“Palästina gehört in den Kontext von Antirassismus und Antikolonialismus”

Interview mit Elisa Baş über die Antisemitismusvorwürfe gegen sie, Rassismus in Deutschland und die Solidarität mit Palästina

Kannst du dich bitte zunächst einmal vorstellen?

Ich heiße Elisa Baş, bin 22 Jahre alt und Aktivistin für Klimagerechtigkeit. Ich arbeite hauptsächlich mit Fridays for Future (FFF) und BIPOC for Future. Mein Verständnis von Klimagerechtigkeit ist stark von Antirassismus, Antikapitalismus und Antikolonialismus geprägt.

Dein Name ist in den letzten Wochen häufig in den Medien genannt worden. Warum ist das so?

Es gab verschiedene Schlagzeilen über mich. Alle waren negativ, wie “Klimaaktivistin schockiert mit Vorwürfen gegen Juden”. Im Wesentlichen haben die Bild und andere Springer-Medien versucht, mich als FFF-Sprecher als geschichtsvergessen und geschmacklos darzustellen. Der ursprüngliche Artikel von Julian Loevenich erschien zuerst in der Berliner Zeitung, dann eine Stunde später in Bild und innerhalb eines Tages sogar im österreichischen Exxpress und mehr.

Der Grund war, dass ich in meiner Instagram-Story eine Kritik an Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, geteilt habe. Diese Kritik wurde von jemand anderem geschrieben, und ich habe sie in meiner Story als die Worte eines anderen geteilt, was deutlich sichtbar war, aber in jedem Artikel über mich falsch dargestellt wurde. In einem Gastbeitrag für Bild schrieb Schuster “Die Barbaren sind unter uns” und “es muss etwas geschehen”. Auf dem Foto zu dem war jemand zu sehen, der eine palästinensische Fahne schwenkte, es handelte sich also eindeutig um einen Hinweis auf die Solidarität mit Palästina.

Du bist nun schon seit einiger Zeit ein öffentliches Gesicht im deutschen Aktivismus, bist du von diesen Angriffen überrascht?

Ich wusste, dass es mich irgendwann treffen würde. Ich stehe in der Öffentlichkeit, ich bin jetzt seit etwa eineinhalb Jahren Sprecherin. Ich bin eine sehr gute Zielscheibe, sie können über mich sprechen und mein Gesicht auf ihren Bildern verwenden, um ihr Narrativ über “islamischen Antisemitismus” zu unterstreichen. In Deutschland ist die Islamfeindlichkeit im Moment unglaublich stark und das hängt mit der derzeitigen Debatte über Zuwanderung und Flüchtlinge zusammen. Ich war also als Ziel sehr geeignet. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie so schlechten Journalismus betreiben würden, mit Lügen und sehr konstruierten Behauptungen wie der, ich würde Josef Schuster mit dem Nationalsozialismus vergleichen. Sogar die Grünen haben mich niedergemacht und gesagt, meine Kommentare seien an Bösartigkeit nicht zu überbieten. Sie kennen meine Arbeit nicht, dass ich mich gegen jede Form der Unterdrückung ausspreche und mich mehrfach gegen Antisemitismus ausgesprochen habe. Es war genau der richtige Zeitpunkt, um mich anzugreifen, und so haben sie sich mit meiner Geschichte beschäftigt und versucht zu skandalisieren, dass ich über Völkermord und Antirassismus gesprochen habe.

Dieser Rufmord an meiner Person richtet sich in Wirklichkeit gegen die gesamte Bewegung für Klimagerechtigkeit und gegen die Bewegung für die Grundrechte des palästinensischen Volkes. Rassismus und Hetze werden vertuscht; niemand spricht über die Verwendung des Begriffs “Barbar” in den Medien oder in den Artikeln, die über mich geschrieben werden!

Solche Hetzkampagnen gegen propalästinensische Aktivist:innen sind in Deutschland und anderswo üblich. Oft ist es erst eine Zeitung, die einen Artikel mit solchen schwachen Argumenten schreibt. Danach kommt es zu einer Lawine, bei der es so viele Artikel gibt, dass es nicht mehr darauf ankommt, was tatsächlich geschrieben wird. Als ich mich auf dieses Interview vorbereitet habe, habe ich bei Google News nach dir gesucht. Es sind einfach all diese schrecklichen Schlagzeilen, und die schiere Anzahl soll für die:den Leser:in der Beweis für die Richtigkeit der Behauptung sein. Und ich denke, dass diese Verleumdungskampagnen oft so ablaufen, insbesondere gegen rassifizierte Aktivist:innen.

Kannst du die Angriffe und die Vorwürfe gegen dich mal herunterbrechen?

Wir müssen verstehen, dass die Kampagne gegen mich in Deutschland mit dem Narrativ des “importierten Antisemitismus” oder des “islamischen Antisemitismus” auf sehr fruchtbaren rassistischen Boden fällt. Nehmen wir also eine Person wie mich, die den Hidschab trägt und eindeutig muslimisch ist, die sich für Klimagerechtigkeit einsetzt und es wagt, über Antirassismus und weiße Vorherrschaft zu sprechen. Und dann habe ich eine Meinung zum sogenannten israelisch-palästinensischen Konflikt, die sich von der hegemonialen Meinung dazu unterscheidet, und das passt auch in das Narrativ des “islamischen Antisemitismus”. Ich war also die perfekte Zielscheibe für die Bild-Zeitung, die vor allem von rechten und rechtsliberalen/gemäßigten Menschen gelesen wird.

Es wurde auch behauptet, ich hätte zu verbotenen Demonstrationen oder Kundgebungen aufgerufen, was eine Lüge ist. Jede Demonstration, zu der ich aufgerufen habe, wurde ursprünglich von der Polizei genehmigt und war zu dem Zeitpunkt, als ich dazu aufrief, erlaubt. Wenn sie verboten war, dann wenige Minuten vor der Kundgebung, und ich konnte das zum Zeitpunkt meines Beitrags nicht  wissen.

Meine Kritik an dem von Schuster verwendeten rassistischen Begriff “Barbaren” wurde als Judenfeindschaft ausgelegt, was eine absurde Täter-Opfer-Umkehr ist. Der Begriff “Barbaren” wird seit Jahrhunderten zur rassistischen Entmenschlichung von Minderheiten verwendet, auch hier in Deutschland. Jetzt geschieht es mit den Palästinenser:innen, und keine Tageszeitung und keine Person, auch wenn sie jüdisch ist, sollte das tun dürfen.

Unter anderem lag das daran, dass ich das Wort “Pogrom” verwendet habe. Da in der Nazizeit Juden bei Pogromen ermordet wurden, behauptete Bild-Redakteur Loevenich, ich würde den Präsidenten des Zentralrats der Juden mit Nationalsozialisten vergleichen, oder genauer gesagt, ihn “in die Nähe der Nationalsozialisten rückt.”.

Um das klarzustellen: Einem Pogrom geht eine Pogromstimmung voraus. Der Kommentar, den ich auf Instagram geteilt habe, sprach von einer Pogromstimmung, die angeheizt werden und sich so zu einem Pogrom entwickeln kann. Pogrome haben natürlich auch einen historischen Bezug zum Antisemitismus, aber eine Pogromstimmung ist nicht auf den Nationalsozialismus beschränkt. Der Begriff ist viel älter und wird auch heute noch in unterschiedlichstenn Zusammenhängen verwendet. Selbst der Duden und die Bundeszentrale für politische Bildung verstehen unter Pogromen gewalttätige Aktionen und Ausschreitungen gegen ethnische, nationale, religiöse Minderheiten oder politische Gruppen. Die israelische Zeitung Ha’aretz bezeichnete zum Beispiel den Siedlerangriff auf das palästinensische Dorf Huwara als Pogrom. In Deutschland bezeichnet selbst die proisraelische Anne-Frank-Bildungsstätte die rassistischen Übergriffe von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen auf Migrant:innen als Pogrome. Es ist also durchaus möglich, dass es in Deutschland wieder zu Pogromen kommt.

Es ist klar, was mit dieser Umdeutung des Begriffs versucht wird. Man will den Rassismus verwischen und die kritischen Stimmen zum Schweigen bringen. Eine gesamte Identität wird diskriditiert, nationale Symbole werden verboten, Kinder dürfen kein Zeichen ihrer Identität mehr in der Schule tragen, wie die traditionell bestickte palästinensische Kleidung (Tatreez). Wenn alles Palästinensische mit Antisemitismus gleichgesetzt wird, Palästinenser:innen unter Generalverdacht gestellt werden, ist das eine Aufstachelung zu Pogromen. Die Folgen davon zeigen sich in Deutschland in den vielfältigen Angriffen auf die palästinensische Identität, in der Polizeigewalt und in der Einschränkung der demokratischen Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Ich kann und werde angesichts einer solchen Ungerechtigkeit nicht schweigen. Meine Stimme für die Beendigung der Besatzung zu erheben bedeutet nicht, den öffentlichen Frieden zu stören, sondern ihn zu erhalten.

Was den öffentlichen Frieden ganz klar stören würde, wären kollektive Angriffe auf jüdische Menschen, Gemeinden und öffentliche Einrichtungen wegen der Taten des israelischen Staates. Das ist eindeutig antisemitisch, da das jüdische Volk mit dem Staat Israel in Verbindung gebracht wird. Das Werfen von Molotowcocktails auf Synagogen oder das Malen von Davidsternen auf Häuser ist Gewalt gegen jüdisches Leben und muss verurteilt werden. Natürlich wird es in Gaza keine Gerechtigkeit geben, wenn jüdische Menschen angegriffen werden, sondern nur, wenn die Besatzung beendet wird.

Du hast auch den Begriff Völkermord verwendet, was ebenfalls kritisiert wurde.

Der Begriff Völkermord wird von führenden Wissenschaftlern verwendet, um die systematische Belagerung und Flächenbombardierung des Gazastreifens zu beschreiben. Der israelische Holocaust- und Völkermordforscher Raz Segal nannte es einen Völkermord wie aus dem Lehrbuch, weil der Völkermord in Gaza von Sprachrohren der israelischen Armee offen angekündigt wurde. Die palästinensischen Einwohner wurden als Tiere bezeichnet, die von Wasser, Lebensmitteln, Strom und Treibstoff abgeschnitten werden sollten und wurden.

Schon vor dem jetzigen Krieg in Gaza erklärte die UNO, Gaza sei nicht überlebensfähig. 97 Prozent des Wassers war verseucht. Die tägliche Kalorienzufuhr war begrenzt und die Hälfte der Kinder zeigte keinen Lebenswillen. Über 90 Prozent der Kinder leiden an posttraumatischer Belastungsstörung. Dies ist eindeutig kein Krieg gegen die Hamas, sondern ein Krieg gegen alle Zivilist:innen in Gaza. Wir können nicht schweigen, wenn zwei, drei Millionen Menschen zum Opfer eines Völkermord werden. Und angesichts solcher Verbrechen ist es Pflicht, die Wahrheit zu sagen.

Kommen wir zu einem größeren Kontext: Welche Rolle spielt Rassismus hier in Deutschland für dich als antikoloniale Aktivistin?

Im Jahr 2022 gab es eine Studie über Rassismus in Deutschland, die zeigte, dass rassistische Vorstellungen und rassistisches Gedankengut in dieser Gesellschaft tief verwurzelt sind. 49 Prozent der Befragten glaubten sogar an die Existenz menschlicher “Rassen”. Die Hälfte der Menschen in Deutschland! Und das, obwohl dies längst wissenschaftlich widerlegt ist und diese fehlende wissenschaftliche Grundlage in den Schulen gelehrt wird. Stark angestiegen ist auch die Zustimmung zu rechtsextremen Positionen, die nun bei 6,3 Prozent liegt, im Vergleich zu den Vorjahresergebnissen, die bei knapp 2 oder 3 Prozent lagen. Dieses rechtsextreme Selbstverständnis wird inzwischen recht selbstbewusst in der Öffentlichkeit vertreten. Dies geschieht in einer Zeit, in der die Grundbedürfnisse des Lebens, wie ein Dach über dem Kopf oder etwas zu essen, immer schwieriger zu erfüllen sind. Und rund ein Drittel der Befragten glaubt auch, dass flüchtende Menschen nur nach Deutschland kommen, um das Sozialsystem auszunutzen, ein Vorurteil, das von fast allen Parteien angeheizt wird. Olaf Scholz hat kürzlich im Spiegel sogar angekündigt, Deutschland müsse endlich “im großen Stil” diejenigen abschieben, die kein Bleiberecht in Deutschland haben.

Wenn ich darüber spreche, was das mit mir als antikolonialer Aktivistin zu tun hat, denke ich, es ist wichtig, all das offen anzusprechen. Es hilft nicht, Dinge zu vertuschen, wie es die Bewegung für Klimagerechtigkeit lange Zeit getan hat, anstatt anzuerkennen, dass es unmöglich ist, die Klimakrise innerhalb dieses kapitalistischen Unterdrückungssystems zu bekämpfen. Als Klimagerechtigkeitsbewegung erkennen wir also an, dass die Klimakrise ihren Ursprung in kapitalistischen Kolonialstrukturen hat. Es wäre dann eine Perversion des Kampfes für Klimagerechtigkeit selbst, sich nicht mit den kolonisierten Palästinenser:innen zu solidarisieren. Innerhalb von FFF International spielt die deutsche Sektion jedoch eine besondere Rolle. FFF Deutschland hat sich in der Vergangenheit trotz internationalen Drucks anderer FFF-Gruppen geweigert, sich mit den Palästinenser:innen zu solidarisieren. Während Greta Thunberg und andere Gruppen in den vergangenen Tagen die logische Schlussfolgerung der Solidarität mit den Palästinenser:innen gezogen haben, fürchtet FFF Deutschland um seinen Ruf hierzulande, ein Risiko, das sie nicht eingehen wollen.

Du hast gesagt, dass Pogrom ein historischer Begriff ist, und das eindrucksvolle Gegenbeispiel von Raz Segals Verwendung des Wortes Genozid erwähnt. Aber ein großer Unterschied ist, dass er in den USA lebt und du in Deutschland bist. Selbst mir fällt es schwer, diese Debatten in Deutschland zu führen, erst recht über Zeitungsüberschriften. Oft muss ich sogar die Tatsache, dass ich Jude und Nachkomme von in Auschwitz Ermordeten bin,  fast als Rechtfertigung benutzen, um meine Meinung überhaupt äußern zu können. Wie stellt sich dir   die Erinnerungskultur in Deutschland dar?

Die deutsche Erinnerungskultur ist einfach darauf ausgerichtet, gute Beziehungen zu Israel zu haben. Wenn man Israel als ein jüdisches Kollektiv sieht, das gerettet werden muss, dann ist die deutsche Erinnerungskultur durch den Schutz Israels wirksam. Das Ergebnis, der Erfolg der Erinnerungskultur, wird an den diplomatischen Beziehungen Deutschlands und der Unterstützung des israelischen Staates und seinem Handeln gemessen. Und es ist auch gleichgültig, welche israelische Regierung an der Macht ist, ob sie faschistisch ist oder nicht. Es ist wirklich ironisch, dass wir heute Faschisten unterstützen, um daran zu erinnern und zu verurteilen, dass Deutschland eine brutale faschistische Vergangenheit hat. Ich weiß nicht, was ich sonst noch zu einem so seltsamen Ansatz des Gedenkens sagen kann. Es wird auch nur an einen Aspekt des Völkermords erinnert, während Menschen aus der LGBTQ+-Gemeinschaft, Roma und Sinti und andere marginalisierte Menschen, die in Konzentrationslagern starben, ignoriert werden.

Ich möchte hinzufügen, dass es eine sehr offensichtliche symbolische Aufladung von Jüdinnen und Juden und auch Israels als Vertreter der Jüdinnen und Juden gibt. Diese symbolische Aufladung des israelischen Staates führt zu dem, was du über die Widersprüche der deutschen Unterstützung des Faschismus in Israel gesagt hast. Und ich denke, es gibt so viele Menschen, uns beide eingeschlossen, die in diesem Narrativ nicht mehr vorkommen.

Du hast völlig recht, und ich möchte sagen, dass die Parole “Nie wieder” derzeit der Legitimation eines Völkermords an den Palästinenser:innen dient. Das ist eine sehr engstirnige Sicht auf die Erinnerungskultur. Denn wie du sagtest, ist die Erinnerungskultur auf Israel beschränkt, auch durch die deutsche Staatsräson. Das gibt ihnen das Gefühl, von ihrer Schuld befreit zu sein und eine neue Idee von einem geläuterten und reformierten Deutschland geschaffen zu haben. Diese kapitalistische und imperiale Form wird  keine radikale Veränderung ihrer Beziehungen zu Israel bewirken können, wenn sie die Erinnerungskultur so wie derzeit definiert wird. Es bedarf auch eines radikalen Wandels in der Gesellschaft, um alle Menschen mit einzubeziehen und zu verstehen, dass es um jüdische Menschen und andere verfolgte Gruppen gehen sollte und nicht um einen Staat. Aber es ist für Deutschland einfacher, auf den Staat Israel zu verweisen, als tatsächlich gegen Antisemitismus vorzugehen, was faktisch nicht stattfindet.

Wenn das der Fall wäre, dann hätten die Corona-Demonstrant:innen nicht den Davidstern tragen dürfen, der den Holocaust verharmlost und herunterspielt. Aber die deutschen Medien konnten eine solche rassistische Debatte, wie sie derzeit stattfindet, nicht führen, weil es sich um weiße Deutsche handelte, und daher gab es keine Debatte über ihre Abschiebung. Es gab keinen rassistischen Grund, auf dem diese Kritik hätte gedeihen können. Das Gleiche gilt für die eindeutig antisemitischen Verschwörungserzählungen über die Covidpandemie als geplanten Angriff auf uns, aber auch hier wurde nicht “Skandal” gerufen. Es ist offensichtlich geworden, dass es nicht um den Antisemitismus an sich geht. Erinnere dich daran, dass die Polizei sagte, sie könne die Coronademonstrationen nicht verbieten, weil sie nicht vorhersehen könne, ob dabei Straftaten begangen würden, da wir uns in einem demokratischen Staat befänden. Sie sagten, es müsste erst zu entsprechenden Vorfällen kommen und dann könnten sie ein Verbot aussprechen. Und jetzt, ich meine, wir beide lachen, weil wir wissen, dass es jetzt keine ähnliche Erklärung gibt, sondern dass aus rein rassistischen Gründen propalästinensische Demonstrationen immer wieder verboten werden, bevor sie überhaupt begonnen haben.

Ich habe das Gefühl, dass sich durch all das, was du ansprichst, seien es die falschen Antisemitismusvorwürfe, der angebliche “islamische Antisemitismus”, die Bezeichnung von Menschen als “Barbaren” oder diese Coronademonstrationen mit Davidsternen, ein roter Faden hindurchzieht. Das ist die Weigerung, kolonisierte Perspektiven oder wirklich alles außerhalb des deutschen Narrativs zu berücksichtigen.

Hinzu kommt, dass Deutschland die historische Verantwortung, die es für die Gesamtsituation in Israel und Palästina trägt, konsequent ausblendet. Nicht nur in Israel und gegenüber dem jüdischen Volk, sondern auch, wie der Holocaust benutzt wurde, um die Enteignung und Entrechtung des palästinensischen Volkes über Jahrzehnte zu rechtfertigen, wie der israelische Historiker und sozialistische Aktivist Ilan Pappe dargelegt hat. Deutschland ignoriert dies kategorisch und weigert sich, die historische Verantwortung gegenüber dem palästinensischen Volk zu übernehmen, da der Holocaust bei der Entstehung der Nakba eine Rolle gespielt hat, als das jüdische Volk auf der Flucht war und Sicherheit suchte.

Ein letzter Punkt, den ich nach den Ereignissen der letzten Zeit ansprechen möchte. Wir haben erlebt, dass rassistische Kommentare so offen geäußert und Kommentare wie der deine so leicht verdreht werden. Wie können wir Linken deiner Meinung nach besser direkt mit den Menschen kommunizieren und unsere antirassistische Botschaft vermitteln?

Ich denke, wir müssen deutlich machen, dass wir auch in Deutschland eine koloniale Vergangenheit haben, und wir haben auch Begriffe wie “barbarisch” benutzt, um Kolonisierung zu legitimieren, genauso wie Großbritannien und Frankreich. Der aktuelle Diskurs ist sehr stark rassistisch und kolonial grundiert, auch wenn die Leute denken, dass der Kolonialismus der Vergangenheit angehört. Was Palästina betrifft, so denke ich, dass wir gemeinsam mit antirassistischen und Menschenrechtsgruppen die Verantwortung für das Geschehen übernehmen, vorankommen müssen. Natürlich wäre das im deutschen Kontext schwierig, wo wir gesehen haben, wie zum Beispiel die Übersetzung der Berichte über Apartheid im Westjordanland verzögert wurde und so weiter. Daher denke ich, dass es jetzt an der Zeit wäre, über ihre Reaktion und ihre Verantwortung zu sprechen. Zum Beispiel unternimmt Amnesty International Deutschland jetzt kleine Schritte, um über die Unterdrückung demokratischer Rechte zu sprechen. Vielleicht ist das ein erster Schritt in die richtige Richtung, auch wenn ich weiß, dass die Messlatte sehr niedrig angesetzt ist. Aber wir müssen über Palästina im Kontext von Antirassismus und Antikolonialismus sprechen und deutlich machen, dass eine propalästinensische Haltung eine logische Konsequenz dieser Kämpfe ist.

Im Zuge der durch die Black-Lives-Matter-Bewegung von 2020 angestoßenen Debatte über Rassismus kamen auch Personen zu Prominenz und entwickelten sich Ideen, die heute als Katalysatoren für die Verknüpfung des antirassistischen Kampfes mit dem Kampf für die Befreiung Palästinas dienen können.


Das Interview führte Rowan Gaudet. Es erschien zuerst auf theleftberlin am 31.10.2023

Aus dem Englischen von Simo Dorn.

Titelbild: theleftberlin