DIE LINKE und die Staatsraison

Solidarität mit Israel ist deutsche Staatsraison. DIE LINKE sollte sich dieser Leitlinie nicht anschließen, meint Volkhard Mosler

Gregor Gysi hat in einer Grundsatzrede anlässlich des 60. Jahrestags der Staatsgründung Israels seine Partei DIE LINKE aufgefordert, sich der herrschenden Staatsräson zu unterwerfen, dies allerdings kritisch.

Staatsräson sei zwar Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse, aber wenn die LINKE mitregieren wolle, dann müsse sie diese „einfach hinnehmen“, manchmal ließe sie sich auch „etwas verschieben“. Zur Staatsräson der alten BRD vor 1989 gehörte der Antikommunismus, bis heute auch die Anerkennung des Existenzrechts des Staates Israel.

Leider verrät uns Gregor Gysi nicht, was zur Staatsräson der BRD heute sonst noch gehört. Vielleicht die Verteidigungspolitischen Richtlinien aus dem Jahr 1992, in denen die Staatsräson für die Zeit nach Ende des Kalten Kriegs definiert wurde, nämlich die Neubestimmung der Bundeswehr als internationale Eingreiftruppe zur Sicherung deutscher Wirtschaftsinteressen?

Das offizielle Thema der Geburtstagsrede ist zwar Israel und die Linke, die wesentliche Botschaft ist jedoch eine Mahnung zur Anerkennung der bestehenden Machtverhältnisse als unbedingte Voraussetzung für eine Regierungsbeteiligung der LINKEN.

I. „Antiimperialistische Diskurse nicht mehr sinnvoll …“ ?

Gregor Gysi weist darauf hin, dass sich „die innige Verklammerung von Antiimperialismus und Sozialismus“ aufgelöst und sich die einstmaligen Hoffnungen der sozialistischen Linken nicht erfüllt haben. Als Ursache führt er ein ökonomisches und ein „machtpolitisches“ Argument an.

Ökonomisch habe die Entkolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zur Dauerkrise des Kapitalismus geführt, die Binnenmärkte ersetzten die Kolonialmärkte weitgehend. Politisch sei durch den Zusammenbruch des Staatsozialistischen Blocks auch die „machtpolitische Komponente“ eines sozialistisch orientierten Antiimperialismus weg gebrochen.

Mit dem Ende des Kolonialismus und dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe auch der Antiimperialismus seine historische Begründung verloren. Gysis Argumente sind richtig, soweit sie sich gegen illusionäre Fehleinschätzungen der früheren sozialistischen Linken über den sozialistischen Charakter nationaler Befreiungsbewegungen wenden. Sie sind falsch, da sie – jenseits ökonomischer Katastrophenerwartungen – nicht berücksichtigen, dass nationale Befreiungsbewegungen den Imperialismus politisch geschwächt haben („Vietnamsyndrom“). So hatte der Sieg des Vietcong und Nordvietnams gegen die USA zwar kaum Auswirkungen auf die US-Wirtschaft, er war aber ein wesentlicher Faktor zur Entfaltung sozialrevolutionärer, emanzipativer Bewegungen weltweit. Die Fahne, unter der dieser Sieg errungen wurde, war nicht ausschlaggebend.

Dem wäre noch hinzuzufügen, dass der antiimperialistische Widerstand von Afghanistan bis Palästina den westlichen Imperialismus auch heute wieder schwächt und damit sozialistische Ansätze und Spielräume in Nahost und Asien – siehe die Streiks und die Demokratiebewegung in Ägypten und Pakistan-, in Südamerika – Venezuela, Bolivien – und anderswo erleichtert.

Die klassische marxistische Theorie von der Dialektik nationaler Befreiungskämpfe und sozialer Emanzipation war nie von der Voraussetzung eines sozialistischen Charakters der nationalrevolutionären Bewegung ausgegangen. Das Kriterium für ihre historische Fortschrittlichkeit war ihr objektiv antiimperialistischer Charakter. Tragen diese Bewegungen zur Schwächung der großen Unterdrückungsmächte dieser Welt bei? Die Linke sollte allerdings nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen und den nationalen Befreiungsbewegungen und ihren heutigen politischen Führungen „sozialistische“ Tendenzen andichten, die ihnen nicht zukommen. Diese Einschränkung darf umgekehrt aber eine kritische Unterstützung und Zusammenarbeit mit diesen Bewegungen nicht ausschließen, alles andere wäre Kapitulation vor imperialistischen Kriegen.

Gysi weist darauf hin, dass die ehemaligen Kolonialstaaten ihre Bedeutung als Rohstofflieferanten behalten hätten, er daher den Begriff „Neokolonialismus“ für „nicht ganz unzutreffend“ halte. Imperialismus ist aber nicht nur ein ökonomisches Stadium des reifen Kapitalismus. Zum Imperialismus gehören der Krieg und die Anwendung militärischer Gewalt und politischer Macht auf internationaler Ebene. Wir fügen hinzu: Das gilt vor allem für die Staaten des Mittleren und Nahen Ostens mit ihren riesigen Erdölvorkommen, deren Ausbeutung und Kontrolle in jeder Hinsicht von strategischer Bedeutung ist. Die USA und an ihrer Seite Israel, aber auch England, Frankreich und zunehmend auch die BRD üben hier mehr als in irgendeiner anderen Region der Welt militärische Gewalt und politische Macht aus. Die Friedensbewegung hat dies treffend in der antiimperialistischen Parole „Kein Blut für Öl“ ausgedrückt.

Auch Gregor Gysi kommt nicht umhin, das zuzugestehen: „Vereinfachend“ könnte man die Kriege in Afghanistan und Irak imperialistische nennen, sagt er. Auf Israel treffe der Begriff des Imperialismus jedoch nicht zu. Eine interessante These, leider begründet Gysi sie nicht.

II. Vom sowjetischen Antizionismus zum arabischen Antisemitismus?

Gregor Gysi behauptet, dass mit dem Untergang der Sowjetunion und des mit ihr verbundenen Blocks der Antizionismus seinen Charakter gewandelt habe. Früher sei der Antizionismus durch die Sowjetunion „vom Verdacht des Antisemitismus befreit“ gewesen. Dagegen prägten heute „antisemitische Einstellungen den arabischen Antizionismus“. Mit dem Untergang der Sowjetunion habe der Antizionismus sozusagen seine fortschrittliche Komponente eingebüßt. Diese Gegenüberstellung hält jedoch einer kritischen Prüfung nicht stand.

Stalins Nationalitätenpolitik führte zur Unterdrückung und Umsiedlung zahlreicher kleiner Nationalitäten und zum bewussten Wiederanknüpfen an großrussische, zaristische Traditionen, zu denen auch der Antisemitismus gehörte. In der Zeit der Moskauer Prozesse (1935-39) gehörte es zum guten Ton, an die immer noch stark vorhandene Feindseligkeit gegen die Juden zu appellieren. Trotzki zitierte aus der Emigration Stalin mit den Worten: „Wir kämpfen gegen Trotzki, Sinowjew, Kamenew und andere, nicht weil sie Juden sind, sondern weil sie Oppositionelle sind.“ Und Trotzki fügte hinzu: „Die Absicht war eindeutig: darauf hinzuweisen, dass an der Spitze der Opposition Juden stehen.“ (1)

In der Zeit der antititoistischen Schauprozesse von 1949-52 wurden zahlreiche kommunistische Führer des „Zionismus“ angeklagt. Leopold Trepper (Chef der antifaschistischen Spionageorganisation Rote Kapelle) berichtet, dass am 12. August 1952 25 jüdische Schriftsteller und Intellektuelle hingerichtet wurden. Antisemitismus und Antizionismus waren austauschbare Begriffe geworden, nicht nur in der UdSSR.

Unzufriedenheit der Massen mit der Bürokratie wurde gezielt gegen Juden umgelenkt, so in Polen 1968, wo unter dem Deckmantel des Antizionismus Jagd auf oppositionelle Studenten und Intellektuelle gemacht wurde. Der israelische Marxist Jakob Taut schrieb: „Wenn für die Mehrheit der Juden in der UdSSR die proletarische Revolution die Hoffnung auf eine wirkliche Emanzipation (…) in sich barg, so haben der Stalinismus und die Entartung der UdSSR diese Hoffnungen auf Null reduziert. Wenn der Antisemitismus der Vater des Zionismus ist, dann ist der Stalinismus sicherlich sein Gevatter.“ Die jüdische Auswanderung aus der UdSSR in den 70er Jahren, 60 Jahre nach der Oktoberrevolution, ist auch ein Symbol für die Enttäuschung darüber, dass der „Sozialismus“ den Antisemitismus nicht besiegen konnte.

Im Unterschied zur UdSSR gab es in den arabischen Ländern keine historische Tradition des Antisemitismus. Gregor Gysi weist zu Recht darauf hin, dass die Jüdinnen und Juden in Europa gegen Ende des 19. Jahrhunderts „die Erfahrung der damals völlig neuen Ideologie des Antisemitismus machten, die ja mit dem christlichen Antijudaismus nicht gerade viel zu tun hat.“ Der christliche Antijudaismus war „religiöser“ Natur. Martin Luther hatte seine Anhänger aufgefordert, sie „freundlich zu behandeln, dann möchten viele von ihnen rechte Christen werden.“ Als die Juden trotzdem nicht zum Protestantismus übertraten, forderte Luther, „ihre Synagoga und Schulen anzustecken“ und „ihre Häuser zu zerstören“ und sie zu verjagen. (2)

Trotzdem ist Gysis Unterscheidung zwischen christlichem Antijudaismus und modernem rassistischem Antisemitismus richtig. Wenn aber Martin Luther kein Antisemit war, mit welchem Recht reden wir dann von einem arabischen Antisemitismus? Bis heute gibt es in den arabischen Ländern keinen Antisemitismus im Sinne einer rassistischen Herrschaftsideologie, die eine arabische „Rasse“ oder Kultur über die der jüdischen stellt. Meine These ist, dass die lange christliche Tradition des Antijudaismus (seit Beginn der Kreuzzüge im 11. Jahrhundert) dem „modernen“ rassistischen Antisemitismus näher stand als der arabische Antijudaismus heute. Die Wurzeln des heutigen arabischen Antijudaismus gehen nicht auf eine diskriminierende Tradition des islamischen Glaubens zurück (sowohl Moses wie Christus sind anerkannte Propheten des Koran), sondern auf die Erfahrung der Kolonisierung Palästinas durch die zionistische Bewegung und die zahlreichen Erweiterungskriege und Machtdemonstrationen des ursprünglichen Siedlerstaates von 1947. Die offizielle Gleichsetzung von Judentum und Israel durch den israelischen Staat macht allerdings eine differenzierende Betrachtung für die arabische Seite nicht einfacher.

Hier geht es nicht nur um Worte, es geht darum, ob ein Zusammenleben von Arabern und Juden im heutigen Palästina eine kulturelle, historische Grundlage hat. Gregor Gysi fordert zu Recht, dass Israel „nicht weiter versuchen darf, kulturell Europa im Nahen Osten zu sein“, dass es vielmehr „eine kulturelle Macht des Nahem Ostens werden“ muss. Das Hindernis hierfür liegt nicht in einem angeblichen Antisemitismus der arabisch-muslimischen Welt, sondern in der Kolonialpolitik der zionistischen Bewegung. Solange die jüdische Kolonisierung Palästinas weitergeht und keine Grundlage für ein gleichberechtigtes Zusammenleben und Miteinander beider Völker geschaffen ist, wird Israel weiter „kulturell Europa (oder Amerika) im Nahen Osten“ sein.

III. „Der Begriff des Imperialismus trifft auf jeden Fall auf Israel nicht zu“

Von der Staatsgründung 1948 bis zur Jahrtausendwende hatte Israel über 100 Milliarden Dollar an militärischer und ziviler Hilfeleistung von den Vereinigten Staaten erhalten, mehr als jeder andere Staat der Erde.

Präsident Ronald Reagan sagte 1981: „Mit seiner kampferfahrenen Armee ist Israel für uns im Nahen Osten eine wirklich nützliche Kraft. Gäbe es Israel mit dieser Streitmacht nicht, müssten wir unsere eigene einsetzen – unsererseits handelt es sich also nicht nur um eine selbstlose Geste.“ (3)

Israel ist nicht nur der verlängerte Arm des US-Imperialismus in Nahen und Mittleren Osten. Es hat an zahlreiche Diktaturen und prowestliche Regime in Südamerika (Pinochets Chile), Afrika (Apartheidregime) und Asien (Taiwan) Waffen geliefert und Geheimdienste ausgebildet, wo es die USA aus taktischen Gründen sich nicht leisten konnte. Sämtliche Kriege und größeren Militäraktionen Israels mit Ausnahme des Kriegs von 1973 sind mit den imperialistischen Mächten England (1956) oder den USA abgestimmt gewesen, zuletzt der Überfall auf den Libanon 2006. Der Krieg von 1973 ging im Unterschied zu allen anderen von Ägypten und Syrien aus und führte zum Rückzug Israels aus dem Sinai.

IV. „Zionismus führt manchmal auch zu massiven Einschränkungen…“ 

Gregor Gysi schreibt, dass der Zionismus „manchmal auch zur massiven Einschränkungen in der faktischen Gleichbehandlung jüdischer und arabischer Staatsbürger führt“, „gelegentlich bildet er Extreme aus“. Diese Gewalt leitet er aber als Reaktion aus der Gewalt der arabischen Seite ab und folgt damit dem regierungsoffiziellen Sprachgebrauch Israels. Die gelegentlichen Übergriffe auf die Palästinenser „würden ganz gewiss durch die permanente Bedrohungssituation gefördert, der sich die israelische Gesellschaft ausgesetzt sieht.“ Die frühen Zionisten, sagt er, „hatten damals noch überwiegend ein Interesse an Ausgleich mit der arabischen Bevölkerung. Erst das Massaker von Hebron 1929 macht deutlich, dass die Realisierung eines jüdischen Staates nicht auf Gegenliebe stoßen würde“ und dies habe dann „auch eine Verhärtung auf der Seite der jüdischen Siedler nach sich gezogen.“

Die Logik von Gysis Verständnis für die Notwehr der Eroberer scheint darauf hinauszulaufen, dass die Palästinenser sich dem Schicksal ihrer Vertreibung widerstandslos fügen sollten, um der Gleichbehandlung näher zu kommen, oder dass es gar nicht zu ihrer Vertreibung gekommen wäre, hätten sie sich friedlich verhalten. Eine gewagte Argumentation.

Hier war der israelische Staatsgründer Ben Gurion näher an der Wahrheit. 1938 schrieb er: „Wenn wir sagen, dass die Araber uns angreifen und wir uns verteidigen – so ist dies nur die halbe Wahrheit. Was unsere Sicherheit und unser Leben angeht, verteidigen wir uns … Aber das Kämpfen ist nur ein Aspekt des Konflikts, der seinem Wesen nach ein politischer ist. Und politisch gesehen sind wir die Aggressoren und sie verteidigen sich.“ (4)

Gewalt und Terror geschahen nicht „manchmal“ und „gelegentlich“, sondern ziehen sich wie ein roter Faden durch die nun 60-jährige Geschichte des Staates Israel. Warum sollten Palästinenser diesen Staat anerkennen, dessen Ziel von Beginn an ihre Vertreibung war und bis heute geblieben ist? Nur ein Mensch ohne Selbstachtung küsst den Stiefel, der ihn zertritt.

V. Staatsräson und die Anerkennung „tatsächlicher Machtverhältnisse“

„Staatsräson“, so lehrt uns Gregor Gysi, seien „Vorrangsregelungen in der Abwägung von Rechtsgütern, die beeindruckt sind von den tatsächlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen.“

Im Lexikon der Büchergilde lesen wir unter dem gleichen Stichwort: „Staatsräson, auf Machiavelli zurückgehende Auffassung, dass erste Staatsaufgabe Sicherung der Staatsgrundlage sei, und zwar ohne Rücksicht auf Recht und Moral.“

Gregor Gysi besteht aber im Gegensatz zu Machiavelli auf einer moralischen Komponente der Staatsräson. „Machtpolitische Begründungen“ sagt er, „wirken nie in reiner Form“. Als Beispiel führt Gysi die „Leitidee des Antikommunismus“ der frühen BRD an. Ihr habe die Idee der Freiheit als „objektiver Schein“ innegewohnt.

Nun ließe sich aber gerade am Antikommunismus zeigen, dass die „Moral der Freiheitsidee“ tatsächlich nur „Schein“, staatliche Machtpolitik im Sinne Machiavellis war, die sich moralischer Werte nur bediente, um ihren einzigen und wirklichen Zweck zu verschleiern, nämlich die Sicherung „tatsächlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse.“

Die Debatte über Staatsräson und Moral wäre nicht so wichtig, wenn Gregor Gysi nicht Parteivorsitzender der LINKEN wäre. Sie hat neben einer israelbezogenen Komponente auch noch eine „machtpolitische“, besser regierungspolitische Seite. Wenn die Linke „in einer Bundesregierung mitzuwirken“ gedenkt, so Gysi, dann müssten wir uns der Staatsräson unterwerfen, denn sie ließe sich nicht umgehen, höchstens „etwas verschieben“, manchmal müsse sie auch „einfach hingenommen“ werden. Hier spricht der „Realpolitiker“, der die „tatsächlichen Machtverhältnisse“ als unumstößliche betrachtet, statt sie in Frage zu stellen. Was sind überhaupt „tatsächliche“ Machtverhältnisse? Gibt es auch irreale? Aus solchen Worten spricht der Geist der Resignation, des sich Abfindens mit Geschichte als Abfolge von Sachzwängen.

Gregor Gysi sagte: „Steht das, wo sich ein Akzent verschieben ließe, in einem akzeptablem Verhältnis zu dem, was wir nicht verändern können, was wir schlucken müssen.“ Und er gibt zu, dass hier der „Grat zwischen politischem Realismus und prinzipienlosem Opportunismus ganz besonders schmal“ ist.

VI. Der Holocaust und die deutsche Staatsräson

Er behauptet, das „politische Selbstbewusstsein der deutschen Demokratie“ nach 1945 sei „nachhaltig dadurch geprägt“ worden, „dass Auschwitz sich nicht wiederholen dürfe.“

Dass sich Auschwitz nie wiederholen darf, gegen niemand, ist in der Tat eine wesentliche Konsequenz für die Linke aus den Erfahrungen mit dem Naziregime. Aber stimmt es auch, dass das politische Selbstbewusstsein der deutschen Demokratie, das heißt der BRD seit ihrem Bestehen, „nachhaltig dadurch geprägt“ ist? Ist das wirklich Staatsräson der BRD?

Auch hier sei, sagt Gregor Gysi, zwischen moralischem (wahrem) Kern und machtpolitischer (falscher) Grundlage zu unterscheiden.

In seiner Rede zum Wiedergutmachungsabkommen mit Israel 1953 hatte Adenauer auf „die Macht der Juden in Amerika“ verwiesen und folgerte: „Daher habe ich meine ganze Kraft drangesetzt, eine Versöhnung herbeizuführen zwischen dem jüdischen Volk und dem deutschen Volk.“ Eine „durchaus antisemitische Begründung“, wie Gysi richtig anmerkt.

Er nennt auch den für Adenauer ausschlaggebenden Grund, sich zur deutschen Schuld zu bekennen, nämlich die in den frühen fünfziger Jahren sich verfestigende Orientierung der USA auf Israel „als einen der wichtigsten Bündnispartner in der Region“. Diese Entwicklung „konnte natürlich an der BRD nicht spurlos vorübergehen.“ Und: „Die politischen Eliten (der BRD) mussten die aus Amerika vorgegebene Linie akzeptieren.“ Nach dem Motto: Der Freund unseres Freundes ist auch unser Freund.

Trotzdem dominiert laut Gysi beim Bekenntnis zum Existenzrecht des Staates Israel „eine moralische Rechtfertigung (…) gegenüber einer machtpolitischen.“ Als Beweis für diese höhere Weihe deutscher Solidarität mit dem Staat Israel führt er an, dass „die Haltung Deutschlands zur Doktrin der Solidarität mit dem Staat Israel“ andauere, obwohl der „Konsens der BRD und der USA bröckelt“.

Dem ist zweierlei zu entgegnen: Das Bröckeln deutscher Solidarität mit den USA hält sich doch stark in Grenzen und bislang ist Israel nicht nur der Aufpasser im Dienste des US-Imperialismus, sondern eben auch der EU und Deutschlands. Solange die Ölversorgung Europas in hohen Maße durch arabisches Öl gesichert wird, sind Israels Schläge gegen antiimperialistische Befreiungsbewegungen der Region, seien es nationaldemokratische, seien es islamische, seien es vielleicht auch einmal sozialistische, auch im Interesse des deutschen Kapitals.

Wäre Israel in Madagaskar gegründet worden, wie es von den Vätern des Zionismus vor hundert Jahren ernsthaft erwogen wurde, hätte dieser Staat wahrscheinlich keine deutsche Mark erhalten, so wie Sinti und Roma erst viel später und dann viel geringer entschädigt wurden. Die Solidarität mit Israel steht und fällt mit der Fähigkeit Israels, militärische Überlegenheit in der Region zu demonstrieren.

Die Anerkennung des Existenzrechts des Staates Israel war bis 1967 kein öffentliches Thema gewesen, eher ein Geheimprojekt (geheime Waffenlieferungen unter Verteidigungsminister Franz Josef Strauß). Solange die Altnazis noch in den Führungsstäben von Staat und Wirtschaft saßen, war das Thema Tabu. Bis 1967 galt „Solidarität mit Israel“ und die Forderung nach diplomatischer Anerkennung als linkes Projekt.

Die Staatsräson des Antikommunismus und der Alleinvertretungsanspruch der BRD, als einziger deutscher Staat zu gelten, schlug sich in der Hallsteindoktrin nieder, dem Prinzip des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zu allen Staaten, die die DDR völkerrechtlich anerkannten.

Erst nach dem Sechstagekrieg 1967, als sich ein großer Teil der 68er-Bewegung auch gegen Israels Kolonialpolitik wandte, wurde das Existenzrecht Israels ein öffentliches Thema. Und mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Aufbruch in den „Kampf der Kulturen“ von „aufgeklärt-westlicher Zivilisation“ gegen den „barbarischen“ Islam hat das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels eine wichtige ideologische Funktion gegen die Antikriegsbewegung erhalten. Es verleiht imperialistischen Kriegen im Nahen Osten eine höhere Weihe.

VII. Holocaust als endgültiger Beweis der Alternativlosigkeit des Zionismus

Gregor Gysi schreibt, die gescheiterte politische Integration der Jüdinnen und Juden in den europäischen Nationalstaaten und insbesondere der Holocaust hätten „das Projekt der Gründung eines jüdischen Nationalstaates alternativlos“ gemacht. Die Aufklärung habe ihr emanzipatorisches Versprechen nicht gehalten.

Die bürgerliche Aufklärung hat schon im 19. Jahrhundert versagt, die Entstehung von „weißem“ Rassismus und rassistischem Antisemitismus als Massenbewegung zwischen 1860 und 1914 waren das Zeichen dieses Versagens. Eine große Zahl der Jüdinnen und Juden in Europa wandte sich den sozialistischen Arbeiterparteien und – zunächst minoritär – dem neuen jüdischen Nationalismus in Form zionistischer Verbände zu.

Dies ist nicht der Ort, die Ursachen des Niedergangs der russischen Revolution in den Stalinismus und das Versagen der deutschen Arbeiterbewegung vor dem Hitlerfaschismus in den frühen dreißiger Jahren zu analysieren. Beide sind jedoch auf unterschiedliche Weise Schlüsselereignisse für die unfassbare Tragödie des Holocaust.

Die Überlebenden hatten natürlich ein Recht auf Rettung. Die Siegermächte USA und Großbritannien hielten aber die Türen verschlossen. Die Regierung Roosevelt war seit 1942 genauestens informiert über den industriellen Massenmord in Auschwitz und den anderen Lagern. Die Bombardierung der Bahngleise nach Auschwitz hätte die Mordmaschine zumindest stören können. Auch nach Ende des Kriegs blieb ein im Kern rassistisches Einwanderungsgesetz in den USA aus dem Jahr 1924 in Kraft. In den beiden ersten Jahren nach Kriegsende wurden nicht einmal 5000 Juden die Einreise in die USA gestattet, während über ein halbe Millionen Überlebende des Holocaust nach einem Ausweg suchten.

Die UNO stimmte in dieser Situation einer Teilung Palästinas zu. Unter den Überlebenden, die den Weg nach Palästina schafften, befand sich damals ein großer Teil, der zu einem Zusammenleben mit der ansässigen arabischen Bevölkerung willens gewesen wäre. Das Überlebensrecht der jüdischen Flüchtlinge legitimiert vielleicht die Gründung eines Teilstaates nach den Plänen der UNO. Es rechtfertigt jedoch nicht die anschließende Zerstörung von über 400 palästinensischen Dörfern und Städten, die Vertreibung von 750.000 Palästinensern aus ihren Wohnungen und von ihren Feldern. Ebensowenig rechtfertigt es die abermalige Massenvertreibung nach dem Sechstagekrieg 1967 aus den Flüchtlingslagern von 1948, es rechtfertigt auch nicht die Ermordung von 20.000 Libanesen im Krieg von 1982 und die anschließende Besetzung Südlibanons durch israelische Truppen. Es rechtfertigt auch nicht die Ansiedlung von 250.000 jüdischen Siedlern im Westjordanland und die damit verbundene weitere ethnische Säuberung, es rechtfertigt auch nicht die Verwandlung des Gaza-Streifens mit seinen 1,8 Millionen Menschen in ein riesiges Ghetto. Wo endet die von Gysi eingeforderte Solidarität mit Israel?

VIII. Warnung vor einem Apartheidsystem in Israel

Gregor Gysi mahnt: „Israel muss aussteigen aus der Spirale der Gewalt“, gerade weil es „der Stärkere“ im Konflikt sei. Gysi warnt vor dem Entstehen eines Apartheidregimes.

Das Apartheidregime besteht doch schon längst, nicht nur in den „besetzten“ Gebieten, sondern auch in Altisrael. Der frühere US-Präsident Jimmy Carter hat ein Zeugnis gegeben von dem Elend der Palästinenser. Er schrieb, dass ihre Lage schlimmer sei als im untergegangenen Apartheidregime Südafrikas, wo die Schwarzen immerhin als Arbeitssklaven ausgenutzt, aber nicht aus dem Land vertrieben wurden.

Israel, das ist unsere Gegenthese, wird aus einer Position der Stärke weiter das Programm der zionistischen Gründer umsetzen: die Besiedlung und Kolonisierung Palästinas und die Errichtung eines jüdischen Staates „Eretz Israel“. Israel hat sich nur dann zurückgezogen, wenn die Opferzahlen der eigenen (israelischen) Soldatinnen und Soldaten wuchsen. Das war nach dem 1973er Krieg gegen Ägypten der Fall und das war nach einem langen blutigen Besetzungskrieg in Südlibanon in den 80er Jahren der Fall und erneut nach der halben Niederlage von 2006, wieder in Südlibanon.

„Friedensangebote“ waren immer nur Waffenstillstände auf Zeit, um sich aus besserer Ausgangsposition erneut in den militärischen Kampf um Land und Wasser zu begeben.

Gysi fordert einen „lebensfähigen Staat“ für die Palästinenser und sagt noch nicht einmal in welchen Grenzen. Er behauptet, dass ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Palästinensern und Juden in einem demokratischen, weltlichen Staat auf dem Boden des heutigen Palästinas zu ihrer erneuten Verfolgung und Vertreibung führen würde. Gysi wird hier Opfer seiner eigenen Fehldeutung der Gewaltspirale. Er sieht im Wesentlichen einen arabischen Antisemitismus als Hindernis für ein friedliches Zusammenleben, die israelische Gewalt ist nach seiner Darstellung eher reaktiv. Deshalb kann er auch nicht zu dem Schluss kommen, dass der Schlüssel zur Lösung des Konfliktes allein in der Einstellung der Gewalt Israels gegen die Palästinenser liegt. Israel muss aufhören sich als weißer Siedlerstaat zu verhalten, und das heißt, die Palästinenser nicht weiter als Untermenschen zu behandeln („Tiere auf zwei Beinen“, wie der frühere Ministerpräsident Menachim Begin einmal über die Araber sagte).

Norman Paech hat Recht wenn er sagt: „Die ungehinderte, fortdauernde Siedlungspolitik hat kein kohärentes Territorium übrig gelassen, welches als dauerhaftes Staatsgebiet für ein souveränes Palästina zur Verfügung stehen könnte.“ Und auch seine Schlussfolgerung daraus ist richtig:

„Wenn die israelischen Regierungen an dem Konzept des jüdischen Staates festhalten, ist die Konfrontation zwischen jüdischer und arabischer Bevölkerung unausweichlich.“

Wohin man mit einer Orientierung an der „Staatsräson tatsächlicher Herrschaftsverhältnisse“ gelangen kann, wird deutlich, wenn Gregor Gysi die Werte der Aufklärung und der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte in Frage stellt, wenn er in Bezug auf seine Forderung nach Anerkennung des Existenzrechts Israels sagt: „Das Flüchtlingsproblem (der Palästinenser) steht nicht im gleichen Rang“. Das Leben von Menschen wird hier nach Nationalitäten und Religion in seiner Wertigkeit abgestuft. Eine halbe Million Holocaust-Überlebende sind mehr Wert als 750.000 palästinensische Flüchtlinge. Ist das die „Vorrangstellung verschiedener Rechtsgüter“ nach der deutschen Staatsräson? Eine solche „Logik“ wäre kein geringer Rückschlag für eine Partei, die sich in ihren Grundsätzen auf die Werte der Aufklärung und der Universalität von Menschenrechten beruft.

Gregor Gysi zitiert den Theoretiker der Frankfurter Schule Theodor Adorno mit dessen Satz, dass alles getan werden müsse, um ein neues Auschwitz zu verhindern.

Greger Gysi begründet damit seine einseitige Solidarität mit Israel. Adorno war Universalist, er hätte nie einer Hierarchisierung der Menschen in solche, die leiden dürfen, und solche, die nicht leiden dürfen, zugestimmt. Allen, die sich dem Auftrag des Nazi-Holocaust verpflichtet fühlen, sollte das klare Gebot gelten: Nie wieder – gegen niemanden.

Anmerkungen:

(1) Jakob Taut: Judenfrage und Zionismus, Frankfurt 1986, S. 239

(2) Leo Sievers: Juden in Deutschland, Hamburg 1978, S. 77

(3) John Rose, Mythen des Zionismus, rotpunktverlag.ch 2006, S. 236

(4) Norman Finkelstein: Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, München 2002, S. 199


Dieser Beitrag wurde erstmals 2008 veröffentlicht.

Titelbild: Jörg Braukmann