Westbank: Kolonialkrieg für Großisrael

Israels brutale Invasion in die Westbank legt offen: Bei Israels genozidalem Krieg gegen die Palästinenser:innen ging es nie um die Befreiung von Geiseln oder um die Zerschlagung von Hamas, sondern stets um das siedlerkoloniale Projekt des Landraubs. Von Jean-Michael Yahya

Am 28. August starteten die israelischen Besatzungstruppen (IOF) die größte Militäroffensive im Westjordanland seit der zweiten Intifada Anfang der 2000er. Bislang konnte der Genozid in Gaza von israelischen Verbrechen in der Westbank und der Annexion weiterer palästinensischer Gebiete seit Oktober 2023 ablenken. Vor der offiziellen Großoffensive hatten die israelische Armee und Siedler:innen in der Westbank bereits über 500 Palästinenser:innen getötet und über 5.000 verletzt. Mittlerweile stiegen die Todesopfer auf über 700 Palästinenser:innen, darunter 154 Kinder, 11 Frauen und 24 Gefangene. Darüber hinaus hat die Armee mindestens 10.400 Palästinenser:innen entführt (unter sogenannter Administrativhaft ohne Anklage, Gerichtsprozess oder Urteil). Seit der Eskalation des Völkermords in Gaza haben israelische Siedler:innen mit Unterstützung der Regierung 25 neue Siedlungen in der Westbank errichtet.

Währenddessen scheint die israelische Armee unter dem Schweigen der westlichen Medien mit einer Großoffensive, die sie »Operation Sommerlager« nennt, eine weitere ethnische Säuberung der palästinensischen Bevölkerung und mehr Landraub.

Autonomiebehörde als verlängerter Arm der Besatzung

Nachdem die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) von der IOF gesuchte palästinensische Widerstandskämpfer in Nablus entführt hatte, begann die Armee mit ihrer Invasion. Die Invasion umfasst vor allem die nördlichen Städte Jenin, Tulkarem, Nablus, Tubas und die südliche Stadt Hebron. In den letzten Jahren hat sich in den Flüchtlingslagern von Jenin, Tulkarem und Nablus ein wachsender bewaffneter Widerstand formiert, der die Kollaboration der PA mit der israelischen Besatzung ablehnt. Vorwiegend ehemalige Kämpfer aufgelöster Fatah-Guerillas haben sich neu formiert und verschiedene Wege gefunden, die zahlreichen Angriffe der militärischen Besatzungsmacht abzuwehren. Da sie nur über begrenzte Mittel verfügen, haben sie sich darauf eingestellt, Schusswaffen zu benutzen und improvisierte Sprengsätze (IEDs) zu bauen, um israelische Militärfahrzeuge in Hinterhalte zu locken.

Unter dem gleichen Vorwand, »den Terror zu beseitigen«, ist das israelische Militär in die Flüchtlingslager der nördlichen Städte eingedrungen, um die Anführer der Widerstandsgruppen zu ermorden und Vertreibungen vorzunehmen. Die Invasion erfolgt nicht nur auf dem Landweg, sondern auch aus der Luft, da die Armee gezielt Luftangriffe auf wichtige Persönlichkeiten des Widerstands fliegt. Diese Art von Luftangriffen wurden seit der zweiten Intifada nicht mehr in der Westbank durchgeführt. Bei diesen Bombardierungen wurden wie auch in Gaza die Tötung von  Kindern und Zivilist:innen billigend oder intendiert in Kauf genommen.

Breite Zerstörung Hebrons

Im palästinensischen Hebron hat die Armee eine Belagerung nach der Tötung von drei israelischen Besatzungspolizisten durch einen ehemaligen Präsidentengardisten der PA koordiniert. Sie forderte die Bewohner:innen von Khirbet Zanuta, einem Stadtteil von Hebron, auf, das Gebiet innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. In Jenin rückte die israelische Armee mit Bulldozern an und zerstörte Häuser und Geschäfte, vor allem aber über 20 km Wasser- und Abwassernetze und über 70 Prozent der Straßen und Infrastruktur der Stadt. Dies hatte zur Folge, dass 80 Prozent der Bevölkerung des Flüchtlingslagers von Jenin (über 20.000 Menschen) ohne Wasser waren. Erneute Vertreibung von geflüchteten Menschen war die Folge.  Ähnliche Zerstörungen wurden auch in den Städten Tulkarem, Tubas und Nablus beobachtet. Mit der gleichen genozidalen Taktik der kollektiven Bestrafung wie in Gaza belagerte die IOF auch die Flüchtlingslager, schnitt sie von der Außenwelt ab und unterbrach die Wasser- und Stromversorgung und zerstörte kritische Infrastruktur.

Wie bereits  im Gazastreifen belagert die israelische Armee Krankenhäuser, nimmt medizinisches Personal ins Visier, schränkt die Bewegungsfreiheit ein (Zerstörung von Straßen, Kontrollpunkten, Belagerung, Beschuss mit scharfer Munition, Luftangriffe, usw.) und verfolgt auch Journalist:innen vor Ort mit Waffen und Bulldozern. Eine 26-jährige US-Aktivistin wurde dabei am 7. September von der israelischen Armee ermordet

Die palästinensischen Menschenrechtsgruppen Al-Haq, Al-Mezan und das Palestinian Center for Human Rights erklärten, dass die Angriffe des israelischen Militärs auf Jenin, Tubas und Tulkarem »die Schließung der Eingänge zu den Städten und die weitgehende Zerstörung der Infrastruktur durch den Einsatz von Militärbulldozern« beinhalteten.

Palästinenser:innen in der gesamten Westbank leisten unabhängig davon, ob sie einer Gruppe angehören oder nicht, unterschiedlichste Formen von Widerstand gegen die Besatzung, indem sie sich gegen die Besatzungsarmee und Siedler:innen verteidigen. Im Laufe der Jahre erlebten sie, wie die Besatzung der Westbank und der Landraub weiter eskalierten und organisierten Gegenwehr.

Westbank zu Gaza

Der Aufruf der israelischen Führung, die Westbank in ein »Mini-Gaza« zu verwandeln, führt zu völkermörderischen Militäroperationen, warnte das UN-Menschenrechtsbüro. »Israels genozidale Gewalt droht sich von Gaza auf das gesamte besetzte palästinensische Gebiet auszubreiten«, sagte Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für die Westbank und den Gazastreifen. Albanese warnte, dass »Apartheid-Israel den Gazastreifen und das Westjordanland gleichzeitig als Teil eines umfassenden Prozesses der Eliminierung, Verdrängung und territorialen Ausdehnung angreift«. »Die langjährige Straflosigkeit, die Israel genießt, ermöglicht die Entpalästinensierung der besetzten Gebiete und überlässt die Palästinenser:innen Kräften, die sie als nationale Gruppe auslöschen wollen«. Ziel der Angriffe auf die Westbank ist es nicht, »den Rasen zu mähen« (wie Israel die eigene regelmäßige Vernichtungspolitik in Gaza betitelt), sondern »die Wurzeln auszureißen«, wie es ein israelischer Sicherheitsbeamter ausdrückte. 

Zusammen mit dem Völkermord in Gaza sollte dies nicht als eine neue Phase des Zionismus oder des Siedlerkolonialismus verstanden werden, sondern als dessen deutlichster Ausdruck. Räumungsbefehle und Zwangsumsiedlungen, begleitet von Gewalt auf allen Ebenen, sind eine starke Parallele zur Nakba. Es ist offensichtlich, dass die Armee den Boden für eine weitere genozidale Eskalation in der Westbank bereitet. Was in Gaza geschieht, kann überall in Palästina und der weiteren Region, siehe Libanon, Syrien, Iran, geschehen, denn die Logik und das System der Kolonialherrschaft, das im Zionismus zum Ausdruck kommt, sind dieselben.

Widerstand in der Westbank

Allerdings gibt es auch in der Westbank tapferen palästinensischen Widerstand gegen das Kolonialprojekt für Großisrael, dessen Grenzen einige israelische Regierungspolitiker:innen vom afrikanischen Nil bis zum asiatischen Euphrat sehen. Es ist zu befürchten, dass die Palästinenser:innen in der Westbank zukünftig auf eine ähnliche genozidale Eskalation wie in Gaza stoßen. Nach dem Niedergang der palästinensischen Wirtschaft durch die Besatzungspolitik (Israel erhebt 100 Prozentige Zölle aus den besetzten Gebieten, was etwa 70 Prozent des BIPs der palästinensischen Wirtschaft ausmacht) und der Degradierung der palästinensischen Landbevölkerung zu einer proletarisierten, in der Kolonialwirtschaft ausgebeuteten Arbeitskraft wird die Lebensgrundlage der Palästinenser:innen zur Geisel des israelischen Besatzungsregimes, was einen sehr hohen Preis für Widerstand abverlangt.

Im Gegensatz zur Ersten Intifada, in der ziviler Ungehorsam und Widerstand darauf abzielte, die Verbindungen zur zionistischen Wirtschaft und den zionistischen Institutionen zu kappen, haben sich die Palästinenser:innen von der landwirtschaftlichen Selbstversorgung entfernt, die vor und während der Ersten Intifada die Grundlage für eine Ökonomie des Widerstands bildete. Durch Projekte wie »Victory Gardens« wurden Grundstücke und Hausgärten in produktive Gemüsegärten umgewandelt, um Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu fördern. Auf diese Weise konnten palästinensische Städte und Dörfer Abriegelungen und Belagerungen über lange Zeiträume hinweg standhalten und sicherstellen, dass die Palästinenser:innen nicht verhungerten, egal wie sehr sich die Bedingungen verschlechterten. Dies ist heute nicht mehr der Fall und könnte verheerende Folgen haben, wenn die IOF ihre Aggressionen ausweitet. Dies ist vor allem auf die Verschärfung der Besatzungsmethoden und die Ausbeutung der palästinensischen Arbeitskraft zugunsten der Ausweitung eines mittlerweile hybriden zionistischen Kolonialprojektes aus Ausbeutung bis zur letztlichen Entfernung zurückzuführen.

Wo bleibt der internationale Aufschrei?

Westliche Regierungen haben nur Lippenbekenntnisse abgegeben, während sie weiterhin Waffen an Israel liefern. Das sogenannte Waffenstillstandsabkommen dient einerseits dem Präsidentschaftswahlkampf der Demokraten in den USA und andererseits Netanjahu dazu, sein Gesicht zu wahren und die Unterstützung mit Waffenlieferung und ideologischem Beistand seine Bündnispartner:innen zu sichern. Die Gewalt gegen die Palästinenser:innen in Gaza und in der Westbank wird dennoch weiter eskaliert. Die große Palästina-Bewegung in den imperialistischen, westlichen Zentren hat sich jedoch nicht von den Maskeraden täuschen lassen und versucht Wege zu finden, sich zu vernetzen und zu organisieren, um mehr Druck auf ihre auszuüben.

Der Fokus muss darauf liegen die Isolation der Bewegung zu durchbrechen und breite Teile arbeitenden Bevölkerung für ein freies Palästina zu gewinnen. Nicht die Regierungen werden die Waffenlieferungen nach Israel beenden, sondern die (Hafen-)Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich der Unterstützung dieses Genozid widersetzen. Die Notwendigkeit des internationalen Widerstandes gegen die menschenverachtende zionistische Politik entspricht dem, was Naji El-Ali, der Autor der Handala-Figur, formulierte: »Der Weg nach Palästina ist weder fern noch nah. Er ist in Reichweite der Revolution.«


Titelbild: middleeastmonitor