Bei Syriza ist die Ära Tsipras vorbei

Syrizas neue Führung: Ist das Spiel für die Linke aus?

Der neue Vorsitzende von Syriza heißt Stefanos Kasselakis. Was das Ende der Ära Tsipras für die Linke in Griechenland bedeutet. Von Dimitra Kyrillou

„Die Linke erkennt die heutigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen an. Es gibt keinen Grund, das Wort ,Kapitalʻ zu verteufeln. Und das Wort ,Arbeit‘ muss ein Appell für ,Zusammenarbeit‘ sein, für einen neuen Gesellschaftsvertrag, in dem Arbeiter:innen aktiv an der Entwicklung der Zusammenarbeit beteiligt sind.“
Stefanos Kasselakis, der frisch gewählte Präsident von Syriza, auf der Generalversammlung der Hellenic Federation of Enterprises (SEV) am 9. Oktober 2023

Am 29. Juni 2023 gab Alexis Tsipras seinen Rücktritt von der Führung der griechischen linken Partei Syriza bekannt. Syriza hatte bei den Parlamentswahlen vom 21. Mai und 25. Juni eine demütigende Niederlage erlitten, sie hatte gerade einmal 18 Prozent der Wählerstimmen erhalten (im Vergleich zu 33 Prozent im Jahr 2019), die regierende rechte Partei Nea Dimokratia 41 Prozent und somit zum zweiten Mal den Auftrag zur Regierungsbildung. 

Obwohl die Oppositionspartei mit der Suche nach einer neuen Strategie offensichtlich in eine neue Phase eingetreten war, hatten ihre Mitglieder wohl kaum erwartet, dass der drei Monate später gewählte neue Vorsitzende schamlos eine solche Meinung wie die oben zitierte vertreten würde. Immerhin gilt Syriza immer noch als Partei der radikalen Linken, eine, die acht Jahre zuvor einen Bruch mit den rücksichtslosen kapitalistischen Institutionen der Europäischen Union (EU) und eine bessere Zukunft für viele versprochen hatte. Wie konnte es so enden?

Syriza und die Regierung Mitsotakis

Nach den Wahlen waren Syrizas Mitglieder sich einig, dass ihre Partei keine ernsthafte Opposition zu der harten neoliberalen Politik von Kyriakos Mitsotakis und seiner Regierung aufgebaut hatte. Dabei hätte es angesichts der wirtschaftlichen Inkompetenz der Regierung und der ausgebrochenen sozialen Kämpfe genügend Gelegenheit dafür gegeben: Es gab Streiks, antirassistische Bewegungen, eine #MeToo-Bewegung, Unruhe an den Universitäten und vieles mehr. In dieser Zeit stimmte Syriza für über 50 Prozent der Gesetzesvorlagen der Regierung.

Vier Parteikader erklärten eiligst ihre Kandidatur für den Parteivorsitz: die ehemalige Arbeitsministerin Effie Achtsioglou, der ehemalige Finanzminister Euklid Tsakalotos, der innerhalb von Syriza die linke Strömung „Schirm“ repräsentiert, Tsiprasʼ enger Verbündeter Nikos Pappas und der altgediente Sozialdemokrat Stefanos Tzoumakas, der ursprünglich der Pasok (Panhellenische Sozialistische Bewegung) angehörte. Alle sprachen von der Konkurrenzkandidatur des linken Tsakalotos gegen die pragmatische Achtsioglou, bis am 29. August Stefanos Kasselakis seine Kandidatur verkündete.

Wer ist Stefanos Kasselakis?

Noch im Mai kannte kaum jemand den netten jungen schwulen Mann, der auf Tsiprasʼ Empfehlung hin auf die Kandidatenliste zu den Parlamentswahlen gesetzt wurde. Geboren in Athen ging Kasselakis, nachdem er ein Stipendium erhalten hatte, in die USA und schloss mit einem Bachelor of Arts in Internationalen Beziehungen und einem Bachelor of Science in Finanzwesen der Universität Pennsylvania ab. Als Student arbeitete er ehrenamtlich für Joe Bidens Wahlkampf bei den Präsidentschaftsvorwahlen der Demokratischen Partei von 2008.

Als offener Anhänger von liberalen Reformen für „weniger Staat“ und freie Marktwirtschaft hatte er seine Bewunderung für den rechten Mitsotakis in Artikeln für die konservative griechische Zeitung The National Herald of New York geäußert, landete aber schließlich bei Syriza. Er hat für Goldman Sachs gearbeitet, den Thinktank des Zentrums für Strategische und Internationale Studien in Washington D.C., und gründete später die Reederei SwiftBulk. Bevor er sich als Kandidat für die Parlamentswahlen und für die Führung von Syriza aufstellen ließ, hatte er kaum eine Beziehung zu der Partei. Er tauchte nur einmal in einer TV-Diskussionsrunde als Ersatz für jemand auf, und als er sich gegen die homophoben Anschuldigungen eines rechtsextremen Kandidaten wehrte, brachte ihm das viel Sympathie ein. Nach den Wahlen kehrte er zu seinem Wohnsitz in den USA zurück.

Dennoch hat Kasselakis mit einer kurzen, aber hochmodernen und auf Glitzer setzenden Kampagne in der zweiten Runde der Wahlen für den Parteivorsitz von Syriza einen klaren Sieg über Achtsioglou errungen. Er sprach kaum über die Themen im Land – Armut, Brände, Überflutungen, Unterdrückung –, sondern hauptsächlich über sich als fähigen Führer, der Mitsotakis durch Transformation Syrizas nach dem Vorbild der Demokratischen Partei in den USA schlagen könne.

Beifall von der Presse

Die regierungsfreundliche Presse begrüßte die Wahl von Kasselakis zum Vorsitzenden Syrizas, ergriff die Gelegenheit, „das Ende der Linken“ zu feiern, und kommentierte, dass jetzt „die Regierung Mitsotakis faktisch oppositionsfrei“ sei.

Das entspricht nicht ganz der Realität, aber von wem erhielt Kasselakis nun Unterstützung? Wer Verschwörungserzählungen mag, der könnte in der Causa Kasselakis eine klassische Einmischung der CIA in die griechische Politik sehen – angesichts der düsteren Nachkriegsgeschichte Griechenlands wäre das gar nicht so abwegig. Solche Theorien können aber nicht die Enttäuschung älterer Mitglieder erklären, die sich erst gar nicht an der Wahl des Parteivorsitzes beteiligt haben. Auch nicht, dass gut 40.000 Personen sich geduldig in die langen Schlangen vor den Parteibüros stellten, um einzutreten und mitwählen zu dürfen (Gesamtbeteiligung 150.000 Mitglieder) in der Hoffnung auf eine Führung, die die Menschen vor dem Hass der rechten Regierung der Nea Dimokratia rettet.

Heute wissen wir, dass Kasselakis von Alexis Tsipras selbst und seinen engen Verbündeten eingeführt wurde, insbesondere von dem angriffslustigen ehemaligen Gesundheitsminister (und einst radikalem Linken) Pavlos Pollakis, der berühmt-berüchtigt dafür war, hart gegen den rechten Flügel vorzugehen.

Der Parteiapparat ist flexibel

Tsipras äußerte sich nicht öffentlich dazu, aber ein bedeutender Teil des Parteiapparats, der vorher offen auf der Seite von Alexis Tsipras stand, wechselte zu Kasselakis und das mit eben der Argumentation, die sie früher gegen die Parteiminderheit vorgebracht hatten: Mit anderen Worten machten sie für die Isolation der Partei von der griechischen Gesellschaft die Linken verantwortlich, richteten ihr Sperrfeuer dabei aber sowohl auf die pragmatische Achtsioglou als auch auf den Linken Tsakalotos, während Pappas eiligst seine Unterstützung für Kasselakis verkündete.

Dies war das zweite Mal, dass Syriza eine Urabstimmung zur Wahl der Parteispitze durchführte, statt sie nach einer systematischen politischen Debatte unter den aktiven Mitgliedern und der Entscheidung über das Parteiprogramm auf einem Delegiertenparteitag zu wählen. Alexis Tsipras hatte diese Reform im Jahr 2022 eingeführt, um „die Basis zu ermächtigen“, und er wurde dann mit 99,05 Prozent der abgegebenen Stimmen gewählt. Bis zu seinem Rücktritt im Sommer hatte sich niemand in der Partei getraut, seine Politik oder seine Führung infrage zu stellen, auch nicht die „Schirm“-Strömung. Letztere betonte vor allem organisatorische Fragen und den Mangel an innerer Demokratie. Das aber lässt sich von politischen Fragen nicht trennen.

Der Rechtsschwenk von Syriza

Syrizas Aufstieg, die 180-Grad-Wende im Jahr 2015 und ihr Niedergang sind an anderer Stelle bereits ausführlich diskutiert und analysiert worden. Es gibt in dieser Entwicklung jedoch einen Meilenstein: Als die Partei im Jahr 2019 die Wahlen verlor und vom Regierungsamt in die Opposition wechselte, beschloss das Team von Tsipras, dass Syriza sich von seiner radikalen Vergangenheit lösen müsse, da dies ein Erbe aus der Zeit war, als die Partei bei den Wahlen nur 3 bis 5 Prozent erhielt. In diesem Kontext musste eine Partei, die sich als Regierungspartner sieht, sich aber in der Opposition befindet, die Haltung einer „Regierung im Wartestand“ einnehmen. Dieses „gewaltsame Erwachsenwerden“ von 2015 wurde zu einem Grundprinzip, das dem Programm von Syriza eingeschrieben wurde und seine organisatorischen Strukturen zu prägen begann. Das ist kurz gefasst die Tragödie einer linken Partei, die eine rechte Opposition darstellt und der schrecklichen rechten Regierung von Mitsotakis nichts mehr entgegensetzt.

Diese Strategie war nicht neu. In Italien benannte sich die Kommunistische Partei in Demokratische Linkspartei um und ließ alle alten Bezüge auf eine „Linksregierung“ fallen. Sie wurde eine Partei des Neoliberalismus mit Matteo Renzi als Ministerpräsident. Unter seiner Regierung gab es eine scharfe Kürzungspolitik, undemokratische Verfassungsreformen, die Arbeitslosigkeit stieg und das Tarifrecht wurde angegriffen. Diese Entwicklungen ebneten Matteo Salvini und später Giorgia Meloni den Weg, ihren Einfluss selbst in den traditionellen Arbeiter:innenregionen auszubauen. Trotz der negativen internationalen Erfahrung beteiligte sich die Führung unter Tsipras an diesem destruktiven Projekt. Intern demütigten sie jede linke Stimme, die ihnen nicht folgte oder auch nur schwankte. Syrizas letzter Parteitag stellte den Triumph von Tsipras und seiner Politik dar. Keine organisierte Strömung traute sich, ihn und seine politische Ausrichtung noch infrage zu stellen.

Die linke Opposition in Syriza

Die Mitglieder der linken „Schirm“-Opposition blieben loyal und gaben die Parole aus: „Es gibt nur einen Präsidenten“. Sie versuchten sich an das „einstimmig vorgeschlagene politische Parteitagsprogramm“ zu halten. Das Einzige, was sie infrage stellten, waren die Vorschläge zur innerorganisatorischen Parteireform. Ihre Methode und Argumente in dieser Auseinandersetzung waren für Tsipras ein Kinderspiel, er beschuldigte sie, ein „Game of Thrones“ zu spielen, das „der griechischen Gesellschaft gleichgültig ist“. 

Syriza war schon auf dem Weg, sich in eine „moderne“ europäische sozialdemokratische Partei zu verwandeln, die sich schon lange von den Interessen der organisierten Mitgliedschaft, den Basisorganisationen und von der Basis gewählten und ihr rechenschaftspflichtigen Parteigremien entfernt hat. Für die „moderne“ Sozialdemokratie ist diese Art der Partei nichts anderes als ein „innerer, von der Gesellschaft losgelöster Apparat“, der aufgegeben werden muss. Stattdessen sei eine „charismatische Führung“ nötig, die ihre Entscheidungen unabhängig von Parteistrukturen trifft, und das Urteil über diese Entscheidungen fällt die Bevölkerung bei den Wahlen.

Als Opposition ausgefallen

Syriza hat diesen Prozess auf dem letzten Parteitag abgeschlossen und sorgte dafür, dass die rechte Agenda in die Praxis umgesetzt wurde, obwohl die Regierung der Nea Dimokratia von Skandalen, von Massenprotesten und großer Wut in der Bevölkerung erschüttert wurde. Zur Zeit der Coronapandemie, als die Beschäftigten der Krankenhäuser für die Stärkung des griechischen Gesundheitssystems kämpften, schlug die „neue“ Syriza der Regierung vor, einen „von allen Seiten akzeptierten“ Gesundheitsminister zu ernennen.

Als im Jahr 2021 Waldbrände auf der Insel Euböa wüteten und die Empörung über die Regierung in der Parole „Mitsotakis fuck you“ ihren Ausdruck fand, erteilte Syriza Lektionen in „politischer Kultur“. Als es im März dieses Jahres nach dem Zugunglück von Tempi mit 57 Toten, verursacht durch die Privatisierung der Bahn, zu Massenprotesten kam, sprach Syriza von der Notwendigkeit, die Parlamentswahlen „reibungslos“ durchzuführen. Selbst nach dem schrecklichen Schiffsunglück bei Pylos kurz vor der zweiten Wahlrunde, das Hunderte Flüchtlinge das Leben kostete, erklärte Tsipras seine Unterstützung für die EU-Flüchtlingspolitik und verteidigte den Bau der Mauer an der Grenze zur Türkei. Die dramatische Rechtswende Syrizas lässt sich von der Wahl Kasselakis’ nicht trennen.

Was nun?

Bei Abfassung dieses Artikels ist die zweite Runde der Kommunal- und Regionalwahlen abgeschlossen, bei der die Nea Dimokratia einerseits ihre Vorherrschaft erhalten konnte, andererseits aber auch in einigen Hochburgen verlor. In den drei größten Städten, Athen, Thessaloniki und Patras, regiert jetzt die Opposition. In Patras gewann das KP-Mitglied Kostas Peletidis zum dritten Mal die Wahlen und in sechs Verwaltungsbezirken verloren die Favoriten der Regierung. Syriza dagegen hatte so gut wie keinen Erfolg. Die meisten Wahlsieger stammen aus dem weiten Einflussbereich der Pasok oder sind rechte Dissidenten. Die Kommunistische Partei konnte einen Zuwachs an Stimmen und Einfluss verzeichnen. Die radikal-antikapitalistische Linke konnte einige Stadtratssitze erobern, insbesondere dort, wo sie Wahlbündnisse gebildet hatte – wie in Athen und Thessaloniki. Das Wahlrecht ist skandalös undemokratisch auf große Parteien zugeschnitten, ihre Kandidaten gelten schon in der ersten Runde als gewählt, wenn sie 43 Prozent erhalten haben, und es schließt kleinere Parteien durch eine 3-Prozent-Hürde aus. Die Wahlbeteiligung war gering, was zeigt, dass sich eine große Zahl der Wähler:innen von niemand repräsentiert fühlte.

Die Wahlergebnisse führten zu neuen Auseinandersetzungen, die verbunden mit Kasselakis’ prokapitalistischen Erklärungen und der unhinterfragten Unterstützung des Angriffs Israels auf Gaza für neuen Zündstoff gesorgt haben. Aber die Reaktion der Parteiführung darauf bestand darin, den für November geplanten Parteitag auf Ende Februar 2024 zu verlegen und jede Debatte zu vermeiden. Kürzlich wurde Stefanos Tzoumakas per Twittermitteilung von Kasselakis nach kritischen Äußerungen über Kasselakis in der Presse ausgeschlossen. Der EU-Parlamentarier Stelios Kouloglou ist kürzlich aus Syriza ausgetreten und beklagt den Rechtsruck und das manipulative Vorgehen. Auch eine wachsende Zahl der gar nicht so wenigen linken Mitglieder Syrizas ist ausgetreten. Es gibt eine Debatte in der „Schirm“-Strömung, ob es sinnvoll ist, weiterhin in Syriza zu bleiben oder gemeinsam auszutreten.

Neue Wege für die Linke

Die Linke in Griechenland war nie eine unbedeutende politische Kraft. Obwohl sie in etliche Formationen gespalten ist, von der Linken in Syriza über die Kommunistische Partei bis zur antikapitalistischen Linken, hat sie immer eine bedeutende Rolle in gesellschaftlichen Kämpfen gespielt. Die Dynamik und die schiere Zahl von Menschen, die nach dem Zugunglück von Tempi oder bei Streiks und antirassistischen Demonstrationen auf die Straße gingen, übersteigen bei Weitem die Stimmen, die die Linke bei Wahlen erhält. Die soziale Macht der Linken ist um ein Vielfaches größer als ihre Macht bei Wahlen und im Parlament.

Die Frage, die wir deshalb beantworten müssen, lautet nicht, ob die Linke erledigt ist, sondern was für linke Ideen, war für eine linke Strategie und Organisation wir heute brauchen, damit die künftigen gesellschaftlichen Kämpfe erfolgreich sind.


Dimitra Kyrillou ist Mitglied der griechischen sozialistischen Organisation Sosialistiko Ergatiko Komma (SEK) und des antikapitalistischen Wahlbündnisses Antarsia

Erstveröffentlichung bei The Left Berlin

Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning

Foto: Joanna/Flickr