Frankreichs Repression gegen Rentenproteste erinnert an die Unterdrückung von Muslim:innen

In den wochenlangen Proteste gegen die Rentenreformen der französischen Regierung 2023 hat auch die staatliche Repression zugenommen. Die Taktiken gegen die Rentenproteste wurden zuerst Muslim:innen auferlegt, aber es gab wenig Widerstand von denen, die jetzt in der Schusslinie stehen, meint Yasser Louati

Anmerkung der Svu-Redaktion: Vor dem Hintergrund der immensen Repression des deutschen Staates gegen die Palästina-Solidaritätsbewegung im anhaltenden Verlauf des Völkermords in Gaza, erhält dieser 2023 erstmals veröffentliche Artikel eine umso größere Bedeutung für alle sozialen Bewegungen in Deutschland und ganz Europa.


Yasser Louati ist ein französischer Politologe und Leiter des Komitees für Gerechtigkeit und Freiheiten (Committee for Justice & Liberties, CJL). Er ist Gastgeber eines erfolgreichen Podcasts mit dem Titel »Le Breakdown with Yasser Louati« auf Englisch und »Les Idées Libres« auf Französisch. Auf Twitter: @yasserlouati


Seit Wochen finden in ganz Frankreich Proteste und Streiks mit Hunderttausenden von Menschen statt, die sich gegen Macrons Rentenreformen und die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters von 62 auf 64 Jahre wehren. Tiefe Unzufriedenheit macht sich in der ganzen Gesellschaft breit, sogar in Schulen und Universitäten.

Gleichzeitig demonstrieren die Menschen in der ländlichen Stadt Sainte-Soline gegen die Pläne der Regierung, die Wasserressourcen durch den Bau von Wasserreservoirs zu privatisieren. An beiden Fronten hat der Staat mit brutaler Repression reagiert.

Die französische Polizei ist bekannt dafür, dass sie die härtesten Methoden zur Kontrolle von Menschenmengen einsetzt. In Sainte-Soline fielen zwei Menschen nach dem massiven Einsatz von Tränengas, Betäubungsgranaten und Gummigeschossen ins Koma.

Außerdem stellte sich heraus, dass die Gendarmerie (Militärpolizei) trotz ihres anfänglichen Dementis verhinderte, dass der erste Rettungsdienst einen der verletzten Demonstrierenden erreichte.

Dennoch wurde die Polizei von Kontrollen und Sanktionen verschont. Anstatt Rechenschaft abzulegen, hat Innenminister Gerald Darmanin die französische Menschenrechtsliga (Ligue des Droits de l’Homme) angegriffen und gedroht, ihr die Mittel zu kürzen. Dies ist ein besonders perverses Vorgehen gegen die älteste und angesehenste Menschenrechtsorganisation Frankreichs, da sie vor kurzem Ergebnisse veröffentlicht hat, die den übermäßigen Einsatz von Gewalt durch die französische Polizei in den letzten Jahren aufzeigten und insbesondere die Praktiken gegen die Demonstrierenden von Sainte-Soline aufdeckten.

Die Repression der Rentenproteste ist nicht neu

Das ist noch nicht alles. Nur eine Woche zuvor hatte Darmanin auch angekündigt, die Umweltbewegung, die an den Sainte-Soline-Mobilisierungen beteiligt war, auflösen zu wollen: Le Soulèvement de la Terre (Aufstand der Erde).

Zwischen diesen Angriffen auf die Zivilgesellschaft beschuldigte der Minister im Journal Du Dimanche (das dem Sponsor von Eric Zemmour, Vincent Bolloré, gehört) die linken Regierungsgegner:innen des »intellektuellen Terrorismus der Ultralinken«.

Darmanins Angriffe haben zwar überall, auch in den linken Medien, Schockwellen ausgelöst, aber nach Macrons Krieg gegen den »islamistischen Separatismus« ist das alles nicht wirklich überraschend. Seit 2021 und der Verabschiedung des höchst umstrittenen Anti-Separatismus-Gesetzes verfügt die Regierung über das rechtliche Instrumentarium, um jede abweichende Stimme zu kriminalisieren, und sie hat damit begonnen, ihre Bemühungen auf Muslime zu konzentrieren. Leider geschah dies ohne nennenswerten Widerstand oder Aufschrei in der übrigen Gesellschaft.

Es ist klar, dass diese Methoden jetzt in größerem Umfang eingesetzt werden.

Seit 2021 und der Verabschiedung des höchst umstrittenen Anti–Separatismus–Gesetzes verfügt die Regierung über das rechtliche Instrumentarium, um jede abweichende Meinung zu kriminalisieren, und hat damit begonnen, ihre Bemühungen auf die Muslime zu konzentrieren. Leider geschah dies ohne nennenswerten Widerstand oder Aufruhr in der übrigen Gesellschaft.

Die Nationale Beratende Kommission für Menschenrechte (CNCDH) zeigte sich schockiert über die Angriffe Darmanins auf die Menschenrechtsliga und forderte den Premierminister auf, die Haltung der Regierung zu den Menschenrechten zu klären. Ein Kollektiv von Akademiker:innen forderte Macron ebenfalls zu Recht auf, die Äußerungen des Innenministers zu verurteilen, und erklärte, dass der Angriff auf die Liga in eine autoritäre Dynamik (une dynamique ouvertement illibérale) abgleitet.

All dies ist zwar wichtig, aber man muss sich fragen, warum eine ähnliche Aufregung ausblieb, als in den letzten Jahren reihenweise muslimische Organisationen geschlossen wurden? Denn selbst wenn die bürgerlichen Freiheiten der Muslime nicht in erster Linie Anlass zur Besorgnis wären, würde es die derzeitigen Repressionen vielleicht nicht geben, wenn man sich gegen das, was ihnen droht, zur Wehr setzen würde.

Darmanin kann von »Öko-Terrorismus« und Marcon von »Fraktionen« sprechen, wenn er den Widerstand gegen seine Reformen abtut, denn das Drehbuch mit den belasteten Begriffen wurde bereits geschrieben und unter dem Deckmantel des Krieges gegen den Terror und der »Sicherheit« auf Muslime angewendet.

Nach den Terroranschlägen von 2015 erklärte die französische Regierung, dass sie die Europäische Menschenrechtskonvention nicht mehr aufrechterhalten werde, um muslimische Menschen besser unterdrücken zu können. In der Zwischenzeit wurden über 4.000 Razzien gegen muslimische Menschen und Einrichtungen durchgeführt, von denen weniger als 1 Prozent zu einer Untersuchung führten.

Noch vor wenigen Jahren, als die Polizei im Namen der Terrorismusbekämpfung unschuldige muslimische Wohnungen brutal zerstörte, schien der Rest der französischen Gesellschaft das zu begrüßen, was sie als staatlichen Schutz vor dem gefährlichen »Anderen« ansah. Heute, da weiße Schädel gebrochen werden, erkennt die Mehrheit – die im besten Fall geschwiegen und im schlimmsten Fall die Unterdrückung von Muslim:innen unterstützt hat -, dass die Polizei nicht dazu da ist, sie zu schützen, sondern die Herrschenden.

Antimuslimische Repression ist der Türöffner für die Repression aller

Sicherlich hat die französische Polizei eine dunkle Geschichte. Die Bilanz dieser Institution umfasst die Deportation von Jüdinnen und Juden, das Werfen von Algerier:innen in die Seine, die Ermordung arabischer Kinder aus nächster Nähe und die Terrorisierung muslimischer Gemeinschaften.

Darüber hinaus dienen die Banlieues, in denen sich seit jeher arme, rassifizierte und migrantische Gemeinschaften aufhalten, seit langem als Frankreichs Labor für Repression. Es sagt alles, wenn ein Polizeibeamter zu einem Demonstrierenden mit gelber Weste sagen kann: »Wenn Sie in den Banlieues wären, hätte ich Ihnen den Kopf abgerissen«. Und wenn sich jemand aus den betroffenen Gemeinden gegen die Regierung ausspricht, geschweige denn eine andere Meinung vertritt, wird er oder sie als Islamist:in, Fundamentalist:in usw. beschuldigt.

Diese Behandlung ist nicht mehr für die »Minderheit« reserviert. Jetzt werden auch Journalist:innen und sogar gewählte Beamte von der Polizei schikaniert, wenn sie demonstrieren oder einfach nur ihre Arbeit machen.

Wie die Rechtswissenschaftlerin Mireille Delmas Marty warnte, driftet Frankreich in einen »sanften Despotismus« ab. In Wirklichkeit werden diejenigen, die die Hitze der neoliberalen Reformen spüren, die heute brutal umgesetzt werden, ein böses Erwachen erleben, was noch kommen wird.

Es ist eine wichtige Erinnerung daran, dass Frankreichs motorisierte Anti-Aufruhr-Polizei (BRAV-M), die nach der Ermordung von Malik Oussekine im Jahr 1986 verboten wurde, zurückgebracht wurde, um die Gelbwesten-Bewegung 2018 zu zerschlagen. Die sogenannte Republik schätzt kein Leben, das sich dem Status quo widersetzt, und respektiert keinen Raum, der sie für die Aushöhlung der bürgerlichen Freiheiten zur Rechenschaft ziehen will, und sie wird offensichtlich jedes Mittel einsetzen, das sie für notwendig hält, um den Widerstand zu unterdrücken.

Vielleicht lernt die weiße Mehrheit ein für alle Mal, dass sie ihre eigenen Rechte schwächt, wenn sie zulässt, dass die Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten einer Gruppe angegriffen werden. Als Muslim:innen in Frankreich zu Empörung und Solidarität aufriefen, wurden sie zum Schweigen gebracht. Jetzt wird diese Mehrheit mit der Tatsache konfrontiert, dass es nicht eine Frage des »ob«, sondern des »wann« ist, ob sie Opfer staatlicher Repression werden.


Dieser Text erschien im April 2023 zuerst auf The New Arab – Opinion / Voices. Aus dem Englischen von Simo Dorn.

Titelbild: Rodrigo Kugnharski