Februarrevolution: Niemand erwartete den Aufstand

In der Revolution im Oktober 1917 gelang es der Arbeiterbewegung erstmals, die Macht zu übernehmen. Doch ohne die Februarrevolution hätte es sie nicht gegeben. Von Carl Schreiber

Im Januar 1917 trat der russische Revolutionär Lenin bei einer Versammlung junger Arbeiterinnen und Arbeiter in seinem Schweizer Exil auf. In seiner Rede vertrat er die Ansicht, Europa gehe »schwanger mit der Revolution«. Der Erste Weltkrieg dauerte da bereits über zwei Jahre. Die Zweite Internationale, die internationale Vereinigung der sozialistischen Parteien, war bei seinem Beginn zerbrochen. Wie die deutsche SPD und die ihr angegliederten Gewerkschaften im Rahmen des sogenannten »Burgfriedens« hatten auch in fast allen anderen kriegführenden Ländern die Organisationen der Arbeiterbewegung jeglichen Klassenkampf eingestellt, um den Sieg »ihrer« herrschenden Klasse nicht zu gefährden.

Insofern schien Lenins Vorhersage überraschend, dass in den kommenden Jahren »eben im Zusammenhange mit diesem Raubkriege […] Volkserhebungen in Europa unter der Führung des Proletariats« entstehen würden, auch wenn er einschränkend hinzufügte: »Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben.«

Doch sechs Wochen später war es soweit. In der russischen Hauptstadt Petrograd begann eine Welle von Erhebungen, die erst den Zaren, dann die Herrschaft des Kapitals in Russland und schließlich, zwanzig Monate später, den deutschen Kaiser stürzte und den Krieg beendete.

Die überraschende Februarrevolution

Niemand erwartete an diesem 23. Februar eine Revolution. Sozialistinnen und Sozialisten feierten den Internationalen Frauentag (nach dem in Mitteleuropa gültigen gregorianischen Kalender war es der 8. März, Anm. d. Red.). Diese Tradition war im Jahr 1910 nach einem Aufruf Clara Zetkins, der führenden sozialistischen Frauenpolitikerin Deutschlands, begründet worden. Die sozialistischen Gruppen im Petrograder Untergrund begingen diesen Tag mit Flugblättern, Reden und Versammlungen, riefen aber nirgendwo zu Streiks auf, weil die Zeit für Kampfhandlungen noch nicht gekommen schien. Aus Wut über die Nahrungsmittelknappheit traten die Textilarbeiterinnen, deren Ehemänner häufig in der Armee dienten, dennoch in den Streik und marschierten durch die Fabrikbezirke. Ein Arbeiter der Maschinenfabrik »Ludwig Nobel« erinnerte sich später:

»Wir konnten Frauenstimmen hören: ›Nieder mit den hohen Preisen!‹ ›Schluss mit dem Hunger!‹ ›Brot für die Arbeiter!‹ Eine unübersehbare Menge kämpferisch gestimmter Arbeiterinnen füllte den Weg. Diejenigen, die unserer ansichtig wurden, begannen mit den Armen zu wedeln und riefen: ›Kommt raus!‹ ›Legt die Arbeit nieder!‹ Schneebälle flogen durch die Fenster. Daraufhin schlossen wir uns der Revolution an.«

Am folgenden Tag war bereits die Hälfte der 400.000 städtischen Arbeiter Teil der Bewegung, sie formierten sich zu Demonstrationszügen und marschierten in das Stadtzentrum. Die Parole »Brot« wich den Losungen »Nieder mit der Selbstherrschaft« und »Nieder mit dem Krieg«. Bewaffnete Polizeieinheiten und kasernierte Soldaten, die auf ihren Fronteinsatz warteten, griffen die Demonstranten an. Aber am vierten Streik- und Demonstrationstag verweigerten die Soldaten in den Kasernen den Befehl. Die Arbeiter- und Soldatenmassen mischten sich, strömten mit ihren Gewehren und roten Fahnen auf die Straßen und nahmen Polizisten und Regierungsbeamte fest. In Moskau und anderen russischen Städten entstanden ähnliche Bewegungen. Die Generäle erklärten dem Zaren am 1. März, ihm bleibe keine andere Wahl als abzudanken, wenn die Ordnung gewahrt bleiben solle, was er am 3. März auch tat.

Die Wurzeln des Aufstands

Die Bewegung war spontan entstanden. Doch auch wenn keine Partei die Revolution geplant oder zu ihr aufgerufen hatte, kam sie doch nicht aus dem Nichts. Der Krieg hatte die Arbeits- und Lebensbedingungen der überwältigenden Mehrheit der Menschen in Russland deutlich verschlechtert. Sie sollten durch verstärkte Anstrengungen und Entbehrungen den Sieg ermöglichen. Und während Hunger sich in den Arbeitervierteln breitmachte, starben täglich Arbeiter und Bauern an der Front. Industrielle, Adelige, die Hofclique um die Zarin und Spitzenfunktionäre im Staatsapparat dagegen bereicherten sich am Krieg und schwelgten in Luxus.

Doch Unzufriedenheit allein reicht nicht für eine Revolution. Dazu ist auch das Selbstbewusstsein notwendig, etwas verändern zu können. Es bedarf der Initiative derer, die den ersten mutigen Schritt machen. Da diese in solchen Fällen anderes zu tun haben als Tagebücher zu schreiben, ist wenig bekannt über die Personen, die an hunderten Orten zu Streiks oder Demonstrationen aufriefen. Aber wo die Personen bekannt sind, erwiesen sie sich als organisierte Sozialistinnen und Sozialisten. Insofern ist »Spontanität« nicht mit der Abwesenheit von Organisationen zu verwechseln.

Die Mitglieder der Partei der Bolschewiki in den Betrieben konnten spontan eine führende Rolle übernehmen, obwohl die Parteiführung durch die Ereignisse überrascht war und Tage brauchte, um zu reagieren. Sie konnten das einerseits, weil sie – anders als die Spitze ihrer eigenen Partei – die Stimmung in den Betrieben selbst erlebten, und andererseits – im Gegensatz zu den Anhängern der anderen Parteien in den selben Betrieben – als Bolschewiken über eine größere Klarheit in den entscheidenden politischen Fragen verfügten.

Der Krieg und der Zarismus

Diese politischen Fragen waren der Krieg und der Zarismus. Die beiden großen Parteien der russischen Arbeiterbewegung, Menschewiki und Bolschewiki, unterschieden sich in beiden Fragen erheblich. Die Menschewiki hatten keine einheitliche Position zum Krieg. Dementsprechend zögerten sie, Aktionen zu unterstützen, die zu einer militärischen Niederlage führen könnten.

Die Bolschewiki hingegen sahen den Krieg als einen imperialistischen Krieg, bei dem jede Seite ihre imperialistischen Ziele verfolgte und auf jeder Seite die Arbeiter den Preis dafür zu zahlen hatten. Sie lehnten den Krieg entschieden ab und nahmen deshalb keine Rücksicht auf die Kriegsführung. Im Gegenteil: Für sie war die Revolution ein Mittel, den Krieg zu beenden und die Waffen gegen die eigenen Herrscher zu richten.

In der Frage, wie der Zarismus zu stürzen sei, waren die Differenzen nicht ganz so offensichtlich. Die Menschewiki betrachteten Russland als ein feudales Land und die Revolution gegen den Zaren als eine Aufgabe des Bürgertums. Das Ziel der Revolution sollte danach ein moderner Kapitalismus mit dazu passender Regierungsform sein: eine bürgerliche, parlamentarische Demokratie.

Die Bolschewiki schätzten die Lage ähnlich ein, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Sie zogen aus den Erfahrungen der gescheiterten Revolutionen von 1848 in Frankreich und Deutschland den Schluss, dass das Bürgertum zwar Demokratie bevorzuge, aber aus Angst vor dem politischen Erstarken der Industriearbeiterklasse auch mit einer Diktatur leben können, solange seine Kontrolle über die Produktion und ihr Reichtum unangetastet bleibe.

Die russischen Erfahrungen der vorhergehenden Jahrzehnte sprachen für diese Einschätzung. Die politischen Parteien des Bürgertums strebten zwar Reformen des Zarismus an, die ihnen selbst mehr politische Mitsprache ermöglichen würden, aber stürzen wollten sie den Zaren nicht. Eine ihrer führenden Leute, Michail Rodsjanko, erzählte später: »Die gemäßigten Parteien haben die Revolution nicht nur nicht gewollt, (…) sie haben sich vor ihr einfach gefürchtet.«

Diese Erkenntnis vor Augen meinten die Bolschewiki, auch wenn die Revolution erst einmal eine bürgerliche sein müsse, auch wenn der Kapitalismus erst einmal etabliert werden müsse, trotzdem die Arbeiter die treibende Kraft der Revolution sein würden. Sie würden den Anfang machen, sie würden mit ihren Organisationen und Aktionen die Ziele der Revolution durchsetzen, möglicherweise auch im Interesse des Kapitals, aber in jedem Fall gegen dessen Willen und Widerstand. Die Bolschewiki änderten im Laufe des Jahres 1917 diese Position, aber sie ermöglichte ihnen erst einmal, die Revolution ohne Rücksicht auf mögliche bürgerliche Bündnispartner voranzutreiben.

Arbeiterräte vs. zaristisches Parlament

Die Februarrevolution brachte nach dem Sturz des Zaren zwei Machtzentren hervor: Auf der einen Seite gab es eine Regierung, die von jenen bürgerlichen Parteien der Duma gebildet wurde. In diesem nach Klassenwahlrecht gewählten alten zaristischen Parlament saßen überwiegend Großgrundbesitzer und Industrielle mit dem Fürsten Lwow als Regierungschef.

Auf der anderen Seite standen die Arbeiterdelegierten, die sich in einem Sowjet, einem Arbeiterrat nach dem Vorbild der russischen Revolution von 1905 versammelten. Die Arbeiterdelegierten trafen sich anfangs nur, um die Aktivitäten der verschiedenen Arbeitergruppen aufeinander abzustimmen. Als aber auch die aufständischen Regimenter ihre Delegierten schickten, wurden die Sowjets zum Brennpunkt der revolutionären Bewegung. Ihre gewählte Exekutive übernahm fortan die Verwaltung der Hauptstadt und anderer Städte. Faktisch wurde sie zur Regierung der Revolution. Diese Arbeiter- und Soldatenregierung war jedoch nicht bereit, die Macht zu übernehmen, sondern wartete auf die Dumapolitiker. Diese »Doppelherrschaft« prägte die politischen Auseinandersetzungen der kommenden Monate.


Titelbild: George Shuklin / WikiCommons