PLO im „Schwarzen September“ von 1970 aus dem Land zu vertreiben. Noch wäh­rend sie belagert wurde schloss die PLO wiederholt kurzfristige Waffenstillstandsabkommen mit der Monarchie, anstatt auf die revolutionäre Strategie zu setzen und die Treue der jordanischen Soldaten zu ihrer Monarchie zu durchbrechen. Diese erhielt so die notwendige Verschnaufpause, um die Disziplin ihrer Streitkräfte vor dem nächsten Angriff zu festigen. Noch inmitten der Katastrophe ließ sich Fatah-Führer Arafat mit dem jordanischen König Hussein fotografieren, als er diesen wie einen „arabischen Bruder“ umarmte. [51] Hussein erwiderte diese Geste, indem er Arafat und seine Kräfte zwang, das für die Organisierung eines Guerillakriegs gegen Israel bestens geeignete Land zu verlassen.

Die Haltung der Fatah ist nur zu verstehen, wenn man ihre Klassenlage begreift. Obwohl die breite Masse der palästinensischen Bauern, Arbeiter und Flüchtlinge sich in hohem Maße mit ihr identifizierte, stand sie politisch und militärisch unter der Leitung von Mitgliedern der Mittelschichten, die ganz ähnliche An­schauungen wie die Anführer der arabischen nationalistischen Regierungen hatten. Arafat und die anderen palästinensischen Guerillaführer hatten in der Regel angesehene Berufe und ihre Karrieren beispielsweise als Tiefbauingenieure in den ölreichen Golfstaaten begonnen. Die Fatah-Organisation war hierarchisch organisiert, in den Führungspositionen saßen Menschen ähnlicher sozialer Her­kunft, und ihre Einkünfte betrugen das Vielfache eines einfachen Kämpfers. Für Menschen aus dieser Klasse war es ganz selbstverständlich, sich politisch an die palästinensischen Mittel- und Oberschichten zu wenden und die israelische Besatzung abzulehnen, jedoch die Klassenbasis für die eigenen Privilegien weder in Palästina noch im Exil in Frage zu stellen.

Die gleiche Logik war am Werk, als die PLO nach dem Schwarzen September einen Stützpunkt im Südlibanon gefunden hatte. Das Potenzial für revolutionäre Aktionen zeigte sich 1975, als palästinensische Kräfte sich mit der libanesischen Linken zusammenschlossen und einen Kampf gegen gesellschaftliche und wirtschaftliche Ausgrenzung aufnahmen, in dessen Verlauf das Regime beinahe gestürzt wurde. Nur durch das Eingreifen Syriens und mit Hilfe der USA konnte diese Bewegung niedergeschlagen werden. Danach allerdings nahm die PLO-Kontrolle im südlichen Libanon zusehends Züge einer Fremdbesatzung an. Ihr wurde vorgeworfen, die örtliche Bevölkerung zu unterdrücken und zu schikanieren und das Banditentum zu fördern. Eine von oben organisierte Militärorganisation unter kleinbürgerlicher Führung konnte nicht regieren, ohne die Interessen der unter ihr stehenden Menschen mit Füßen zu treten.

Als die erste Intifada von 1987 bis 1990 die israelische Regierung schließlich doch zu ernsthaften Verhandlungen zwang, gab sich die PLO mit einer zersplitterten Macht über Inseln im Westjordanland und im Gazastreifen zufrieden. Sie hoffte darauf, im Kleinen die Hebel der Staatsmacht nutzen zu können, um ihre Interessen zu fördern, was ihr im Großen nur gelingen konnte, wenn sie die gesamte arabische Welt revolutionär herausforderte. Dieser Kompromiss ließ Israel freie Hand, seine Siedlungen auszudehnen. Zugleich schuf die PLO schein­staatliche palästinensische Institutionen, die schon bald für ihre Korruption, Unfähigkeit und Repression berüchtigt waren. Es schien, als würden sich sämtliche Unzulänglichkeiten der arabischen Regime, die sie nachzuahmen versuchte, in den kleinen, der PLO zugestandenen Enklaven konzentrieren.

Die Klassenbasis der Hisbollah

Auch die Hisbollah läuft Gefahr, den gleichen Weg wie die PLO seit so vielen Jahren einzuschlagen, wenn sie sich auf politische Geschäfte mit dem eigenen Staat verlässt und eine revolutionäre Vorgehensweise gegenüber den anderen Staaten ablehnt. Wenn sie das tut, wird sie ihren Sieg vom Sommer nicht in eine aktive Strategie gegen die Herrschaft des israelischen Staats über die Palästinenser oder die imperialistischen Pläne für die gesamte Region verwandeln können.

Durch ihr Vorgehen verfängt sich die Hisbollah in Abkommen und Kompromissen. Das Netz an Wohlfahrtsorganisationen, das zur Festigung ihrer Unterstützung in der Bevölkerung eine so wichtige Rolle spielt, ist nicht vom Himmel gefallen. Es muss finanziert werden. Die Geldmittel speisen sich im Wesentlichen aus zwei Quellen: Zum einen kommen sie vom iranischen Staat, in dem einflussreiche politische Kräfte agieren, die sich sofort auf einen Handel mit den USA einlassen werden, wenn der Iran als bedeutende Regionalmacht anerkannt wird. Zum anderen kommen sie von der schiitischen Mittelschicht und Geschäftsleuten im Libanon und im Ausland. Nach Hamzah ist die Hisbollah auf „Spenden von Einzelpersonen, Gruppen, Geschäften, Unternehmen und Banken im Lande ebenso wie aus den USA, Kanada, Lateinamerika, Europa oder Australien“ angewiesen und auf parteieigene Geschäftsinvestitionen in „dutzende Supermärkte, Tankstellen, Einkaufspassagen, Restaurants, Bauunternehmen und Reisebüros“, die von „Libanons freier Marktwirtschaft profitieren“. [52]

Da überrascht es nicht, wenn eine Organisation, deren Überleben so sehr vom reibungslosen Funktionieren innerhalb des Kapitalismus abhängt, ein „konservatives“ Wirtschaftsprogramm [53] daheim vertritt und den Sturz von benachbarten arabischen Regierungen ablehnt. Das erinnert daran, wie sehr der soziale Radikalismus von IRA/Sinn Feín durch ihre Abhängigkeit von Geldern wohlhabender Unterstützer in den USA gebremst wurde, als sie noch einen Guerillakrieg in Nordirland führte.

Ihre Arbeit im Rahmen des Systems kann der Hisbollah, wie damals schon der PLO, in anderer Hinsicht schaden. Ihre Kompromisse bedeuten, dass zur Aufrechterhaltung ihres politischen Netzes sich die radikalen, antiimperialistischen und antizionistischen Glaubensführer an der Spitze der Organisation auf eine Schicht aufstrebender Angehöriger höherer Berufe verlassen müssen. „Die von der Hisbollah unterstützten Kandidaten und Listen im Jahr 2004 bestanden hauptsächlich aus Freiberuflern: Ingenieuren, Ärzten, Rechtsanwälten und Ge­schäftsleuten.“ [54] Mit solchen Leuten, die in verantwortlichen Posten ihre Politik umsetzen, wundert es nicht, wenn die im Aktionsprogramm für die Kommunalwahlen festgehaltenen wirtschaftlichen und politischen Forderungen kaum radikaler als die von New Labour ausfallen:

  • Ermutigung der Bürger, sich aktiver bei Auswahlverfahren für Entwicklungsprojekte einzubringen.
     
  • Erweiterung von Funktionen und Befugnissen der Gemeinden hinsichtlich Bildungs-, Gesundheits- und sozioökonomischen Einrichtungen.
     
  • Einbeziehung von Fachkräften in Entwicklungsprojekte.
     
  • Finanzierung von Entwicklungsprojekten durch Gemeindeeinkünfte und Spenden.
     
  • Effektive Kontrolle öffentlicher Arbeiten und Verhinderung von Unterschlagungen.
     
  • Erneuerung der administrativen Infrastruktur der Gemeinden und Bereitstellung von Computeranlagen. [55]

Die Hisbollah hat sich mittlerweile von Kräften im Libanon abhängig gemacht, die ihre Guerillaaktivitäten nur insoweit unterstützen, als sie die Israelis von weiteren Angriffen und einer Besetzung des Landes abhalten. Diese Kräfte werden aber versuchen, jedes offensive Vorgehen gegen Israel auszubremsen, und seien es nur Grenzprovokationen, um israelische Einheiten ins libanesische Landesinnere und in die Falle zu locken. Deshalb werden sie auch jeden Versuch einer direkten Unterstützung der Palästinenser gegen den israelischen Staat hintertreiben.

Die Antwort der Linken

Der Libanonkrieg rief eine breite Protestwelle nicht nur in muslimischen Ländern, sondern auch in Europa und in Lateinamerika hervor. Nicht nur gab es in manchen Ländern die größten Demonstrationen seit dem ersten Jahr des Irakkriegs, es gab auch eine noch nicht da gewesene Bereitschaft, sich gegen die israelische Aggression aufzulehnen. Ganz anders war die Reaktion der überwiegenden Mehrheit der Linken auf die Kriege von 1967 und 1973 gewesen und selbst auf den Einmarsch Israels in den Libanon 1982, der einen hohen Blutzoll von Libanesen und Palästinensern forderte.

Dennoch waren manche Argumente und Parolen vieler Linker ziemlich schwach. Diese drehten sich um die beiden miteinander zusammenhängenden Fragen eines „Waffenstillstands“ und „des Rechts des israelischen Staats auf Selbstverteidigung“.

Als Beispiel kann einer der wenigen prinzipienfesten linken Kommentatoren des britischen Guardian dienen: George Monbiot. Er zögerte keine Sekunde, den israelische Angriff abzulehnen. Er fühlte sich aber auch bemüßigt, die Hisbollah für ihre Aktionen gegen den israelischen Staat zu kritisieren, obwohl dieser in den vorangegangenen Wochen wiederholt gegen die Palästinenser in Gaza vorgegangen war. Er schrieb:

Gewiss, die libanesische Regierung hätte die Hisbollah von der israelischen Grenze zurückziehen und entwaffnen müssen. Gewiss, der Überfall und der Raketenangriff vom 12. Juli waren ungerechtfertigt, dumm und provokativ, genauso wie fast alles andere, was in den letzten sechs Jahren im Grenzbereich passiert ist.

Er tritt für den „Rückzug aus den besetzten Gebieten in Palästina und Syrien“ ein und ruft dann dazu auf, „die Grenze zu verteidigen und zugleich den diplomatischen Druck auf den Libanon aufrechtzuerhalten, damit die Hisbollah entwaffnet wird (wobei für jeden offensichtlich ist, dass dies durch eine Beendigung der Besatzung viel leichter zu bewerkstelligen wäre)“. [56]

Solche Argumente beherrschten den Diskurs vieler liberaler und sozialdemo­kratischer Linker. Beispielsweise waren manche Anhänger der Stop the War Coa­lition in Großbritannien unglücklich über die Beteiligung von Libanesen mit Hisbollah-Plakaten und Hisbollah-Fahnen an Demonstrationen, so als ob eine rein pazifistische Herangehensweise die einzig zulässige wäre. Und sogar bei der radikalen Linken gab es Weder-noch-Standpunkte zum Krieg – weder für den israelischen Aggressor noch für den von der Hisbollah angeführten Widerstand im Libanon. So schrieb beispielsweise die britische Socialist Party/Committee for a Worker’s International (SP/CWI) in ihrer Zeitung Socialist:

Es sind die einfachen Leute im Libanon, Israel und Gaza, die einen schrecklichen Preis zahlen. Keine Seite kann gewinnen. Die Hisbollah kann niemals die Übermacht des israelischen Staats bezwingen und das palästinensische Volk von der Besatzung befreien. Der jüngste Konflikt kann nur dazu dienen, die Zerwürfnisse zwischen arbeitenden Menschen in Israel, im Libanon und in den palästinensischen Gebieten zu vertiefen.

In der Zeitung wurde ein „israelischer Sozialist“ mit den Worten zitiert: „Der gegenwärtige Konflikt dreht sich um die Frage, wer am meisten an Prestige und politischem Ansehen gewinnt. Die Arbeiterklasse auf beiden Seiten ist bei all dem der Verlierer … Diese nationalen Konflikte resultieren aus einem Machtkampf zwischen den verschiedenen herrschenden Klassen in der Region, die die Rückendeckung verschiedener imperialistischer Mächte genießen.“

In einem Flugblatt hieß es:

Die Hisbollah kann ihr Ziel, nämlich die Zerstörung Israels und die Schaffung eines islamischen Staats nach dem Vorbild des reaktionären Regimes im Iran, nicht durchsetzen. Sie kann nur die Spaltung der Völker des Libanon und des Nahen Ostens entlang ethnischer und religiöser Trennlinien vertiefen.

Ihre Parole lautete nicht „Solidarität mit dem Widerstand“, sondern war ein abstrakter Aufruf „für ein sozialistisches Palästina und ein sozialistisches Israel als Teil einer sozialistischen Konföderation des Nahen Ostens“. [57]

Die Führung der mittlerweile so gut wie nicht mehr existierenden Scottish Socialist Party lehnte den Krieg zwar ab, jedoch nicht ohne die Hisbollah als „eine der grausamsten terroristischen Organisationen weltweit“ und wegen ihres „illegalen und rücksichtslosen Einfalls in fremdes Territorium“ zu verurteilen. [58]

Das Problem mit solchen Argumenten zeigte sich, nachdem der Waffenstillstand in Kraft getreten war. Die Propagandamaschinen der USA, Israels und Großbritanniens arbeiteten auf Hochtouren, um die UNO-Resolution 1701 und die schnelle Aufstellung einer UN-Streitmacht durchsetzen zu können. Diese sollte zusammen mit der libanesischen Armee die Hisbollah entwaffnen und die Gren­zen des Libanon dichtmachen, um so Israel die Entwaffnung der Hisbollah zu ersparen. Was sie in Wirklichkeit forderten, war die militärische Besetzung des Libanon durch Fremdmächte. Keiner sprach von der Notwendigkeit einer militärischen Besetzung Israels, um die täglichen Angriffe gegen die Palästinenser im Gazastreifen und Westjordanland zu unterbinden. All die Linken, die Militäraktionen beider Kriegsparteien verurteilten und bei der Forderung nach einem Waffenstillstand stehen blieben, öffneten solchen Argumenten Tür und Tor.

Solche Verwirrungen werfen zwei wichtige Fragen für die Linke weltweit auf, nämlich nach der Analyse des Staats Israels und der Haltung zu den islamistischen Organisationen, die sich gegen Imperialismus und Zionismus auflehnen.

Der Charakter des israelischen Staats [59]

Linksliberale Kommentatoren und die proamerikanische und proisraelische Rechte wiederholen immer wieder dasselbe Argument vom „Existenzrecht des israelischen Staats“. Jeder, der das in Frage stellt, wird des Antisemitismus bezichtigt und beschuldigt, einen neuen Holocaust, diesmal im Nahen Osten, anzustreben.

Das „Existenzrecht“ eines Staates ist aber überhaupt nicht gleichzusetzen mit dem „Recht seiner Bevölkerung, weiterzuleben“. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zur Zerstörung oder zum Zusammenbruch zahlloser Staaten Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs, um nur zwei Beispiele zu nennen. Kein einziger Linksliberaler weinte diesen Staatsgebilden auch nur eine Träne nach oder sprach in diesem Zusammenhang von Völkermord. Während der letzten 17 Jahre verschwanden die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und Jugoslawien, ohne dass irgendjemand auf das „Existenzrecht von Staaten“ gepocht hätte.

Die Befürwortung oder Ablehnung der fortgesetzten Existenz eines bestimmten Staats hängt nicht von einem abstrakten „Existenzrecht“ ab, sondern von seinem Charakter und den Alternativen zu seinem Bestehen.

Um den israelischen Staat einschätzen zu können, muss als Erstes festgehalten werden, dass es sich um einen Siedlerstaat handelt. Er ist einer jener Staaten, die von europäischen Siedlern im Zuge der Ausdehnung der europäischen Imperien gebildet wurden. Vor 120 Jahren umfasste die jüdische Bevölkerung im historischen Palästina (dem Gebiet des heutigen Israels, des Westjordanlands und Gazastreifens) wenige tausend Menschen, die arabische Bevölkerung jedoch hunderttausende. Nach der osmanischen Volkszählung von 1893 gab es damals 9.817 jüdische Einwohner. [60] Andere Schätzungen, die die Neuzugewanderten berücksichtigen, kommen auf rund 25.000 im Vergleich zu der 400.000 bis 600.000 zählenden arabischen Bevölkerung. [61] Das Anwachsen der jüdischen Bevölkerung auf 55 Prozent der Gesamtbevölkerung der Region resultiert aus der massiven Zuwanderung seit dieser Zeit. Das lässt sich daran ablesen, dass Ende der 1960er Jahre lediglich 24 Prozent der erwachsenen jüdischen Bevölkerung im historischen Palästina geboren waren, und nur 4 Prozent Eltern hatten, die ihrerseits in Palästina geboren waren. [62]

Eine solcherart zusammengesetzte Bevölkerung konnte sich nur ausdehnen und schließlich 1948/49 einen Staat auf drei Viertel des Gesamtgebiets gründen, indem sie die Alteingesessenen enteignete. Der israelische General und Politiker Mosche Dajan drückte es in einer Rede 1956 wie folgt aus:

Wir sind eine Siedlergeneration, und ohne Stahlhelm und Kanone können wir keinen Baum pflanzen, kein Haus bauen. Lasst uns nicht zurückweichen vor dem Hass, der hunderttausende Araber um uns herum entflammt. [63]

In dieser Hinsicht unterschied sich Israel keinen Deut von anderen Siedlerstaaten, die europäische Kolonisten auf Kosten der einheimischen Bevölkerung Nordamerikas, Australiens, des französisch beherrschten Algeriens, des von Weißen beherrschten Rhodesiens oder Südafrikas zur Zeit der Apartheid errichteten. Es ist richtig, dass in vorderster Front der Besiedlung Menschen kamen, die vor der Unterdrückung in Europa geflüchtet waren, vor allem nach dem Holocaust. Das ändert aber nichts an der grundlegenden Tatsache, dass die Be­siedlung auf Kosten der einheimischen Bevölkerung vonstatten ging. Viele der nordamerikanischen Siedler flohen vor religiöser Verfolgung oder wollten der Armut entkommen, viele der australischen Siedler waren vom britischen Staat dorthin verfrachtet worden, und viele der algerischen Siedler waren Deportierte, weil sie an der Revolution von 1848 oder an der Pariser Kommune teilgenommen hatten, genauso wie die jüdischen Siedler unmittelbar unter der Unterdrückung in Europa gelitten hatten. Nach ihrer Ankunft konnten sie allerdings nur bestehen, indem sie sich ihrerseits gegen die einheimische Bevölkerung wandten. Die Logik der kolonialen Besiedlung ist, dass die ehemals Unterdrückten zu Unterdrückern werden.

Es gibt unterschiedliche Kolonisationsmodelle. Die nordamerikanischen und australischen Modelle beinhalteten die vollständige oder fast vollständige Ausrottung der einheimischen Bevölkerung, so dass diese schließlich keine Bedrohung mehr für die Siedlerbevölkerung darstellte und ihre Nachfahren den Charakter des Staates kaum oder überhaupt nicht prägten. Nach dem Modell Französisch-Algeriens, des weißen Rhodesiens und des südafrikanischen Apartheidregimes sollten die Einheimischen als billige Arbeitskräfte auf Landgütern und in Unternehmen der Weißen eingesetzt werden, so dass nahezu die gesamte weiße Bevölkerung sich mit dem Unterdrückerstaat identifizierte, weil sie darin das Mittel zur Verteidigung ihrer eigenen Privilegien sah. Das ging so weit, dass eine Million Französisch-Algerier nach Frankreich auswanderten, als Algerien 1963 unabhängig wurde. Das zionistische Modell in Palästina beinhaltete die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung aus den Siedlungsgebieten, um ausschließlich jüdi­sche Siedlungen und Geschäfte zu gründen.

Tony Cliff, der in den 1920er und 1930er Jahren in Palästina aufwuchs, schrieb dazu:

Eine Reihe menschlicher Tragödien brachte die Juden nach Palästina – Pogrome im zaristischen Russland, Verfolgungen in Osteuropa und der Holocaust der Naziherrschaft. Als sie Palästina erreichten, entdeckten sie, dass das Land von Arabern besiedelt war. Unabhängig vom Motiv für die Einwanderung der Juden, waren wachsende Spannungen zwischen den zionistischen Siedlern und den Arabern unausweichlich. Die Kolonisten kauften Land von den arabischen Grundbesitzern, vertrieben daraufhin die dort ansässigen Bauern und schlossen die Araber von ihren neu gegründeten Geschäften aus.

Der arabische Bauer bot seine Arbeitskraft und seine Produkte zu sehr niedrigen Preisen an. Wie konnte ein europäischer Arbeiter unter diesen Bedingungen eine Beschäftigung finden? Der einzige Ausweg war, das Anheuern arabischer Arbeitskräfte durch jüdische Unternehmer gänzlich zu verhindern. In der Stadt Tel Aviv, die am Vorabend der Gründung des Staates Israel gerade 300.000 Einwohner zählte, gab es keinen einzigen arabischen Arbeiter oder Einwohner.

Die Zionisten hinderten die Fellachen [Bauern] daran, ihre Waren auf jüdischen Märkten zu verkaufen. Und wenn ein vom Hunger getriebener Fellache es wagte, den Boykott zu durchbrechen, wurde er geschlagen.

Jedes Mitglied des zionistischen Gewerkschaftsbunds Histadrut war verpflichtet, zwei besondere Abgaben zu entrichten: Die erste war „für jüdische Arbeit“ – das waren Rücklagen unter anderem für die Organisierung von Streikposten gegen die Einstellung von arabischen Arbeitern; die zweite war „für jüdische Waren“, für die Organisierung des Boykotts arabischer Produkte. Keine einzige zionistische Partei, nicht einmal die weit „linke“ Haschomer Hatzair (heute Mapam) lehnte den Boykott gegen arabische Arbeiter und Bauern ab. Dieser Boykott war untrennbarer Bestandteil des Zionismus: Ohne den Boykott hätte kein europäischer Arbeiter oder Landwirt wirtschaftlich überleben können. [64]

Solches Vorgehen musste die Wut der arabischen Massen wecken. Es gab nur ein Mittel für die Siedler, sich gegen diese Wut zu schützen. Nämlich mit dem ein oder anderen imperialistischen Staat ein Abkommen zu schließen. So kollaborierten sie in den 1920er, 1930er und frühen 1940er Jahren mit den Briten – indem sie diesen beispielsweise halfen, den bewaffneten palästinensischen Aufstand von 1936 bis 1939 niederzuschlagen. Ihre Militärausbildung unter britischer Herrschaft ermöglichte es ihnen dann, nachdem sich die Briten 1948 zurückgezogen hatten, unter dem diplomatischen Schirm der USA und mit osteuropäischen Waffen einen Großteil des historischen Palästinas im Zuge von drei Militäroffensiven (unterbrochen durch zwei Waffenruhen) zu erobern, und mittels Terror die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung aus den von ihnen kontrollierten Gebieten zu vertreiben. In den folgenden Jahrzehnten wichen die britischen imperialistischen Interessen zunehmend denen der USA, an die sich Israel fortan wandte.

Die liberale israelische Zeitung Ha’aretz fasste die Beziehungen Israels mit dem Imperialismus am 30. September 1951 mit folgenden Worten zusammen:

Israel wird zum Wachhund werden … Sollten … die Westmächte gelegentlich ihre Augen verschließen wollen, dann wird Israel verlässlich einen oder auch mehrere Nachbarstaaten bestrafen, wenn deren Unhöflichkeit gegenüber dem Westen die Grenzen des Erlaubten überschreitet. [65]

Als Gegenleistung für das Ausfüllen dieser Rolle erhält Israel trotz seiner geringen Größe ein Drittel aller US-amerikanischen Auslandshilfen, weitaus mehr als jedes andere Land. Nach einer Schätzung summieren sich die gesamten US-Hilfen für das Land von 1949 bis 1997 auf 84 Milliarden US-Dollar. Das sind über 14.000 Dollar für jeden israelischen Bürger. [66] Ein Großteil dieser Hilfe wird dafür verwendet, Israel mit der modernsten Militärtechnologie aufzurüsten, damit es andere Staaten des Nahen und Mittleren Ostens einschüchtern und notfalls angreifen kann. So wurden Israel im Jahr 2003 eine Wirtschaftshilfe von 720 Millionen Dollar und eine Militärhilfe von 2,04 Milliarden Dollar versprochen. [67]

In ihrer klassischen marxistischen Analyse des israelischen Staats kommen Haim Hanegbi, Moshe Machover und Akiva Orr zu dem Schluss, dass solche Hilfen es Israel auch ermöglicht haben, kostengünstig seine Wirtschaft zu entwickeln:

In den Jahren 1949 bis 1969 übertrafen die Einfuhren von Gütern und Dienstleistungen die Exporte um 6 Milliarden US-Dollar, das sind 2.650 Dollar pro Person in den 21 Jahren … In der Zeit von 1949 bis 1969 bewegte sich die Sparquote um null Prozent, die Investitionen machten dagegen 20 Prozent des BIP aus.

Die israelische Gesellschaft ist nicht nur eine Siedlergesellschaft … Sie ist auch eine Gesellschaft, die einzigartige Privilegien genießt. Sie profitiert von einem Zustrom an Mitteln und Gütern aus dem Ausland, die quantitativ und qualitativ ihresgleichen suchen Israel ist ein Sonderfall im Nahen Osten. Es wird vom Imperialismus finanziert, ohne von ihm wirtschaftlich ausgebeutet zu werden. [68]

Sie argumentieren, dass auch die jüdische Arbeiterklasse dadurch begünstigt worden sei:

Der jüdische Arbeiter bekommt seinen Anteil nicht bar auf die Hand, sondern in Form einer neuen und relativ günstigen Wohnung, eines Industriearbeitsplatzes, der ohne Zuschüsse nicht hätte geschaffen oder aufrechterhalten werden können, und eines allgemeinen Lebensstandards, der der gesellschaftlichen Wirtschaftsleistung nicht entspricht. [69]

Fest steht, dass die US-amerikanische Unterstützung dazu beigetragen hat, die Auswirkungen von Wirtschaftskrisen abzufedern, wenn auch nicht ganz aufzuheben. Das Amerikanische Jüdische Jahrbuch von 1990 hält fest: „Während der israelischen Wirtschaftskrise von 1984/85 war die Nothilfe der USA … eine wichtige Stütze“ [70], und als die Wirtschaft Israels Anfang 2003 „eine ihrer schwersten Krisen in der Geschichte des Landes durchmachte“, besuchte eine israelische Delegation die USA mit der Bitte um „ein Nothilfepaket im Wert von 12 Milliarden US-Dollar“. [71]

Die Hilfe sollte nicht umsonst geleistet werden: Im Gegenzug bot Israel, so die Ausführungen des Jahrbuchs, eine „strategische Kooperation Israels mit den USA“ an, die bis heute wegen der „Einsicht“ besteht, dass „die besondere Beziehung zu Israel in Amerikas Interesse liegt“. [72] Im Einklang damit sollte ein Teil der von Israel 2003 beantragten Hilfe im Vorfeld des von den USA angeführten Kriegs gegen den Irak der „Steigerung seiner Verteidigungsvorbereitungen dienen“. [73]

Der israelische Staat hätte ohne solche Abkommen nicht gegründet werden und sich auch nicht halten können. Ohne die dadurch ermöglichten Subventionen hätten Juden aus anderen Weltteilen keinen Ansporn gehabt, nach Israel auszuwandern. Und viele bereits sesshafte Israelis, die europäische oder nordamerikanische Standards gewohnt waren, wären nach Europa oder Nordamerika ausgewandert, um wieder in deren Genuss zu kommen.

Angesichts möglicher Wirtschaftskrisen, die daheim Zwietracht säen und das ganze Begründungsgebäude für einen ausschließlich jüdischen Staat untergraben würden, warten zionistische Politiker aber nicht einfach passiv auf die Zuwendungen. Sie haben ein materielles Interesse daran, die USA zu einer aggressiven Haltung in der Region zu ermuntern, um die dortigen Regime zu destabilisieren und sich umso mehr den USA als Wachhund andienen zu können. Daher rührt die natürliche Nähe zwischen den zionistischen Politikern und den Neocons in den USA, und das ist der Grund, warum sogar der eher zum Frieden neigende Flügel der israelischen Arbeitspartei diese Politik stets unterstützt. Je größer die Unordnung in der Region, desto wichtiger die Rolle der israelischen Militärmacht bei ihrer Befriedung und desto wahrscheinlicher ist es, dass der Staat noch mehr Gelder und noch mehr Gelegenheiten bekommt, das zionistische Ziel einer weiteren israelischen Expansion zu erfüllen. Die Instabilität in der Region bietet auch die richtige Kulisse, um den jüdischen Menschen in anderen Teilen der Welt eine ständig bedrohte Nation vorführen zu können, die auf permanenten Beistand angewiesen ist.

Das hat unweigerlich Auswirkungen auf die Einstellung der israelischen Arbeiterklasse. Der Großteil der israelischen Bevölkerung arbeitet und wird wie in anderen fortgeschrittenen Industrieländern auch von den Arbeitgebern ausgebeutet. Aber im Falle Israels federn die Subventionen des US-Imperialismus, die über den israelischen Staat an die Arbeiterklasse fließen, die volle Wucht dieser Ausbeutung ab. Sie identifiziert sich daher mit dem Staat und seiner Zusammenarbeit mit dem Imperialismus, da sie sonst den wesentlich niedrigeren Lebensstandard der Arbeiterschaft des Nahen Ostens teilen müsste. Ihre Identifikation mit dem Staat gegen die Palästinenser hat materielle Wurzeln. Selbst diejenigen, die unter sehr schlechten Verhältnissen leben müssen, suchen einen Ausweg darin, sich noch mehr – und nicht weniger – mit dem Staat zu identifizieren. Daher neigen die in den 1950er und 1960er Jahren aus anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens eingewanderten Juden dazu, die rechteren zionistischen Parteien zu unterstützen, obwohl es ihnen in aller Regel schlechter geht als den Einwanderern aus Europa.

Insoweit verhalten sie sich wie die weißen Arbeiter Südafrikas – auch die ärmsten damals – vor dem Zusammenbruch der Apartheid.

Haim Hanebi, Moshe Machover und Akiva Orr hielten schon in den 1970er Jahren fest:

„Die Erfahrung der letzten 50 Jahre liefert kein einziges Beispiel für eine Mobilisierung von israelischen Arbeitern um materielle oder gewerkschaftliche Anliegen, die das israelische Regime in Frage gestellt hätte.“ [74]

Die Entwicklungen seitdem haben diese Schlussfolgerung nicht entkräftet. Der Wohlfahrtsstaat ist angekratzt und die Auflage neoliberaler Programme unter den Likud-Regierungen hat die Arbeitslosigkeit zeitweilig auf bis zu 11 Prozent hochschnellen lassen und Kürzungen des Arbeitslosengeldes mit sich gebracht. Aber die kumulative Auswirkung der Subventionen durch den Imperialismus beschert den israelischen Arbeitern immer noch einen Lebensstandard weit über dem Palästinas oder der arabischen Nachbarländer. So betrug Anfang 2004 der Mindestlohn 3.335 Neue Schekel (ca. 700 US-Dollar monatlich), während der Mindestlohn im benachbarten Ägypten bei 28,40 US-Dollar lag. Detaillierte Untersuchungen zeigen, dass die Sozialleistungen nach europäischen Maßstäben im mittleren Bereich liegen. [75] Sie geraten zwar unter Druck, bewegen sich aber immer noch auf westlichem Niveau und nicht auf dem Dritte-Welt-Niveau, mit dem die 1948 vertriebenen Palästinenser und ihre Nachfahren leben müssen. Die israelische Arbeiterklasse erhält diese Subventionen allerdings nur dank der Abkommen der israelischen Regierung mit dem Imperialismus. Daher kann der Staat ihre Abwehrkämpfe gegen Angriffe auf Löhne, Arbeitsbedingungen oder Sozialleistungen jedes Mal auffangen, indem er bei Wirtschaftskrisen einfach die USA um Hilfe bittet.

Es gibt natürlich trotzdem Widersprüche. Das Großkapital in Israel, dessen Interessen zunehmend Hand in Hand gehen mit denen des nordamerikanischen und manchmal des europäischen multinationalen Kapitals, sieht seine Zukunft darin, in die Märkte des übrigen Nahen und Mittleren Ostens einzudringen und hat daher ein gewisses Interesse an Frieden. Aber dieser Druck allein hat nicht gereicht, den israelischen Staat von seiner aggressiven Haltung gegenüber den Palästinensern in den besetzten Gebieten oder dem ein oder anderen Anrainerstaat abzuhalten. Auch in Zukunft wird dieser Druck nicht ausreichen. Multinationales Kapital investiert in Israel, weil es die israelische Hegemonie in der Region braucht (nicht zu vergessen die profitablen Rüstungsgeschäfte). Es teilt mit dem israelischen Kapital das Interesse an einem israelischen Staat, der militärisch stark genug ist, seine Nachbarn durch einen Waffenfrieden einzuschüchtern. Dazu muss Israel eine entsprechend aggressive Pose einnehmen, um jederzeit die Bevölkerung hinter sich sammeln zu können.

Wer vor diesem Hintergrund auf das „Existenzrecht Israels“ pocht, verteidigt einen Staat, der zwangsläufig als williges Werkzeug des Imperialismus fungiert und sich seinen Nachbarn gegenüber aggressiv verhält.

Um es noch einmal zu betonen: Sich gegen den israelischen Staat zu stellen, bedeutet nicht, die jüdische Bevölkerung „ins Meer treiben“ zu wollen, genauso wenig wie der Kampf gegen den Apartheidstaat hieß, die Afrikaaner-Bevölkerung, die das Land seit 350 Jahren besiedelt hatte und Merkmale einer eigenen nationalen Identität aufwies (Sprache, Literatur, religiöse Einrichtungen und so weiter) ausrotten zu wollen. In Südafrika ging es darum, ein Staatssystem abzuschaffen, das auf Diskriminierung der einheimischen Bevölkerung durch die Nachfahren der Siedler beruhte. Im Fall Israels geht es darum, ein Staatssystem abzuschaffen, das auf Zwangsvertreibung der einheimischen Bevölkerung aus ihrem Land beruht, auf der fortgesetzten territorialen Ausdehnung in den „besetzten Gebieten“ und auf blutiger militärischer Unterdrückung derer, die gegen die Besatzung und den Ausbau der Siedlungen kämpfen und für die Rückkehr in das Land, aus dem ihre Familien vertrieben wurden.

Es gibt zwei hypothetische Wege, den Siedlerstaat zu beseitigen. Der erste könnte darin bestehen, dass die israelische Bevölkerung das Rückkehrrecht der 1948 vertriebenen Palästinenser und ein Ende der Besatzung und zionistischen Besiedlung im Westjordanland anerkennt. Der zweite hieße die Auflösung Israels und die Schaffung eines vereinigten, säkularen und demokratischen Staats auf dem Gebiet des historischen Palästinas, in dem alle Einwohner gleiche Bürgerrechte genießen würden. In der Praxis würden beide Wege zum selben Ziel führen. Zionisten werden nicht müde zu wiederholen, das „Rückkehrrecht“ für Palästinenser würde die Grundfesten des Siedlerstaats zerstören, da so die besonderen Privilegien der Menschen jüdischen Ursprungs beseitigt und das Tor zu einem vereinigten, säkularen Staat geöffnet würden. Das ist der Grund, warum eine kleine Minderheit israelischer Aktivisten und Intellektueller sich langsam mit der Idee anfreundet, dass der Weg in einen säkularen Staat die einzige Alternative zu dem Geflecht aus Unterdrückung, Besiedlung und Krieg ist.

Welche Kraft kann eine solche Entwicklung herbeiführen? Mit den bisherigen Ausführungen sollte gezeigt werden, dass der Schlüssel nicht innerhalb Israels zu finden ist. Solange der zionistische Staat stark genug zu sein scheint, um vom Imperialismus die notwendige Unterstützung zu erhalten und sogar den ärmsten unter den jüdischen Einwohnern Privilegien eingeräumt werden verglichen mit den Palästinensern im Gazastreifen, im Westjordanland und in den jordanischen und libanesischen Flüchtlingslagern, so lange wird er die Unterstützung der Mehrheit seiner Bevölkerung erhalten. Der Staat kann durch Klassenkämpfe im Innern geschwächt werden. Diese werden aber niemals ausreichen, den Staat, seine aggressive Politik und seine Bereitschaft, dem Imperialismus zu dienen, zu brechen. Er wird auch geschwächt, wenn sich junge Israelis gegen den Militärdienst im Rahmen der fortdauernden Besatzung und wiederholten Kriege auflehnen. Dabei werden zumindest einige erkennen, zu welcher Realität der zionistische Traum geführt hat.

Ob sich dies in größerem Ausmaß entwickeln kann, hängt davon ab, inwieweit der israelische Staat seine Fähigkeit verliert, Kriege zu führen, die ihn dank der US-Subventionen finanziell als auch hinsichtlich des Verlusts an israelischen Menschenleben so gut wie nichts kosten. Mit anderen Worten: Die Bedingung ist eine ernsthafte militärische Niederlage Israels. Nur eine solche Niederlage kann in der israelischen Gesellschaft einen derartigen Schock hervorrufen, dass eine bedeutende Anzahl Menschen den Bruch mit der gesamten zionistischen Vision vom Aufbau eines ethnisch reinen Staates als einzig sicheren Ausweg erkennt. Bei einer solchen Niederlage müsste sich auch die US-amerikanische herrschende Klasse fragen, ob es sich weiterhin lohnt, Israel zu subventionieren.

Wie Hanegbi, Machover und Orr vor bereits 30 Jahren dargelegt haben, muss die Beteiligung an innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen einschließlich Arbeiterkämpfen in Israel „der allgemeinen Strategie des Kampfes gegen den Zionismus“ untergeordnet werden. [76] Diese Schlussfolgerung ist heute immer noch gültig. Wer das nicht sieht und deshalb eine Weder-noch-Haltung zu Kriegen wie dem gegen den Libanon einnimmt, akzeptiert die Unverletzlichkeit der israelischen Grenzen und schwächt den Kampf gegen den Imperialismus und den Zionismus, mögen die Motive noch so ehrenhaft sein.

Den Einfluss des Zionismus in der großen Mehrheit der israelischen Bevölkerung zu brechen, bleibt ein sehr fernes Ziel. Die Schlappe im Libanon war nur eine Teilniederlage, die nicht nur die israelische Führung, sondern auch der Großteil der israelischen Bevölkerung glaubt wiedergutmachen zu können. Es wäre Wunschdenken zu glauben, dass

all dies ein Fenster aufgerissen habe, durch das eine mögliche umfassende Lösung der beinahe ein Jahrhundert alten Konflikte erspäht werden kann, die den Hintergrund für den jüngsten Krieg bilden; dass die alten Gegebenheiten hinweggefegt worden seien und wir sogar in Israel mit einer Entwicklung wie seinerzeit unter F.W. de Klerk in Südafrika rechnen können. [77]

Ein „revolutionärer Durchbruch in der arabischen Welt“ [78] ist nach wie vor die Voraussetzung für jene Kampfansage an den israelischen Staat, die den Zionismus in die Knie zwingen könnte. Dazu ist es noch nicht gekommen.

Die Auswirkungen des Sieges

Die Hisbollah hat im Sommer einen bemerkenswerten Sieg davongetragen, der Israel in die Schranken gewiesen und somit allen Kräften Auftrieb gegeben hat, die einen grundsätzlich anderen Nahen Osten anstreben. Die Hisbollah wird jedoch nicht das politische Werkzeug dafür sein. Der Hauptgrund sind nicht ihre religiösen Vorstellungen, sondern vielmehr der Umstand, dass sie sich auf Klassenkräfte verlässt, die sich nur begrenzt mit Israel oder dem Imperialismus anlegen können. Es kann nicht oft genug gesagt werden: In keinem Land kann der Imperialismus besiegt werden, wenn sich der Kampf auf dieses Land beschränkt, ebenso wenig wie der Zionismus durch einen auf Palästina beschränkten Kampf besiegt werden kann. Erforderlich ist vielmehr ein Durchbruch in einem Land, der einen revolutionären Prozess in der gesamten Region auslöst. Der Sieg der Hisbollah ist ein Beitrag dazu, weil er zeigt, was möglich ist, und damit Optimismus erzeugt – umgekehrt stürzte die Niederlage von 1967 die Aktivisten der Region in einen bedrückten Pessimismus.

Kurzfristig wird dieser Sieg vermutlich die Anziehungskraft für den Islamismus im Allgemeinen erhöhen. Es könnte aber auch zu einer wichtigen Verschiebung hinsichtlich populärer Islamauslegungen kommen. Die Niederlagen der Vergangenheit begünstigten enge Islaminterpretationen, die religiöse Reinheit betonten und elitäre Formen der direkten Aktion im Stil der Dschihadisten. Dort wo diese engen Islaminterpretationen kläglich versagten, wie in den Auseinandersetzungen mit dem ägyptischen und algerischen Staat, kamen viele Aktivisten auf gemäßigte Formen des religiösen Reformismus zurück. Die Betonung der religiösen Reinheit führte nicht selten auch zur Konfrontation zwischen den verschiedenen religiösen Schulen – nicht nur zwischen dem Islam und anderen Religionen, sondern zwischen Sunniten und Schiiten. Solche Spaltungen konnten dann durch den Imperialismus und seine Handlanger leicht ausgebeutet werden, wie etwa in Pakistan oder mit viel blutigeren Konsequenzen im Irak, oder von opportunistischen Karrieristen, die sich eine eigene politische Basis verschaffen wollten.

Der Sieg der Hisbollah wirkt dieser Entwicklung entgegen. Das Beispiel der Hisbollah zeigt, dass Bündnisse über religiöse Schranken hinweg möglich sind. Die arabischen Regime fürchten schon jetzt die Auswirkungen des Siegs der Hisbollah auf ihre eigene sunnitische Mehrheitsbevölkerung. Es geht aber um viel mehr. Siege erweitern den Horizont der Menschen. Auf einmal können sie ihnen bisher verborgene Möglichkeiten erkennen. Und Beispiele antiimperialistischer Aktionen in anderen Gegenden der Welt, wie die Antikriegsdemonstrationen in Europa und den USA oder Hugo Chávez’ Abberufung des venezolanischen Botschafters aus Israel, können den Menschen die Augen öffnen, dass sie nichtmuslimische Verbündete haben und andererseits in den derzeitigen arabischen Regimes muslimische Feinde.

Dabei sollte immer wieder betont werden, dass die Methoden der Hisbollah das Gegenteil von denen al-Qaidas sind. Die Hisbollah verurteilt nicht nur mit Worten Bombenanschläge, denen Zivilisten zum Opfer fallen, sei es im Westen oder in der Dritten Welt. Ihr eigener militärischer Erfolg resultiert direkt aus der breit angelegten Arbeit unter der Bevölkerung. Was sie jedoch nicht erkennt, ist, dass diese Arbeit unter der Bevölkerung auch in anderen Gegenden der arabischen Welt notwendig ist, wo die Arbeiter und Bauern unter dem Imperialismus und seinen örtlichen Verbündeten leiden, wie etwa in Ägypten, Syrien oder Jordanien. Wer dies erkennt, dem wird der Sieg der Hisbollah jedoch dabei helfen, eine Zuhörerschaft zu finden, nicht zuletzt auch unter denjenigen, die festen islamistischen Vorstellungen anhängen.

Was kommt als nächstes für die USA?

Die Lage für den US-amerikanischen Imperialismus im Allgemeinen und die Bush-Regierung im Besonderen ist ernst. Der Schlag, der die Hisbollah zerstören und Syrien und den Iran schwächen sollte, hat das Gegenteil bewirkt. Noch bevor der Ausgang des 33-Tage-Kriegs klar war, warnte das angesehene britische Royal Institute for International Affairs, dass der Iran als großer Gewinner aus dem irakischen Debakel hervorgehen werde:

Es ist kaum zu bezweifeln, dass der Iran der größte Nutznießer des Kriegs gegen den Terror im Nahen und Mittleren Osten ist. Die Vereinigten Staaten haben mit Unterstützung ihrer Bündnispartner zwei Konkurrenzregierungen des Irans in der Region ausgeschaltet: die der Taliban in Afghanistan im November 2001 und das irakische Regime Saddam Husseins im April 2003. In beiden Ländern haben sie es aber nicht geschafft, sie durch zusammenhängende und stabile politische Strukturen zu ersetzen. [79]

Der Iran betrachtet den Irak als seinen Hinterhof und hat die USA mittlerweile als einflussreichste Macht dort abgelöst, was ihm eine entscheidende Rolle in Iraks Zukunft sichert. Der Iran hat auch eine bedeutende Präsenz im kriegszerrütteten Nachbarland Afghanistan, mit dem er ebenfalls durch enge soziale Beziehungen verbunden ist. [80]

Nun hat die Hisbollah enorm an Prestige hinzugewonnen. Es ist ihr gelungen, die arabischen Regime, die sich ihre Niederlage so sehnlich herbeigewünscht hatten, zumindest zu einer verbalen Kehrtwende zu zwingen und ihnen Lob für ihre Kampffähigkeit gegen die Israelis abzupressen.

Wie werden die USA jetzt reagieren?

Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die USA die richtige Schlussfolgerung aus der Niederlage ziehen und dem dringenden Rat des Royal Institute of International Affairs und anderer folgen werden, Irans Stärke zu akzeptieren und mit ihm ein Abkommen zu schließen:

Iran befindet sich in einer starken Position als Regionalmacht, und seine Kooperationsbereitschaft und sein positiver Einfluss werden gebraucht, um die vielen Brandherde zu löschen … Zur Lösung der vielen Krisen in der iranischen Region müssen sich unter anderem die Beziehungen des Irans mit dem Westen durch umsichtige und geduldige Diplomatie auf beiden Seiten bessern Der Iran wird zwar oft als Drahtzieher der Gewalt im Nahen und Mittleren Osten beschrieben. Das iranische Regime scheut jedoch davor zurück, allgemeines Chaos in der Region zu stiften, weil es im Kern konservativ ist und bestrebt, den Status quo aufrechtzuerhalten. [81]

Das läuft auf die Argumentation hinaus, Bush solle dem Beispiel von Richard Nixon folgen: Dieser hatte 1972 China besucht und einen Handel mit der wichtigsten Regionalmacht geschlossen, die zuvor als Quelle allen Übels bezeichnet worden war, nachdem klar wurde, dass ein Sieg der USA in Vietnam unmöglich war.

Für einen solchen Kurs gibt es keine Anzeichen. Die Bush-Regierung setzt darauf, die Globalhegemonie der USA zu stärken und durch das gesamte „Neue Jahrhundert“ aufrechtzuerhalten. Sie fürchtet, dass jedes Abkommen mit dem Iran dieses Ziel nicht nur gefährden, sondern auch noch ihren Einfluss schmälern könnte. Gelänge es einer relativ schwachen Regionalmacht wie dem Iran, die USA zu einer Kehrtwende zu zwingen, so könnten sich auch andere ermutigt fühlen, ihnen die Stirn zu bieten. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Bush-Lager und seinen liberalen Kritikern beschränken sich darauf, dass nach Ansicht Letzterer die USA ihre Brücken zum „Alten Europa“ und zu Russland wieder reparieren sollten, um den Iran unter Druck zu setzen, damit er auf die Fortführung seines Atomprogramms verzichtet, was einer symbolischen Kapitulation gleichkäme. Thomas Friedman, der einflussreiche Verteidiger des US-Imperialismus („McDonald’s kann nicht florieren ohne [den Rüstungskonzern] McDonnell Douglas, den Erbauer des F-15.“), erklärte auf dem Höhepunkt des Libanonkriegs:

Die Regierungsmannschaft muss jetzt wie alle anderen, die an die Bedeutung eines Erfolgs im Irak glaubten, eingestehen: Es gelingt uns nicht, und wir können nicht weiter Menschenleben nach Menschenleben opfern … Die zweitbeste Option ist, den Irak zu verlassen. Denn die schlimmste Option – die Wunschoption des Irans – wäre, wenn wir dort blieben, blutend und als leichte Zielscheibe für den Iran, falls wir seine Atomwaffen angreifen sollten … Wir müssen mit dem Iran und Syrien verhandeln, allerdings von einer Position der Stärke aus, und das erfordert ein breites Bündnis. Je länger wir eine unilaterale und zugleich erfolglose Strategie im Irak verfolgen, desto schwerer wird uns der Aufbau eines solchen Bündnisses fallen. [82]

Ein wirklicher Kompromiss mit dem Alten Europa und Russland (ganz zu schweigen von China) ist alles andere als leicht. Das Motiv für den Krieg gegen den Irak war nicht nur, sich des irakischen Erdöls zu Gunsten amerikanischer Geschäftsinteressen zu bemächtigen. Es ging in erster Linie darum, die trudelnde US-Globalstrategie der 1990er Jahre auf Kurs zu bringen und den wichtigsten Rohstoff dieser Welt zu kontrollieren, um mit diesem Hebel die übrigen Mächte zu dominieren und so ein „neues amerikanisches Jahrhundert“ einleiten zu können. So sahen es jedenfalls die Neocons. [83]

Auch wenn eine US-Regierung schließlich gezwungen sein wird, einen wirklichen Kompromiss mit Europa, Russland und China zu schließen, wird sie das nicht tun, ohne zuvor versucht zu haben, ihre Macht neu zu behaupten. Daher ist eine erneute Militäroffensive im Nahen und Mittleren Osten nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich.

Israels Libanonkrieg war aus der Sicht der US-Regierung lediglich ein Umweg zum Ziel, den Iran zu demütigen. Dieser Umweg stellte sich als Sackgasse heraus. Ihr Instinkt wird die Bush-Regierung dazu drängen, ihren Weg fortzusetzen und den Iran irgendwie anzugreifen. Das Problem ist nur, dass dieser Weg voller Schlaglöcher ist, die sie leicht aus der Bahn werfen können. Schlaglöcher in Gestalt der schiitischen Vorherrschaft im südlichen Irak, des wachsenden Selbstvertrauens und der Stärke der iranischen Verbündeten im Libanon und der großen Sympathie, die diese in der gesamten islamischen Welt genießen, weil sie die einzige Kraft sind, die zum ersten Mal in 58 Jahren eine israelische Armee zurückschlagen konnte.

Der Bericht des Royal Institute for International Affairs warnt:

Es besteht die sehr reale Möglichkeit, dass im Falle eines US-amerikanischen Angriffs auf den Iran dieser seinerseits den USA im Irak eine vernichtende Niederlage bereitet und das Kampffeld auf den gesamten Nahen und Mittleren Osten ausdehnen wird. Gerade in diesen Tagen kämpfen die multinationalen Kräfte darum, die politischen Entwicklungen in den südlichen und mittelirakischen Euphratregionen mit mehrheitlich schiitischer Bevölkerung zu beeinflussen, während der gewaltige arabisch-sunnitische Aufstand den noch im Aufbau begriffenen irakischen Sicherheitskräften und ihren US-Hintermännern nach wie vor katastrophale Verluste zu­fügt. Eine iranische Intervention könnte diese Situation so weit auf die Spitze treiben, dass die Koalitionskräfte gezwungen sein könn­ten, den Irak zu verlassen. Der Iran hätte dann nicht nur das Sagen im Irak, sondern stiege darüber hinaus zur unangefochtenen Hegemonialmacht am Golf auf. [84]

Wir sind Zeugen einer akuten Krise des US-Imperialismus, dem sich zwei gleichermaßen ungenießbare Möglichkeiten anbieten. Die eine wäre der Rückzug nach dem Debakel im Irak und im Libanon. Damit würde die Bush-Regierung allerdings eingestehen, dass ihr „Krieg ohne Ende“ um die unanfechtbare Globalhegemonie gescheitert ist, was das Ende des Einflusses der Neocons im eige­nen Land und ihrer Durchsetzungskraft im Ausland bedeuten würde. Die andere Möglichkeit wäre, einen Angriff auf den Iran oder zumindest eine zweite israelische Militäroffensive gegen den Libanon zu riskieren. Trotz der darin liegenden großen Gefahren wird es sehr wahrscheinlich dazu kommen.

Ein verwundetes Raubtier ist gefährlich. Deshalb könnte es zu einem neuen Krieg noch größeren Ausmaßes im Libanon oder einem Angriff auf den Iran kommen, noch bevor diese Zeilen gedruckt werden. Es besteht auch durchaus die Möglichkeit, dass französische und italienische Truppen, gedrängt von den USA und Israel, die Hisbollah zu entwaffnen versuchen.

Der 33-Tage-Krieg unterstreicht den unvorhersehbaren Charakter von Bushs „Krieg ohne Ende“. Er hat gezeigt, wie eine glimmende Zündschnur unerwartet eine Explosion auslösen kann, wie ganze Staaten in die Krise stürzen und Menschen in anderen Gegenden der Welt plötzlich ihre alten Ideen in Frage stellen. Das wird nicht das letzte Mal sein. Und nicht zum letzten Mal werden wir breiten Widerstand erleben, der die Vasallenregierungen des Imperialismus im Nahen und Mittleren Osten ins Wanken bringt und den antikapitalistischen Bewegungen in den imperialistischen Kernländern neuen Schub geben kann.


Zuerst veröffentlicht in der Theoriezeitschrift International Socialism, Nr. 112, Herbst 2006. [*]
Aus dem Englischen von David Paenson, Anne Ebstein und Rosemarie Nünning.


Fußnoten

1. Besonderer Dank gebührt Gilbert Achcar, Anne Alexander, Simon Assaf, Lindsey German, Ghassan Makarem, John Rose and Sabby Sagall für ihre Kommentare zur Erstfassung dieses Aufsatzesund für ihre Sachkorrekturen.

2. Seymour Hersh, Watching Lebanon, New Yorker, 21. August 2006; http://www.newyorker.com/fact/content/articles/060821fa_fact.

3. Washington Post, 4. August 2006.

4. Hani Shukrallah, It Didn’t Work, August 2006, http://www.indymedia.ie/article/77854.

5. Ebenda.

6. Ebenda.

7. Der erste Sieg der Hisbollah war natürlich der erzwungene Abzug Israels aus dem Libanon 1990; dieser hinterließ aber bei den Menschen bei weitem nicht einen so nachhaltigen Eindruck wie der diesmalige erfolgreiche Widerstand gegen die israelische Armee unter den Augen der Weltmedien.

8. Die amerikanische und sowjetische Unterstützung (mit tschechischen Waffen) sicherte den Sieg von 1948/49. Erst ab Ende der 1950er Jahre wurde die US-Hilfe dann zu einem permanenten Merkmal.

9. Tony Cliffs Analyse aus der Zeit, Tony Cliff on the 1967 Israeli-Arab War ist zu finden unter www.isj.org.uk/index.php4?id=230.

10. Naim Qassem, Hizbullah: The Story from Within, London 2005, S.68.

11. Mark Williams, Counterpunch, 14. August 2006;www.counterpunch.org/williams08162006.html.

12. Der israelische Staat hat die Einwanderung aller Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion gefördert, die auch nur entfernteste „jüdische“ Verbindungen behaupten konnten. Die „jüdische“ Bevölkerung Israels sollte schneller wachsen als die palästinensische in Israel und den besetzten Gebieten. Siehe beispielsweise Mark Reutter unter www.news.uiuc.edu/gentips/03/07israel.html und Lucy Ash unter news.bbc.co.uk/1/hi/programmes/crossing_continents/4038859.stm. Diese Politik deckt sich mit der Ersetzung arabischer Arbeiter aus dem Westjordanland und Gazastreifen durch eine Viertelmillion Zeitarbeiter von den Philippinen und anderen Ländern. Wie sehr die Furcht vor einer demokratischen Lösung des Konflikts die israelische Politik dominiert, zeigt Ministerpräsident Olmerts Interview mit der israelischen Zeitung Ha’aretz unter der Überschrift Maximum Jews, Minimum Palestinians (So viel Juden wie möglich, so wenig Palästinenser wie nötig) vom 15. November 2003. Darin sagt er unter anderem:

„Wir haben nicht unbegrenzt Zeit. Immer mehr Palästinenser sind nicht mehr an einer ausgehandelten Zweistaatenlösung interessiert, weil sie den Konflikt nicht mehr nach algerischem Muster, sondern nach südafrikanischem Vorbild lösen wollen. Von dem Kampf gegen die ‚Besatzung‘, um ihre Wortwahl aufzugreifen, hin zu einem Kampf um das allgemeine Wahlrecht (eine Person, eine Stimme). Das ist natürlich ein wesentlich saubererer Kampf, ein wesentlich populärerer Kampf und im Endeffekt ein wesentlich mächtigerer Für uns bedeutete das das Ende des jüdischen Staats.“ www.fromoccupiedpalestine.org/node/1322.

13. Zitiert nach: Ha’aretz, www.haaretz.com/hasen/spages/743767.html.

14. Qassem, a. a. O., S. 69.

15. Ebenda, S. 72–73.

16. Anne Alexander, Suez and the high tide of Arab nationalism, International Socialist Journal 112, London 2006; http://www.isj.org.uk/index.php4?id=249&issue=112.

17. Tony Cliff über den israelisch-arabischen Krieg von 1967, a. a. O.

18. Ahmad Nizar Hamzeh, In the Path of Hizbullah, Syracuse University Press, 2004, S. 13

19. Ebenda, S. 11.

20. Ebenda, S. 13. Die ersten Anstrengungen, eine „Bewegung der Benachteiligten“ aufzubauen, wurden 1974 von Mussa al-Sadr (der während einer Reise nach Libyen 1978 verschwand) in Angriff genommen. Dieser frühe Versuch wurde aber bald durch den Ausbruch des Bürgerkriegs im Libanon überschattet.

21. Ebenda, S. 87.

22. Naim Qassem, Hizbullah: The Story from Within, London 2005, S. 68.

23. Ebenda, S. 74–75.

24. Hamzeh, a. a. O., S. 89.

25. Ebenda, S. 75.

26. Ebenda, S. 77.

27. Ebenda, S. 50–55; der Autor listet Zahlen für verschiedene Ausgabenbereiche auf, wobei eine genaue Betrachtung mich vermuten lässt, dass er (oder der Setzer) ein paar Nullen an die falsche Stelle gesetzt hat.

28. Ebenda, S. 59.

29. Ebenda, S. 67.

30. Eine ausführliche Behandlung der Neuausrichtung ihrer Politik in dieser Frage findet sich in: Amal Saad-Ghorayeb, Hizbu’llah, Politics and Religion, London 2002, S. 34―59.

31. Qassem, a. a. O., S. 31.

32. Hamzeh, a. a. O., S. 123.

33. So die Darstellung Hamzehs, a. a. O., S. 105―108.

34. Sowohl Hamzeh als auch Qassem behandeln diese Spaltungen, allerdings von verschiedenen Standpunkten aus.

35. Hamzeh, a. a. O., S. 126.

36. Aus dem persönlichen Briefwechsel mit Simon Assaf in Beirut, 6. September 2006.

37. Zitiert nach Hamzeh, a. a. O., S. 121.

38. Zitiert nach Gilbert Achcar in Lebanon: The 33-Day War and UNSC Resolution 1701“, www.zmag.org/content/showarticle.cfm?ItemID=10767. Dieser Artikel bietet eine hervorragende Darstellung des unendlichen Manövrierens über den Wortlaut der Resolution.

39. Briefwechsel mit Simon Assaf in Beirut, 6. September 2006.

40. Qassem, a. a. O., S. 243.

41. Ebenda, S. 240.

42. Ebenda, S. 243.

43. Ebenda, S. 244.

44. Ebenda, S. 245.

45. Briefwechsel mit Simon Assaf in Beirut, 6. September 2006.

46. Die PLO und Fatah wurden Mitte der 1950er Jahre gegründet, aber erst nach dem Krieg von 1967 konnten sie den Kampf der Palästinenser unter ihre Führung bringen.

47. Ibrahim Ali, Palestine: Guerrilla Organisations, in: International Socialism, 1. Serie, Nr. 36, April/Mai 1969.

48. Siehe beispielsweise den kurzen Abriss unter en.wikipedia.org/wiki/Karameh.

49. Ali, a. a. O.

50. Dies beruht auf persönlichen Erinnerungen an Diskussionen in Amman im August 1969.

51. Auch hier meine persönlichen Erinnerungen anlässlich der Teilnahme an einer PLO-Konferenz in Amman während der ersten Phase des Bürgerkriegs vom „Schwarzen September“ 1970.

52. Qassem, a. a. O., S. 64.

53. Diese Beschreibung habe ich einem Gespräch mit Gilbert Achcar entnommen.

54. Hamzeh, a. a. O., S. 135.

55. Ebenda, S. 123.

56. George Monbiot, Guardian, 8. August 2006; www.monbiot.com/archives/2006/08/08/israels-attack-was-premeditated.

57]  www.socialistparty.org.uk/2006/449/index.html?id=np1.htm.

58. Scottish Socialist Voice, 21. Juli 2006, Mittelseiten; www.scottishsocialistvoice.net/back%20issues%2006/issue%20274.htm. [No longer available online]

59. Eine ausführliche Behandlung der Geschichte des Zionismus und des Charakters des israelischen Staats findet sich in John Roses hervorragendem kleinen Buch Öl, Imperialismus und Zionismus: Israel und seine Rolle in Nahost, edition-aurora, Basaltstr. 43, 60487 Frankfurt.

60. Siehe die Auseinandersetzung zwischen Ronald Sander und Yehoshua Porath über die Gültigkeit der Volkszählung in The New York Review of Books, 16. Januar 1986.

61. Porath, New York Review of Books, a. a. O.

62. Zahlen für 1968 aus Haim Hanegbi, Moshe Machover, Akiba Orr, The Class Nature of Israeli Society, New Left Review 65, Januar/Februar 1971, S. 4.

63. Zitiert nach ebenda, S. 5.

64. Cliff über den israelischen-arabischen Krieg, a. a. O.

65. Ha’aretz, 30. September 1951, zitiert nach: John Rose, Mythen des Zionismus, Zürich 2006, S. 236–237, und Hanegbi, Machover, Orr, a. a. O., S. 11.

66. Diese Zahlen sind der Washington Report on Middle East Affairs entnommen, siehe http://www.washington-report.org/html/us_aid_to_israel.htm.

67. Economist Tallies Swelling Cost of Israel to US (Ökonom errechnet die steigenden Kosten der USA für Israel), Christian Science Monitor, 9. Dezember 2002, http://www.csmonitor.com/2002/1209/p16s01-wmgn.html.

68. Hanegbi, Machover, Orr, a. a. O., S. 9.

69. Ebenda, S. 10.

70. American Jewish Yearbook, 1990, S. 270.

71. BBC-Nachrichten, Sonntag 5. Januar 2003, 02:23 GMT; http://news.bbc.co.uk/2/hi/business/2627561.stm.

72. American Jewish Yearbook, 1990, S. 270.

73. BBC-Nachrichten, Sonntag 5. Januar 2003, 02:23 GMT; http://news.bbc.co.uk/2/hi/business/2627561.stm.

74. Hanegbi, Machover, Orr, a. a. O., S. 6.

75. Siehe beispielsweise Rafaela Cohen und Yaacov Shaul, Social Protection in Israel and Sixteen European Countries (Jerusalem, 1998); http://www.issa.int/pdf/jeru98/theme3/3-6d.pdf. Sie kommen zu dem Schluss, dass verglichen mit den EU-Ländern noch vor der jüngsten Erweiterung „Israel im Mittelfeld bei Erziehungsgeld und Leistungen im Falle von Arbeitsunfällen liegt, allerdings beim Arbeitslosengeld relativ schlecht hinter Frankreich und Deutschland abschneidet, aber auf ungefähr gleichem Niveau ist wie Großbritannien.“

76. Hanegbi, Machover, Orr, a. a. O., S. 11.

77.So George Galloway in Hizbullah’s Victory has Transformed the Middle East, Guardian, 31. August 2006: http://www.guardian.co.uk/israel/comment/0,,1861645,00.html. (F.W. de Klerk war unter dem Druck einer wachsenden schwarzen Arbeiterbewegung, immer wieder aufflammenden Aufständen in den schwarzen Homelands, einer internationalen Bewegung zum Boykott südafrikanischer Waren und wirtschaftlicher Schwierigkeiten gezwungen gewesen, Anfang der 1990er Jahre mit dem Abbau des Apartheidsystems zu beginnen; d. Übers.)

78. Hanegbi, Machover, Orr, a. a. O., S. 11.

79. Robert Lowe und Clair Spencer, Iran, Its Neighbours and the Regional Crises, Chatham House, August 2006, S. 6. Abrufbar unter http://www.chathamhouse.org.uk/pdf/research/mep/Iran0806.pdf.

80. Ebenda.

81. Ebenda.

82. New York Times, 4. August 2006.

83. Meine Darstellung dieses Arguments findet sich in meinem Artikel Analysing Imperialism in International Socialism 99, Sommer 2003.

84. Lowe und Spencer, a. a. O.


* Chris Harman ist führendes Mitglied der britischen Socialist Workers Party und Autor zahlreicher Bücher. Auf Deutsch erhältlich sind unter anderem Die verlorene Revolution – Deutschland 1918–1923, Imperialismus – vom Kolonialismus bis zu den Kriegen des 21. Jahrhunderts, Islamischer Fundamentalismus – Befreiungsbewegung oder neuer Faschismus?, Antikapitalismus – Theorie und Praxis, Der Irrsinn der Marktwirtschaft und die Einführung Das ist Marxismus (erhältlich über edition-aurora.de, Basaltstr. 43, 60487 Frankfurt).


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