Arabischer Frühling: »Revolutionen sind unausweichlich!«

Dreizehn Jahre Arabischer Frühling. Heute leiden die Menschen immer noch unter den sich kontinuierlich verschlechternden Lebensbedingungen und der eskalierenden staatlichen Gewalt. Das vorliegende Interview mit dem ägyptischen Aktivisten Hossam El-Hamalawy beleuchtet die Vorgänge von damals und den Kampf für Revolution heute

Svu: Hossam, zehn Jahre sind nun vergangen, seitdem die Menschen in Tunesien öffentliche Plätze besetzten und die Rufe nach »Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit« durch die Straßen des arabischsprachigen Raums hallten. Wie war die Stimmung in Ägypten an dem Tag, als der tunesische Diktator Zine El Abidine Ben Ali gestürzt wurde?

Ich war am Tag des Sturzes von Ben Ali in einem Café in Alexandria. Ich hatte mich mit dem Genossen Haitham Mohammadein getroffen, der jetzt leider im Gefängnis sitzt. Wir saßen vor einem Fernseher, als der Nachrichtensprecher verkündete: »Ben Ali wurde gestürzt.« Die Leute im Café brachen in Jubel aus. Es herrschte Euphorie unter den Ägyptern.

»Mubarak ist gestürzt. Hier hört es auf.«

Wie hat sich diese Euphorie auf die ägyptische Straße übertragen?

In den folgenden Tagen kam es zu kleinen Solidaritätsprotesten mit Tunesien. Der ägyptische Staat versuchte sofort, diese Proteste zu unterdrücken, was jedoch die Bereitschaft, dem tunesischen Beispiel zu folgen und die eigenen Forderungen zu erheben, nur verstärkte. Am Morgen des 25. Januar begannen kleine Märsche, gegen die der Staat aber sofort vorging. Das Regime drehte durch. Die Menschen waren empört. Trotz des Einsatzes von Gummigeschossen und Tränengas strömten Zehntausende auf den Tahrirplatz.

Proteste sind in Ägypten nichts Ungewöhnliches. Inwiefern waren diese anders?

Ich hatte noch nie so viele Menschen auf den Straßen gesehen. Ich hatte noch nie gesehen, dass die Polizeikräfte so erschüttert waren und vor den Demonstrierenden davonliefen. Als die Menschen Parolen gegen Husni Mubarak skandierten, wurde mir klar, dass diesmal alles anders ist. Nach dem Freitagsgebet gingen die Proteste und Märsche von allen Moscheen in Ägypten aus. Im Kampf gegen die Schläger des Geheimdienstes und die Bereitschaftspolizei zogen die Menschen Straße für Straße zum Tahrirplatz und in seine Umgebung.

Wie hast du dich persönlich gefühlt, als du sahst, wie die Menschen an den Grundpfeilern des Regimes rüttelten?

Jahrelang träumten die Menschen vom Sturz Mubaraks, fürchteten aber, sein Regime herauszufordern. Jetzt übernahmen Millionen von Menschen die Kontrolle über ihr Leben und ihre Stadtviertel. Sie errichteten Barrikaden auf den Straßen und vertrieben die Polizeikräfte aus dem öffentlichen Raum. Ich hätte fast geweint – vor Freude, vor Unglauben. Die Lage wurde ernst. Der sogenannte »Freitag des Zorns« am 28. Januar war einer der glorreichsten Tage in der Geschichte Ägyptens.

Schon vorher hatte es Proteste gegen das Regime von Husni Mubarak gegeben, aber es schien den Protesten standzuhalten. Was war der entscheidende Punkt, der seine Macht zum Kippen brachte?

Es war während der letzten Woche der Besetzung des Tahrirplatzes, als die Proteste die Fabriken und den öffentlichen Dienst erfassten. Die Streiks breiteten sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land aus, was dazu führte, dass das Militär Mubarak fallen ließ und die Macht ergriff, um das Regime zu retten.

Als Akteur, der stark von Mubaraks Regime profitierte, war das Militär prädestiniert dafür, eine der wichtigsten konterrevolutionären Kräfte zu sein. Welche Methoden hat das militärische Establishment angewandt, um der Revolution den Wind aus den Segeln zu nehmen?

Von Anfang an deutete das Militär die Revolution als eine Revolution der Jugend. Es versuchte die Klassenschranken zu verwischen und die große Streikbewegung zu untergraben. Aber die Streiks endeten mit dem Sturz Mubaraks nicht. Deshalb war nach dem Sturz Mubaraks die erste Handlung der Militärjunta, ein Streikverbotsgesetz zu erlassen. Die Botschaft des Regimes war klar: »Mubarak ist gestürzt. Hier hört es auf.«

Wie haben die Menschen auf der Straße auf das Ende seiner 30-jährigen Herrschaft reagiert?

Für viele Menschen war dies das Ende der Revolution, aber für eine kleine Minderheit von Revolutionärinnen und Revolutionären war es erst der Anfang. Die schwierige Phase sollte nun erst beginnen: der Kampf gegen das Militär, das neoliberale Regime und die soziale Ungerechtigkeit.

Revolution: Frauen waren die Initiatorinnen

Bei der Analyse sozialer Revolten weltweit wird deutlich, dass Frauen oft eine führende Rolle bei Auseinandersetzungen mit repressiven Regimen einnehmen. Waren Frauen auch bei der Organisation des Sturzes von Mubaraks Regime an vorderster Front beteiligt?

Frauen waren schon immer die Initiatorinnen von Protestbewegungen und übernahmen darin stets eine zentrale organisatorische Rolle. Als Journalist, der über Streiks berichtete, stellte ich fest, dass Frauen in Streiks oftmals am kämpferischsten sind. Eine Tradition der internationalen Arbeiterinnenklasse: Wann immer sie in Aktion tritt, treten die am meisten Unterdrückten in den Vordergrund und übernehmen die führende Rolle.

Wie setzten sie ihre Führungsrolle um?

Gegen die Proteste ging die Polizei mit Gewalt vor und verhaftete oder folterte die Männer. Die Frauen wurden misshandelt und zurückgelassen. Die Frauen begannen, sich gegen die Polizeigewalt zur Wehr zu setzen, indem sie vor den Polizeistationen protestierten, die Freilassung ihrer Männer forderten und sich mit den Gefangenen solidarisierten.

Wie du bereits erwähnt hast, leiden Frauen und die am stärksten unterdrückten Gesellschaftsschichten in Zeiten des Umbruchs am meisten unter den Folgen. Was geschah im Jahr 2011 in Ägypten?

Der Kampf gegen Frauen wurde zu einer der konterrevolutionären Strategien des Regimes, das sexuelle Belästigung als repressives Instrument einsetzte. Das geschieht weltweit. In den Jahren vor der Revolution verdichtete und intensivierte sich diese Strategie. Schlägertrupps wurden mobilisiert, die sich bestimmte Frauen aus der Menge der Demonstrierenden griffen, sie verhafteten oder töteten. Polizisten rissen ihnen die Kleider vom Leib und griffen sie am helllichten Tag sexuell an.

Welche anderen Gemeinschaften waren dieser staatlichen Gewalt ausgesetzt?

Dasselbe gilt für Ägyptens LGBTQ+-Community. Das Thema Homosexualität oder Queerness wird von dem Regime instrumentalisiert und nicht nur als Instrument gegen die politische Opposition eingesetzt, sondern auch als Mittel zur Kontrolle der ägyptischen Gesellschaft. So ist es kaum verwunderlich, dass nach der Konterrevolution und dem Putsch die größte Razzia gegen die ägyptische LGBTQIA+-Community stattfand. In demselben Atemzug ging das Regime hart gegen Frauen und Revolutionäre im Allgemeinen vor. Ein den »westlichen« Medien bekanntes Opfer von Razzien, Verhaftungen, Elektroschocks und sexuellen Übergriffen war die LGBTQIA+-Aktivistin Sarah Hegazi. Sie beging 2020 im kanadischen Exil Selbstmord – aber letztendlich war sie ein Mordopfer des Regimes.

Der Dominoeffekt der Revolution

Die Ausbreitung der Aufstände endete nicht in Ägypten, sondern die Bewegung griff auch auf Syrien und Jemen über, um nur einige Länder zu nennen. Wie beurteilst du das Überschwappen revolutionärer Forderungen auf die gesamte Region?

Revolutionen haben oft einen Dominoeffekt. Die erste Welle der Revolution traf die Region teilweise aufgrund der Ereignisse in Tunesien und Ägypten. Mubarak war der größte Verbrecher der Region. Der Sturz des größten Partners des US-Imperialismus und des »Westens« signalisierte den Massen in der arabischsprachigen Region, dass ein Sturz des Regimes möglich war. Die Rebellen in Bahrain konnten es genauso schaffen wie die Rebellen gegen Baschar al-Assad in Syrien oder gegen Abdullah Saleh im Jemen.

Dennoch scheinen die Regime widerstandsfähig zu sein.

Ja, leider. Die Niederlage der Revolution in Ägypten, die mit dem Juliputsch gegen Mohammed Mursi einherging, bedeutete auch das Ende der ersten revolutionären Welle. Mursi, ein Angehöriger der Muslimbrüder, war im Jahr 2012 bei den ersten freien Wahlen zum Staatspräsidenten gewählt worden. Seine Absetzung ein Jahr später durch einen Militärputsch hatte ebenfalls einen Dominoeffekt, diesmal einen konterrevolutionären. Baschar al-Assad fühlte sich ermutigt, chemische Waffen gegen das syrische Volk einzusetzen und die Tyrannen in Bahrain festigten ihre Herrschaft mit eiserner Hand. Ägypten steht nun unter Abdel Fatah al-Sisis Militärdiktatur, Bahrain unter einem quasifaschistischen Regime. Die Geschichte Jemens ist nicht weniger tragisch als das, was in Syrien geschieht.

Was ist mit Tunesien und der neuen Verfassung und freien Wahlen? Ist es die einzige Erfolgsgeschichte des Arabischen Frühlings?

Tunesien, das überwiegend als die einzige Erfolgsgeschichte dargestellt wird, hat eine Polizei, die so brutal ist wie eh und je. Sie genießt noch immer Straflosigkeit. Die Armut ist immer noch allgegenwärtig und überall auf der Straße zu sehen. Das gipfelt in schweren Ausschreitungen und brachte dieselben Probleme mit sich, die die Revolution überhaupt erst ausgelöst hatten. Bei der Revolution ging und geht es um soziale Gerechtigkeit und die Unterdrückung durch das Regime – nur zwei der Themen, die immer noch aktuell sind.

Warum enden so viele Aufstände mit einer Niederlage, während Siege auszubleiben scheinen?

Der einzige Weg zu siegen, siegreich zu sein, ist Organisation. Die kämpferischen Teile der lokalen Bevölkerung, die Streiks vorantreiben können, müssen organisiert werden, jene, die Bewegungen auf der Straße mit denen in den Betrieben verbinden können. Das ist die Grundlage für einen Sieg. Es wird Zeit brauchen, bis neue Aufstände ausbrechen, aber Revolutionen sind unausweichlich!

Heißt das, der revolutionäre Impuls von damals verpuffte zunächst einmal?

Revolutionen sind ein Prozess. Sie finden in einem Zyklus von Niederlagen und Siegen statt. Genau wie die Revolutionen von 2011 auf seit Jahrzehnten schwelenden sozialen Konflikten bauten, werden sich auch die Kämpfe heute in das kollektive Gedächtnis der Region einbrennen. Wir erleben in dieser Region gegenwärtig eine zweite Welle von revolutionären Bewegungen: im Libanon, Irak, Sudan und in Algerien. Als Zeichen der Solidarität schwenkten die Demonstrierenden Flaggen anderer Länder, nicht nur aus dem arabischen Sprachraum. Die Menschen ziehen Parallelen, die ihre Kämpfe miteinander verbinden.

Eine neue Welle von Revolutionen

Glaubst du, dass diese »zweite Welle« im Irak und im Libanon und die Solidaritätsbekundungen ein Erbe der Aufstände von 2011 darstellen?

Ich denke, man kann mit Sicherheit sagen, dass die Wurzeln dieser zweiten Welle in den Ereignissen von 2011 liegen. Der Irak und der Libanon haben seit 2011 wiederkehrende Proteste erlebt. Zum Beispiel gab es im Jahr  2015 im Libanon die »You Stink«-Bewegung, ausgelöst durch eine Müllkrise. Die Demonstrierenden begannen, die politische Lage insgesamt und damit die Machtstrukturen im Land infrage zustellen. Im Irak kam es im Jahr 2011 ebenfalls zu Platzbesetzungen nach dem Vorbild der Besetzung des Tahrirplatzes in Kairo. Sie erreichten aber nicht dieselbe Größenordnung.

Worin liegt die Bedeutung dieser Revolutionen?

Die Bedeutung der Revolten in diesen beiden Ländern liegt darin, dass sie der gesamten Region Hoffnung geben. Sie zeigen den Aktivisten, dass das Spiel noch nicht vorbei ist und es weiterhin Widerstand gibt. Das bringt viele Regionalmächte in eine schwierige Lage, denn dies ist die Spielwiese imperialer Mächte wie Iran, Syrien, Israel und »westlicher« Akteure. Es ist vielleicht das erste Mal seit langer Zeit, dass die Menschen sich selbstständig organisieren und anfangen, sich gegen diese Mächte zu stellen.

Was macht die Proteste besonders?

Diese Proteste fanden trotz der konfessionellen Spaltungen statt, die von der herrschenden Klasse in die Bevölkerung getragen wird. Im Libanon sind es mehr als 18 Religionsgemeinschaften, deren politische Anführer sich die Macht und den wirtschaftlichen Wohlstand untereinander teilen. Im Irak besteht eine tiefe konfessionelle Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten. In beiden Ländern gibt es neben einem monströsen Sicherheitsapparat auch bewaffnete Milizen. Es ist mutig, mit dem Ziel zu demonstrieren, konfessionelle Gräben zu überwinden. Diese gemeinsamen Kämpfe von unten sind eine Bedrohung für die herrschende Klasse und ihre politische Ordnung, die aus den Warlords aller Religionen besteht.

In den vergangenen Monaten sind die Proteste auf den libanesischen und irakischen Straßen wieder kleiner geworden. Ist der Aufstand vorbei?

Die Revolte ist Ende 2019 etwas abgeflaut, auch maßgeblich wegen der staatlichen Repressionspolitik. Gezielte Kampagnen gegen Aktivistinnen und Aktivisten – im Irak sogar bis zu Ermordung – und gegen einfache Bürger, die an den Protesten teilnahmen, haben die Bewegung hart getroffen. Auch die Covid-19-Pandemie und die Gesamtsituation hat den Bewegungsradius auf der Straße beschränkt.

Imperiale Mächte als Konterrevolutionäre Kräfte

Es kam also zu einem konterrevolutionären Dominoeffekt in der Region. Welche Rolle spielten imperiale Mächte wie die USA, Deutschland und Frankreich in Bezug auf diese Entwicklungen?

Diese imperialen Mächte unterstützten die zahlreichen Diktatoren in der Region jahrzehntelang, bevor es zu den Erhebungen im Jahr 2011 kam. Sie hatten Mubarak Waffen geliefert, sein Regime finanziert, ihn gefördert und als einen Leuchtturm regionaler »Stabilität« präsentiert. Ägypten ist nur ein Beispiel, aber das gilt auch für die meisten anderen Länder, nicht nur in dieser Region.

Ein demokratischer Übergang ist gescheitert. Wie haben die EU und die USA auf den Militärputsch von al-Sisi reagiert?

Nach dem Militärputsch prangerten die Europäische Union und die USA den Putsch zunächst an. Heute ist al-Sisi einer der wichtigsten Verbündeten des deutschen Staates. Die Bundesregierung beliefert ihn mit Waffen im Wert von weit über einer Milliarde Euro. Ägypten war im Jahr 2019 der drittgrößte Waffenimporteur der Welt. Der Deutsche Staat investiert Milliarden in Ausrüstung und Ausbildung des ägyptischen Militärs, in die Polizei und in Überwachungstechnologie. Alles, was sie interessiert, ist Stabilität und der Kampf gegen Terrorismus und illegalisierte Migration.

Aber Terrorismus ist eine Bedrohung für die Menschen auf der ganzen Welt, nicht nur in Ägypten. Sollte Terror nicht bekämpft werden?

Terrorismus kommt nicht aus heiterem Himmel. Es geht nicht darum, dass Menschen den Koran falsch lesen. Es geht nicht darum, dass Menschen einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Nach der Unterdrückung jeder Art der Opposition war es vorhersehbar, dass einige Teile der Bevölkerung auf terroristische Aktivitäten setzen würden – insbesondere angesichts  des Vorgehens der ägyptischen Armee. Wenn den Menschen jegliche Möglichkeit genommen wird, ein Leben in Würde zu führen, wenn Menschen keine Arbeit finden und keine Möglichkeit für ein menschenwürdiges Dasein geboten wird, dann ist es sehr nachvollziehbar, wenn sie in Boote steigen und versuchen, Europa zu erreichen, oder wenn sie zu Terror und Gewalt greifen.

Der politische Islam und die Revolution

Was ist mit dem »politischen Islam«? Fördert er nicht die Entstehung radikaler bewaffneter Strukturen oder Bewegungen?

Der Begriff »politischer Islam« wird vom »Westen« instrumentalisiert. Er hat eine sehr allgemeine und lose Bedeutung. Er umfasst eine Vielzahl politischer Strömungen, die von reformistischen oder friedlichen politischen Gruppen bis hin zu radikalen bewaffneten Dschihadisten reicht.

Welche Rolle haben islamistische Bewegungen in der Revolution gespielt?

Die Muslimbruderschaft war während der Aufstände von 2011 sehr einflussreich. Die Islamisten waren zumindest am Anfang Teil der Umsturzbewegung. Ihre Führung agierte aber sehr opportunistisch. Sie schloss sich den Aufrufen zu den Protesten am 25. Januar nicht an. Als klar wurde, dass der Aufstand sowieso stattfinden würde, schloss sie sich dem an, schickte aber gleichzeitig Delegierte, um mit Omar Suleiman – dem Chef des nationalen Geheimdienstes – zu verhandeln. Sie versuchte, einen Kompromiss mit dem Regime auszuhandeln. Auf der anderen Seite nahmen die Kader der Basis an der Besetzung des Tahrirplatzes teil. Sie verteidigten die Besetzung des Tahrirplatzes heldenhaft während der »Kamelschlacht«, als bezahlte Anhänger des Regimes teilweise auf Eseln und Kamelen reitend die Menge angriffen. Viele Mitglieder der Muslimbruderschaft starben bei der Verteidigung der Revolution. Die Jugend nahm bei mehreren Gelegenheiten eine revolutionäre Haltung ein und missachtete die Anordnungen ihrer Führung, nicht an den Demonstrationen teilzunehmen.

Welche Klassen umfassen diese Bewegungen?

Islamistische Bewegungen sind klassenübergreifende Bewegungen. Historisch gesehen wurde die Muslimbruderschaft von Leuten mit Geld angeführt, die Leute anheuern. Geschäftsleute und gut situierte Bevölkerungsteile besetzen die Schlüsselfunktionen. Sie sind Teil der Bourgeoisie. Auch wenn sie nicht zu dem Teil der Bourgeoisie gehören, die mit dem Staat verbündet ist, repräsentieren sie einen Teil der herrschenden Klasse. Der Großteil der Kader gehört der Mittelschicht an: Ärzte, Ingenieure, Apotheker, Beamte. Die Basis hat einige Wurzeln in der Arbeiterklasse und baut auf Unterstützung unter den städtischen Armen. Die Muslimbruderschaft kann jedoch nicht als Arbeiterinnenorganisation bezeichnet werden, da sie historisch gesehen nicht in der Arbeiterbewegung aktiv war.

Ist es überhaupt möglich, Islamismus politisch zu kategorisieren und zurückzudrängen?

Letzten Endes zielt der politische Islam darauf ab, das System Schritt für Schritt zu reformieren, was zu eigenen Widersprüchen führt. Das müssen linke Aktivistinnen und Aktivisten begreifen und damit umgehen. Der politische Islam ist wie jede andere politische Strömung auf der Welt. Es gibt nichts Einzigartiges an ihm. Deshalb sollte die Reaktion auf den politischen Islam der Zielgruppe entsprechen, um die es geht und dem Anlass und Stellenwert des Kampfes.

Was ist mit der Unterdrückung islamistischer Bewegungen durch den Staat?

Aktivistinnen und Aktivisten sollten sich nicht auf die Seite des Staates stellen, wenn er im Namen der Bekämpfung reaktionärer Ideen gegen den Islamismus vorgeht. Der Staat setzt reaktionäre Ideen wie den »Krieg gegen Terrorismus« in die Welt. Wenn wir dem Staat erlauben, eine Gruppe zu unterdrücken, wird er dieses Mandat demnächst nutzen, um auch andere Gruppen zu unterdrücken. Wenn wir keine klare Haltung gegen Islamophobie einnehmen, wenn wir keine klare Haltung angesichts der Unterdrückung von Islamisten einnehmen, werden sich die Probleme verschärfen, werden muslimische Gemeinschaften und politische Islamisten weiter von der Gesellschaft entfremdet werden und sie werden zu Gewaltakten und sich radikalisierender  Politik getrieben.

Wie sollte die Linke auf die breite Unterstützung für islamistische Bewegungen reagieren?

Revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten in Ägypten wählen folgenden Ansatz: Manchmal mit den Islamisten, aber niemals mit dem Staat. Ich spreche allerdings nicht von bewaffneten Milizen, sondern von gemäßigten Islamisten des gesellschaftlichen Mainstreams wie der Muslimbruderschaft. Linke Bewegungen brauchen ihr eigene, unabhängige Erzählung Narrativ, ihren Diskurs und ihre Propaganda, um die Basis der Islamisten zu gewinnen. Islamistische Bewegungen konnten wachsen, weil die Linke versagte und sich mit den Regimen im Namen der Demokratie verbündete.

»Je dunkler die Nacht, desto heller der Stern«

Was erwartest du für die nahe Zukunft in der Region?

»Je dunkler die Nacht, desto heller der Stern« heißt es in einem arabischen Sprichwort. Diejenigen, die standhaft die Fahne hochhalten, die weiterhin Widerstand leisten und eine Gesellschaft für alle anstreben, ohne Ausbeutung und Unterdrückung, sind eine große Hoffnung für andere. Leider gibt es in naher Zukunft keine schnelle Lösung oder einen einfachen Ausweg aus der augenblicklichen Misere.

Warum glaubst du das?

Die blutige Niederschlagung der ersten Welle der Revolution zwang Aktivistinnen und Aktivisten, sich im Untergrund zu organisieren. Die Menschen sind verängstigt. Sie sind erschöpft. Viele sind direkt ins Gefängnis gewandert. Andere wurden ermordet. Es gibt einige, die immer noch versuchen, Widerstand zu leisten, die immer noch versuchen, an der Basis zu arbeiten. Sie versuchen, die zerstörten Netzwerke wieder aufzubauen. Doch das braucht Zeit.

Das klingt, als ob du dennoch positiv in die Zukunft blickst. Was sollte deiner Meinung nach dann anders gemacht werden?

Ich bin und bleibe hoffnungsvoll, aber ich bleibe auch realistisch. Wenn es zu einer Wiederbelebung der Revolution kommt, hoffe ich, dass die Menschen besser vorbereitet sind als beim letzten Mal. Dass Organisationsstrukturen vorhanden sind, die in den Betrieben, den Universitäten, den Stadtvierteln verwurzelt sind – ein Netzwerk, das durch die Feuertaufe der täglichen Auseinandersetzungen und Kämpfe gegangen ist.

Vielen Dank für das Gespräch.


Das Interview führte Karim Khoury. Aus dem Englischen Karim Khoury.

Das Interview erschien zuerst im Frühjahr 2021 auf marx21.de

Titelbild: Hossam El-Hamalawy / Flickr

Blog: https://arabawy.org/