Der Ukraine-Krieg markiert einen epochalen Einschnitt. In Zukunft drohen erhebliche politische Konflikte und Angriffe auf den Lebensstandard. Von Lukas Sennecker
Der Beginn des Krieges in der Ukraine jährt sich dieser Tage zum dritten Mal. Es wird immer deutlicher, dass die ukrainische Seite ihn trotz massiver militärischer, finanzieller und logistischer Hilfe seitens der Nato-Staaten militärisch verlieren wird. Verlässliche Zahlen liegen nicht vor, aber es ist klar, dass hunderttausende Soldaten auf beiden Seiten ihr Leben oder ihre Gesundheit eingebüßt haben. Millionen ukrainische Zivilisten befinden sich auf der Flucht und haben alles verloren. Weite Teile der Ukraine sind im Kampfgeschehen verwüstet worden.
Es ist unklar, wann und unter welchen Bedingungen die USA unter Donald Trump ihre Unterstützung der Ukraine einstellen werden, was den laufenden Krieg abrupt beenden würde. Klar aber ist, dass dieser Konflikt schon jetzt einen epochalen Einschnitt bedeutet und die Weltordnung nachhaltig und mit langfristigen Folgen verändert hat. Die angespannte und unberechenbare internationale Lage wird hierzulande zu erheblichen politischen Konflikten und zu Angriffen auf den Lebensstandard der Normalbevölkerung führen.
Ukraine-Krieg nicht unprovoziert
Denn dieser Krieg war alles andere als »unprovoziert«, wie westliche Regierungen und Medien beharrlich behaupten.
»Die Nato-Hoheit wird sich nicht um einen Zentimeter [not one inch] von ihrer gegenwärtigen Position nach Osten verschieben.«
James Baker, US-Außenminister, 09.02.1990
Er ist das Ergebnis einer US-Strategie, die Anfang der 1990er Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eingeleitet wurde und zum Ziel hatte, Russland aus Europa zurückzudrängen, zu umzingeln, zu schwächen und letztlich zu zerschlagen. Diese Strategie war insofern erfolgreich, als die Nato kontinuierlich nach Osten erweitert und um zahlreiche Länder des aufgelösten Warschauer Pakts vergrößert wurde.
»Dies ist ein Krieg, der in vielerlei Hinsicht größer ist als die Ukraine, er ist größer als Russland.«
US-Außenministerium, Pressemitteilung vom 21.03.2022
Die letzte »roten Linie« aber, die Integration der Ukraine in das westliche Militärbündnis, hat zu einer lange angekündigten und erwarteten Reaktion der russischen Regierung geführt. Sie sah in der Stationierung feindlicher Truppen und Raketensysteme direkt an der russischen Grenze eine existentielle Gefahr.
Russland geht zum Angriff über
Nachdem all ihre Warnungen und Gesprächsangebote ignoriert worden waren, ging die russische Regierung zum Angriff auf die Ukraine und zur Verteidigung ihrer seit 200 Jahren bestehenden Marinestützpunkte auf der Krim über.
»Nyet means nyet. Ein Nato-Beitritt der Ukraine ist die hellste aller roten Linien für die russische Elite (nicht nur Putin).«
William Burns, ehem. US-Botschafter in Moskau, 2008
»Ich akzeptiere niemandes rote Linien.«
US-Präsident Biden, 04.12.2021
Sollten die USA und ihre europäischen Verbündeten zu einem »Deal« mit Russland gezwungen werden, der Gebietsabtretungen und eine dauerhafte Neutralität der Ukraine zum Inhalt hätte, wäre dies nicht nur das erste Mal seit der Landung russischer Truppen in Serbien während des Kosovo-Krieges 1999, dass die Nato in einer militärischen Konfrontation mit Russland unterläge. Sondern es wäre nach den – in erster Linie für die örtlichen Bevölkerungen – verheerenden Kriegen und Niederlagen des Westens im Irak, in Afghanistan und Libyen (während die Zukunft Syriens, des Libanon und Palästinas derzeit schwer vorhersehbar ist) eine weitere schwere militärische, vor allem aber politische Schlappe für das zunehmend fragile und auseinanderfallende westliche Bündnis unter US-Führung.
USA stellen Allianzen in Frage
Relevante Teile der US-Regierung spielen mit dem Gedanken, aus den end- und scheinbar ausweglosen Kriegen, die das Land führt oder dirigiert, auszusteigen. Sie überlegen, sich stattdessen auf geografisch näher liegende Regionen wie Kanada, Panama oder Grönland zu konzentrieren, die Nato aufzugeben und Allianzen, die nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurden, infrage zu stellen.
Dahinter steht die Einsicht, dass die USA nicht mehr über die Ressourcen verfügen und kein profitables Geschäft mehr daraus machen können, in jeder beliebigen Weltregion Kriege zu führen und die Politik zu bestimmen. Das »amerikanische Imperium« befindet sich in rasantem Abstieg. Seine Niederlage im Ukraine-Krieg treibt einen weiteren Nagel in seinen Sarg. Genau deshalb wird die US-Außenpolitik in den kommenden Jahren wahrscheinlich aggressiver und unverblümter werden.
In den laufenden Verhandlungen um die Zukunft der Ukraine geht es für die US-Seite darum, Gesicht zu wahren, indem für die USA tragbare oder gar vorteilhafte Bedingungen für ein Ende des Krieges vereinbart und die Schuld an seinem Ausbruch anderen, wie dem ukrainischen Präsidenten oder früheren US-Administrationen, zugeschoben wird.
Ukraine-Krieg ist nicht mehr zu gewinnen
Dieser Krieg ist für den Westen militärisch nicht mehr zu gewinnen. Ein Nachgeben gegenüber Russland und den vielen Staaten, die in diesem Konflikt neutral geblieben sind und sich dem westlichen Bündnis gegen das Land nicht angeschlossen haben, würde aber einen historischen Wendepunkt markieren. Denn Russland wurde weder von den westlichen Waffen, auf die die ukrainische Armee vollständig angewiesen ist, noch von den Wirtschaftssanktionen zum Einlenken gezwungen. Die schier endlose Ausbreitung der westlichen Bündnisse Nato und EU würde endgültig an eine rote Linie stoßen, deren Verteidigung Russland nicht zuletzt aufgrund der wirtschaftlichen Zusammenarbeit anderer Staaten wie China gelungen ist.
Die wirtschaftlichen Sanktionen haben nicht zu einem Zusammenbruch, sondern zu starkem Wachstum der russischen Wirtschaft geführt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Land seine Energieexporte reibungslos an die wachsenden Volkswirtschaften des »globalen Südens«, vor allem Chinas, umlenken konnte und von dort auch viele Produkte beziehen konnte, die vor 20 Jahren nur in den klassischen Industriestaaten hergestellt wurden.
Multipolare Weltordnung bedeutet mehr Staatenkonkurrenz
Die vergangenen Jahre haben politisch zu einem enormen Erstarken des passiven Widerstands gegen den Westen und der Allianz der BRICS-Staaten geführt. Diesem bislang vor allem wirtschaftlichen Zusammenschluss aus ursprünglich Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika haben sich in letzter Zeit zahlreiche neue Mitglieder angeschlossen, darunter mit Saudi-Arabien und dem Iran zwei der größten Öl- und Gasexporteure der Welt. Ziel der BRICS ist unter anderem, den US-Dollar als Leitwährung des internationalen Handels zu schwächen oder abzulösen und ihre wirtschaftliche Zusammenarbeit trotz der von den USA verhängten Sanktionen gegen ein Drittel aller Länder der Welt zu intensivieren. Beides untergräbt die Stellung der USA als globaler Führungsmacht und könnte ihren Niedergang deutlich beschleunigen.
Eine multipolare Weltordnung, wie die BRICS sie anstreben, ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Weltfrieden oder dem gleichberechtigten Miteinander aller Staaten, sondern im Kern eine Rückkehr zu freier Staatenkonkurrenz, wie sie bereits in zwei Weltkriege geführt hat.
Die aggressive Politik des Westens gegen Russland hat dazu geführt, dass sich das Land vom Westen weg orientieren musste. Anders als nach dem westlichen Sieg im Kalten Krieg hat Russland heute aber reale wirtschaftliche und politische Alternativen. Das Land lässt sich nicht mehr wie in den 90er-Jahren international isolieren und so unter Druck setzen. Genau dies stellt die westliche Niederlage im Ukraine-Krieg unter Beweis. Die globalen Kräfteverhältnisse haben sich wesentlich verschoben.
Der Krieg kehrt nach Europa zurück
Für Deutschland und Europa hat all dies tiefschürfende Auswirkungen. Die Bundesrepublik hat seit der Ostpolitik von Kanzler Willy Brandt in den 70er-Jahren versucht, zu Russland unabhängig von der Konfrontationshaltung der USA eine pragmatische Beziehung zu unterhalten, und so billige Gas- und Öllieferungen erwirkt. Diese waren eine wichtige Komponente in den Kostenrechnungen des produzierenden Gewerbes und der Privathaushalte in Deutschland.
Damit ist nun Schluss. Die Nordstream-Pipeline, die russisches Gas unter Umgehung Polens und der baltischen Staaten nach Deutschland und Europa bringen sollte, ist gesprengt. Die dramatisch gestiegenen Energiepreise haben unter anderem die deutschen Fahrzeughersteller, die sich auf einem ohnehin übersättigten Weltmarkt zu behaupten haben, rasch zu spüren bekommen. Öl und Flüssiggas aus Saudi-Arabien und den USA sind unverhältnismäßig viel teurer als früher die russischen Importe. Dies gefährdet das deutsche, auf Export ausgerichtete Wirtschaftsmodell.
Auch wenn der Ukraine-Krieg einmal beendet werden sollte, wird Russland, das seine Energieexportpolitik immer strategisch ausgerichtet hat, wohl kaum einfach zum Tagesgeschäft zurückkehren, nachdem seine Soldaten zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg mit deutschen Waffen getötet worden sind.
Das deutsche Kapital ist doppelt angeschmiert
Die Bundesregierungen haben sich seit dem Aufflammen der Ukraine-Krise 2014, mitunter nach anfänglichem Protest, immer wieder den Weisungen der USA gefügt und sich in die Frontstellung gegen Russland eingereiht.
»Der Krieg fing nicht im Februar vergangenen Jahres an. Der Krieg begann 2014.«
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, 14.02.2023
Sollten die USA den Krieg nun beenden, stünde das deutsche Kapital doppelt angeschmiert da. Der Rückzug der USA signalisierte den verschärften Unilateralismus des Landes, der sich in Strafzöllen, wirtschaftlichem Protektionismus und einem Abbau der militärischen Präsenz der USA in Deutschland und Europa niederschlagen könnte. Unter Trump setzen die USA verstärkt auf Alleingänge, lösen sich aus langfristigen Abkommen und Allianzen und betreiben ihre Außenpolitik auf Grundlage einer kurzfristigen – und oft genug kurzsichtigen – Kosten-Nutzen-Rechnung. Wird der Krieg weitergeführt, werden die USA unter Trump wohl auf größeren militärischen und finanziellen Beiträgen der westeuropäischen Staaten bestehen. Diese müssten dann einen Krieg gegen einen ihrer ehemals wichtigsten Energielieferanten führen.
Beute aufteilen ohne Europa
Die EU-Staaten, zu denen Großbritannien nicht mehr gehört, bezogen noch 2021 fast 50 Prozent ihrer Gasimporte aus Russland.
»Die Ukraine als Teil einer Ost-West-Konfrontation zu sehen würde für Jahrzehnte jede Aussicht darauf zerstören, Russland und den Westen – besonders Russland und Europa – in ein kooperatives internationales System zu bringen.«
Henry Kissinger, 05.03.2014
An der Aufteilung der Beute, nämlich der Rohstoffe, die unter dem Boden der Ukraine und Russlands lagern, sollen sie nach den Vorstellungen der US-Regierung nicht beteiligt werden. Dieser Tage verlangte Trump die Übergabe der Rohstoffvorkommen der Ukraine an US-Unternehmen, um seine Forderung nach 500 Milliarden US-Dollar von der ukrainischen Regierung zu begleichen.
»In diesem Krieg geht es um Geld. Darüber reden die meisten nicht. Aber, wissen Sie, den größten Reichtum an seltenen Erden besitzt die Ukraine. Zwei bis sieben Billionen Dollar an seltenen Erden, sehr wichtig im 21. Jahrhundert. Die Ukraine ist bereit, mit uns einen Deal zu machen, nicht mit den Russen. Daher ist es in unserem Interesse, dass Russland dort nicht ans Ruder kommt.«
US-Senator Lindsey Graham, 21.11.2024
Auch europäische Staaten wie Deutschland suchen nach verlässlichen Quellen Seltener Erden und anderer strategischer Rohstoffe für ihre Industrien, kommen aber in dem »Deal«, den Trump mit der russischen Seite aushandeln will, ebenso wenig vor, wie die ukrainische Regierung an den Verhandlungen beteiligt wird.
SPD und Grüne bereiten sich auf Krieg vor
Aus Sicht der deutschen herrschenden Klasse muss Deutschland nun außenpolitisch voll eigenständig handlungsfähig werden. Dazu gehört eine massive Stärkung der Bundeswehr und ihrer internationalen Einsatzfähigkeit. Genau dies ist die Linie, die die Ampel- wie die Unionsparteien verfolgen, ohne dabei auf klare Opposition zu stoßen. SPD-Verteidigungsminister Pistorius will Deutschland auf einen kommenden konventionellen Krieg mit Russland vorbereiten und gab stolz bekannt, dass die Bundesrepublik 2023 bereits 90 Milliarden Euro für das Militär ausgegeben habe.
Der grüne Wirtschaftsminister Habeck bezeichnete sich stolz als »Rüstungsindustrieminister«, ein Titel, den es in Deutschland nur zwischen 1943 und 1945 gab. Sarah Wagenknecht verteidigt offensiv die globalen Interessen »unserer« Unternehmen. Die Linke hat sich nur nach langen Auseinandersetzungen mit den Nato-Befürwortern in den eigenen Reihen zur Forderung nach einem Stopp der Waffenlieferungen durchringen können. Die AfD tritt unbesorgt sowohl für Frieden mit Russland als auch für Verbundenheit mit den USA auf.
Deserteure und Blockaden unterstützen
Der Ukraine-Krieg hat – neben den endlosen Massakern im Nahen Osten und den Spannungen um China, die USA und Taiwan – das Potential, einen Flächenbrand und darüber einen dritten Weltkrieg auszulösen. Ein Ende der Kampfhandlungen ist im dringenden Interesse der hunderttausenden ukrainischen und russischen Soldaten und Zivilist:innen, deren Leben sonst auf dem Spiel steht. Auf sie sollen die Kosten des Deals, den Trump und Putin aushandeln mögen, abgewälzt werden. Der größere Konflikt um die Neuaufteilung der Welt zwischen den aufstrebenden und den niedergehenden Industriemächten geht damit aber in jedem Fall nur in eine neue Runde.
Der Zerfall der westlichen Allianz und die Neugruppierung der Großmächte wird nach der Logik der imperialistischen Staatenkonkurrenz eine neue Epoche pausenloser Kriegsführung und ständig wechselnder Bündnisse einläuten. Unsere Hoffnung und Unterstützung muss daher den desertierenden Soldaten gelten, gewerkschaftlich organisierten Blockaden von Waffenlieferungen und einer Friedensbewegung, die sich nicht zuletzt gegen die wuchernden Kosten einer endlosen Aufrüstung und Kriegslogik wendet, die die lohnabhängige Bevölkerung über steigende Steuern und Energiepreise sowie bröckelnde soziale Dienstleistungen bezahlen soll.