Am vergangenen Sonntag, dem 12. November, marschierten Führer von Macrons Regierungspartei in Frankreich mit Faschist:innen bei einer Massendemonstration in Paris und gaben vor, sich dem zunehmenden Antisemitismus zu widersetzen, aber in der Tat darauf abzielen, die pro-palästinensische Bewegung zu lähmen. Von John Mullen
Frankreich hat die größte jüdische Bevölkerung in Europa – etwa eine halbe Million Menschen – und Vorurteile gegenüber Jüdinnen und Juden sind hier eine sehr reale Sache. Jean-Marie Le Pen baute seine Front Nationale Organisation mit ihrem faschistischen Kern auf, während er darauf bestand, dass die Öfen von Auschwitz „ein Detail der Geschichte“ seien, und indem er wiederholt „Witze“ machte, die andeuteten, dass er jüdischen Persönlichkeiten, die sich ihm widersetzten, dasselbe Schicksal wünschen würde. Jordan Bardella, derzeit Leiter dieser Organisation (jetzt Rassemblement National genannt und mit 88 Mitgliedern im Parlament vertreten) bestand diese Woche darauf, dass Jean-Marie Le Pen nicht antisemitisch gewesen sei, und versprach, dass seine Partei an der Seite von Macrons Minister:innen gegen den Antisemitismus marschieren werde, der seiner Meinung nach den französischen Muslim:innen und linken Aktivist:innen anzulasten sei.
Antisemitismus in Frankreich
Gewalttätiger Antisemitismus in Frankreich kommt meist von der extremen Rechten, aber nicht nur. In den letzten zwanzig Jahren gab es eine Reihe von rassistisch motivierten Morden an Jüdinnen und Juden, darunter der Terroranschlag auf einen koscheren Supermarkt im Jahr 2014, bei dem vier Menschen starben. Darüber hinaus zeigen Umfragen, dass bis zu einem Drittel der Bevölkerung Vorurteile wie „[Jüdinnen und] Juden haben zu viel Macht in der Geschäftswelt“ hegt.
Nach Angaben der Polizei wurden in Frankreich im letzten Monat 1.159 antisemitische Straftaten (von Beleidigungen bis hin zu Übergriffen) begangen. Die Behörden machen nur sehr wenige Angaben. Einige davon werden von der extremen Rechten begangen worden sein (in der südlichen Stadt Nizza wurden Hakenkreuze an Wände geschmiert, während in Fresnes in den Pariser Vororten antijüdische und White-Power-Parolen zu sehen waren). Einige stammen sicherlich von Leuten, die dummerweise Jüdinnen und Juden im Allgemeinen für die israelischen Massaker verantwortlich machen, und andere von Meldungen an die Polizei über pro-palästinensische Aktivitäten, die in Wirklichkeit überhaupt nicht antisemitisch sind. Innenminister Darmanin hat bereits erklärt, dass das Schwenken einer palästinensischen Fahne ein antisemitischer Akt sei, während selbst die angesehene Zeitung Le Monde den Slogan „Vom Fluss zum Meer“ als wahrscheinlich antisemitisch bezeichnet!
Es passt zu Macron, wenn er behauptet, dass die Zunahme antisemitischer Angriffe die wichtigste Nachricht des Tages sei, und nicht etwa die Unterstützung seiner Regierung für die Tötung der Kinder in Gaza. Und regelmäßig versuchen Macron und andere Rechte, französische Araber:innen für den Antisemitismus verantwortlich zu machen. Dies wurde durch die dschihadistischen antijüdischen Terroranschläge, die Französinnen und Franzosen nordafrikanischer Herkunft ebenso entsetzten wie alle anderen, offensichtlich erleichtert.
Wenn die israelische Regierung und die französischen Massenmedien jeden Tag des Jahres erklären, dass alles, was Israel tut, im Namen aller Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt geschehe, ist es nicht verwunderlich, dass es Menschen gibt, die dumm genug sind, ihnen zu glauben, und dies kann uninformierte Menschen zu antisemitischem Gedankengut bewegen. Aber Frankreich brauchte keine arabische Einwanderung, um eine starke Strömung antisemitischer Vorurteile im Lande zu erkennen. Der Antisemitismus reicht weit in die französische Geschichte zurück, und die aktive Beteiligung des französischen Staates an Massakern an Jüdinnen und Juden während des Zweiten Weltkriegs machte aus einer hasserfüllten Tendenz eine Mörderische. Selbst General de Gaulle konnte seinen Antisemitismus fröhlich zum Ausdruck bringen, als er in den 1960er Jahren erklärte, die Jüdinnen und Juden seien „immer ein Volk der Elite gewesen, das sich seiner Sache sicher war und dominierte“.
Macrons Repression
Im Jahr 2019 erklärte Macron zum ersten Mal, dass „Antizionismus eine der modernen Formen des Antisemitismus ist“. Die Regierung Macron ist heute entschlossen, die Palästina-Solidaritätskampagne als antijüdisch zu diffamieren, obwohl viele Jüdinnen und Juden in ihr aktiv sind. Mehrere Demonstrationen in Paris wurden verboten, und der Pariser Polizeichef erklärte, die Gefahr antisemitischer Parolen sei zu groß. Nachdem die Pro-Palästina-Stimmung noch stärker wurde und die verbotenen Demonstrationen ohnehin stattgefunden hatten, genehmigte die Regierung in der folgenden Woche weitere Proteste. Das Ergebnis waren riesige Demonstrationen, bei denen es keine antisemitischen Parolen gab (obwohl die rechte Presse die Straßen nach solchen durchkämmte).
Die Repressionen gehen jedoch weiter. Die theatralische Abschiebung einer palästinensischen Rednerin, Mariam Abudaqa, wird gerade organisiert. Aktivist:innen, die Plakate mit der Aufschrift „Stoppt den Genozid“ aufhängten, wurden letzte Woche verhaftet und über Nacht in Gewahrsam genommen. Anfang November entwickelten einige von Macrons Mitarbeiter:innen einen raffinierten neuen Plan: einen großen Marsch von der Nationalversammlung zum Senat „gegen den zunehmenden Antisemitismus“. Die Medien nutzten die Gelegenheit, um jede Organisation, die nicht zur Teilnahme an dem Marsch aufrief, als Judenhasser zu denunzieren.
Der ursprüngliche Aufruf zu den landesweiten Demonstrationen am Sonntag, den 11. November, der von Macrons Team veröffentlicht wurde, enthielt die Forderung nach der Freilassung der israelischen Geiseln, sagte aber nichts über die Massaker in Gaza. Es wurde behauptet, dass „Islamisten“ die Hauptschuldigen für die Angriffe auf Jüdinnen und Juden in Frankreich seien, aber es wurde nichts über Islamfeindlichkeit gesagt. Die rechtsextreme Organisation Rassemblement National rief überraschenderweise sofort ihre Anhänger:innen zur Teilnahme an der Demonstration auf. Alle prominenten Faschist:innen des Landes ließen sich plötzlich dazu hinreißen, ihr wohlbekanntes Mitgefühl für jüdische Menschen zu bekunden. Eric Zemmour, Marine Le Pen und Jordan Bardella marschierten am Sonntag (12.11.) in Paris und konnten kaum glauben, welch großen Gefallen ihnen Macrons Team mit der Einbeziehung in diese Initiative tat.
Die Linke stand unter großem Druck, sich an dem Marsch in Paris zu beteiligen. Die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei und die Grünen riefen dazu auf, mitzumarschieren, bestanden aber darauf, dass es eine „republikanische Barriere“ geben sollte, um sicherzustellen, dass die extreme Rechte getrennt marschieren würde (in Wirklichkeit ein völlig undurchführbarer Vorschlag). Die größte linksradikale Organisation, France Insoumise („Frankreich in Aufruhr“), beschloss, sich nicht an der Demonstration zu beteiligen. „Der Kampf gegen Antisemitismus und alle Formen von Rassismus ist nicht möglich, wenn man an der Seite einer Partei marschiert, deren Ursprünge in der Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten liegen“, heißt es in der Pressemitteilung von France Insoumise. Jean-Luc Mélenchon ging sogar noch weiter und erklärte, dass dies „ein Treffpunkt für diejenigen ist, die das Massaker in Gaza unterstützen“. Der kämpferische Gewerkschaftsbund CGT (der vor kurzem den palästinensischen Botschafter zu einer Rede vor seinem Nationalrat eingeladen hat) lehnte Macrons Marsch ab und rief stattdessen dazu auf, sich an einer seit langem geplanten Wochenkundgebung gegen Antisemitismus zu beteiligen, die mit dem Jahrestag der Reichsprogromnacht zusammenfiel.
Wir sehen euch, Antisemiten!
Glücklicherweise haben am besagten Sonntag viele Menschen die zynische Manipulation durchschaut. In Marseille nahmen nur 7.000 Menschen an der Demonstration teil, in Bordeaux, Lyon und Nizza nur 3.000. In Paris hingegen demonstrierten rund hunderttausend Menschen. Zweifellos hatten die meisten Anwesenden nicht die Absicht, den Faschist:innen zu helfen, sich zu rehabilitieren, und die Befürworter:innen der israelischen Massaker trauten sich nicht, israelische Fahnen zu tragen. Das faschistische Aufgebot wurde kurzzeitig von ein paar Dutzend Mitgliedern der linksjüdischen Gruppe Golem gestört, die Plakate mit der Aufschrift „Wir sehen euch, Antisemiten!“ schwenkten.
Es ist keine Überraschung, dass diese Zusammenarbeit mit den Faschist:innen der Rassemblement National in ihren schicken Anzügen von einer Macron-Regierung kommt, die letztes Jahr das Verbot der lokalen antifaschistischen Gruppierung in Lyon, bekannt unter dem Akronym GALE, mit der Begründung verkündete, dass die Gruppe gewalttätige Handlungen „gegen rechtsextreme Aktivist:innen und ihr Eigentum“ unterstütze, zur gleichen Zeit, als sie die CRI, eine Rechtshilfeorganisation für Opfer von Islamfeindlichkeit, verbot.
Macrons Team will zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – die Pro-Palästina-Bewegung angreifen und den Boden für künftige Bündnisse mit Faschist:innen bereiten. Die Demonstrationen der Palästina-Solidaritätsbewegung am 11. November, die weitaus dynamischer waren, sind ein Zeichen dafür, dass eine andere Option möglich ist, solange die meisten linken Aktivist:innen nicht in Macrons sorgfältig ausgelegte Fallen tappen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf theleftberlin am 14.11.2023.
Übersetzung aus dem Englischen von Simo Dorn.
Titelbild: theleftberlin