Antimilitarismus statt Friedenslogik

Warum die Friedensbewegung bisher keine gemeinsamen Antworten auf die Fragen nach den Ursachen und der Strategie gegen Krieg gegeben hat. Von Stefanie Haenisch

In der ersten Zeit nach dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine gingen Woche für Woche Zehntausende auf die Straße, um ihre Solidarität mit den Ukrainern und ihrem mutigen Widerstand zu zeigen. Auch heute, mehr als sechs Monate nach Beginn der Invasion, scheint die Bevölkerung der Ukraine nach wie vor bereit, den Krieg der ukrainischen Armee gegen die Invasoren zu unterstützen, trotz des damit verbundenen unvorstellbaren Leids.

Immer wieder wird von der Ampelkoalition und den übrigen bürgerlichen Parteien diese Solidarität angesprochen und ausgenutzt, um Zustimmung zu einer weiteren Militarisierung der Außenpolitik zu gewinnen. Diese Militarisierung drückt sich in einer weiteren Eskalation des Ukraine-Kriegs durch noch mehr Waffenlieferungen, einem Wirtschaftskrieg gegen Russland und einer massiven Aufrüstung der Bundeswehr aus.

Begründet wird das von Kanzler Olaf Scholz mit einer »Zeitenwende«. Russland stelle die nach dem Ende des Kalten Krieges errichtete europäische Sicherheitsordnung infrage. Außenministerin Annalena Baerbock hofft darauf, dass Sanktionen Russland ruinieren, und fordert die Stärkung der »Wehrhaftigkeit« der BRD im Nato-Bündnis.

Von den westlichen politischen Eliten und in der Masse der Medien wird allein Russland für den Ukraine-Krieg verantwortlich gemacht, insbesondere die Person Wladimir Putin. Die Ukraine führe diesen Krieg für die westlichen Werte, für Freiheit und Demokratie und gegen den Autoritarismus, heißt es. Ohne Wenn und Aber müssten deshalb Waffenlieferungen an die Ukraine und massive wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland unterstützt werden. Wer das infrage stellt, unterstütze Putin.

DIE LINKE hat im Bundestag gegen Waffenlieferungen, gegen das 100-Milliarden-Euro-Aufrüstungspaket und die Festlegung der Höhe des Verteidigungshaushaltes auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gestimmt. Deshalb wird DIE LINKE entweder als Putin-Unterstützer, als obszön oder als völlig naiv verleumdet. Dieser Bannstrahl trifft auch die Friedensbewegung. Viele derjenigen, die seit Jahrzehnten das Rückgrat der Friedensbewegung bildeten, sind eingeschüchtert, verunsichert und hilflos.

Verunsicherung

In der Friedensbewegung und der Linken herrschen seit Jahrzehnten zwei Haltungen vor, einerseits Pazifismus und andererseits ein Verständnis von Imperialismus als einseitiger Machtpolitik, und damit verbunden mit einer mehr oder weniger expliziten Unterstützung aller Gegner der USA. Das führte dazu, dass sie von der Invasion Russlands völlig überrascht waren.

So titelte am 7. Februar 2022 die »Zeitung gegen den Krieg« [1], eine Zeitung, die von allen wichtigen Organisationen der Friedensbewegung, auch von Teilen der LINKEN, unterstützt wird: »No War! Stoppt die Kriegstreiber! Warum Russland keinen Krieg will. Warum der Westen Kriegshetze betreibt. Warum die Friedensbewegung mobilisieren muss!«

Die »Zeitung gegen den Krieg« (Nr. 52) für den Antikriegstag am 1. September 2022 titelte: »Ukraine-Krieg – Die Herausforderung für die Friedensbewegung« und beklagte, dass die Akzeptanz der Friedensargumentation durch die Kriegsrhetorik um 20 Jahre zurückgeworfen worden sei. Die Kriegslogik habe die Friedenslogik verdrängt.

Ist die Mehrheit der Bevölkerung auf die Kriegstreiberei eingeschwenkt?

Bei Umfragen war die Zustimmung zur Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine Ende April tatsächlich erschreckend: 56 Prozent der Befragten fanden das richtig (ZDF); doch Mitte Juli waren es schon weniger, nämlich 39 Prozent (ARD). Eine ähnliche Entwicklung bei der Zustimmung zu den Sanktionen gegen Russland: Anfang April hielten sie 77 Prozent für richtig (ZDF), im Juli 59 Prozent (ARD). Über die Zustimmung zu den 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr gab es nur kurz nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine eine Umfrage. [2]

Schon der Rückgang der Zustimmung deutet darauf hin, dass die Bevölkerung nicht zu aktiven Kriegsbefürworter:innen wurde. Ihr »richtig« heißt erst einmal: Bei einem militärischen Angriff halten sie Verteidigung mit Waffen für richtig. Diese Zustimmung zur Verteidigung und der Bundeswehr ist aber nicht neu: z.B. hatten 2020 82 Prozent der Bevölkerung eine positive Einstellung zur Bundeswehr. [3]

Dennoch hat die Bevölkerung in Deutschland, West wie Ost, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs starke Abneigung gegen Kriegsrhetorik gezeigt.

1992, als die damalige Bundesregierung mit der Militarisierung der Außenpolitik begann, hat der Verteidigungsminister angemahnt, dass man die Bevölkerung »Schritt für Schritt« an Krieg gewöhnen müsse. So war auch seither das weitere Vorgehen der Regierung. Für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan waren in Meinungsumfragen zeitweise bis zu 66 Prozent der Bevölkerung (2011) [4]. Ein wichtiger Grund für die hohe und stabile Kritik am Afghanistan-Einsatz waren die Aktionen und Interventionen der Friedens- und Antikriegsbewegung und der sich im Aufschwung befindlichen LINKEN, zu deren zentralen Forderungen aus der Gründungszeit der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan zählte.

Noch heute bedauert das Verteidigungsministerium, dass es nicht gelingt, genug neue Soldaten zu rekrutieren. Diese Antikriegsgrundhaltung kann nicht durch ein paar Monate Kriegsrhetorik wegmanipuliert werden. Auch wenn es den Regierungen gelungen ist, das allgemeine Ansehen der Bundeswehr in der Bevölkerung zu verbessern, ist für die Mehrheit der jungen Männer und Frauen ein Wehrdienst samt Auslandseinsätzen keine Option.

Das Blatt kann sich auch wieder wenden.

Friedenslogik und Kriegslogik

Appelle an die Herrschenden, zu bedenken, dass Frieden auch in ihrem Interesse sei, und Pläne/Projekte, wie in Zukunft Frieden in der Welt hergestellt werden könnte, sind keine Antwort auf die Frage, wie der Krieg hier und heute bekämpft werden kann. Es ist auch kein Aufruf zum Kampf gegen den Ukraine-Krieg. Wenn der Krieg stattfindet, ist die »Friedenslogik« – wie die »Zeitung gegen Krieg« schreibt – nicht mehr logisch, sondern hinfällig. Die Antworten und Entscheidungen werden den Herrschenden und Kriegstreibern überlassen.

Kriegslogik = kapitalistische Logik

Die »Kriegslogik« ist die Logik des Kapitalismus. In der Konkurrenz siegt der Stärkere.

Im kapitalistischen Imperialismus, dem Entwicklungsstadium, in das der Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts eingetreten ist, verschränken sich die Interessen der jeweiligen kapitalistischen Klasse mit ihrem jeweiligen Staat, sodass, wenn nötig, die wirtschaftliche Konkurrenz auf dem Weltmarkt, also die Frage, wer die Hegemonie über Rohstoffe, Märkte oder Territorien erringt, auch durch Krieg entschieden wird.

Die »Friedenslogik«, nach der mit Solidarität und Kooperation die Probleme der Masse der Menschen gelöst werden könnten, ist nicht die Logik der kapitalistischen Klasse. Die »Friedenslogik« ist dem Grundsatz nach die Logik der Arbeiterklasse, deren tägliche soziale Erfahrung die unhierarchische Zusammenarbeit werden kann. Das setzt voraus, dass Spaltungsideologien und Nationalismus überwunden werden.

Antimilitarismus und Antiimperialismus

Um Krieg nicht nur im Vorfeld zu bekämpfen, sondern auch dann, wenn er stattfindet, muss in der Linken wieder eine antimilitaristische, antikapitalistische, d. h. antiimperialistische Perspektive entstehen, sonst hat die heutige Friedensbewegung keine Chance, zu einer wirksamen Antikriegsbewegung zu werden.

Diese Perspektive, die die sozialistische und Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg hatte, muss wiederentdeckt werden. Sie wurde durch den Schwenk der Sozialdemokratie ins Kriegslager 1914, in Deutschland unter anderem mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten, und den Stalinismus verschüttet. Die Interessen der Arbeiterklasse in jedem Land werden nicht dadurch geschützt, dass sie sich – im Krieg und im Frieden – an die Seite ihrer herrschenden kapitalistischen Klassen stellt, die sie ausbeuten, unterdrücken und wenn nötig aufs Schlachtfeld schicken.

Das zeigt sich zum Beispiel bei der Frage der Abhängigkeit von russischem Erdgas. Für die Unternehmen in Deutschland bedeutete diese vergleichsweise kostengünstige Energie lange Jahre eine Stärkung gegenüber Konkurrenten auf dem Weltmarkt. Das wurde von den Bundesregierungen jeder Couleur gefördert. Auch die russischen Oligarchen, die am Gasverkauf verdienen, hatten am Großabnehmer Deutschland großes Interesse. Trotzdem hat diese Kooperation der beiden herrschenden Klassen nicht den heutigen Krieg in Europa verhindert. Jetzt gerät der Lebensstandard der Arbeiter:innen, der Arbeitslosen, Rentner:innen und Studierenden durch die Teuerung massiv unter Druck, in Russland, Deutschland und anderswo.

Der Kapitalismus ist nun seit über 150 Jahren die die Welt dominierende Wirtschaftsweise. Und es sind immer noch die Arbeiter:innen, die die Mittel zum Leben (z.B. Energie) und der Zerstörung produzieren. Ihre herrschende Klasse entscheidet über den Krieg, aber sie müssen die Waffen führen und die Kosten des Krieges tragen. Gemeinsam könnten sie Produktion, Transport und den Gebrauch von Zerstörungsmitteln in jedem Land verhindern.

Wachsende Instabilität, wachsende Kriegsgefahr

Der Ukraine-Krieg ist nur einer von vielen Konflikten, die im heutigen imperialistischen Weltsystem kriegerisch ausgetragen werden oder bei denen mit dem Einsatz militärischer Gewalt gedroht wird. Allein in diesem Jahr haben sich in vielen afrikanischen Staaten südlich der Sahara, die auch von den Folgen der Klimakrise gebeutelt werden, die Konflikte verschärft. In Europa lebt der Konflikt im Westbalkan wieder auf, Griechenland und die Türkei streiten um Gasfelder, Idlib und Rojava in Syrien sind weiter umkämpft, der Konflikt Israel-Palästina flammt immer wieder auf, der Krieg im Jemen ist immer noch nicht beendet, China und die USA prallen verschärft aufeinander wie jetzt wegen Taiwan. Die Kriegsgefahr zwischen Großmächten wächst.

Im Ukraine-Krieg geht es darum, in wessen militärisch gesichertem ökonomischen Einflussgebiet in Zukunft die Ukraine verortet wird: in dem der Nato oder in dem Russlands.

Er ist in allererster Linie kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine, wie in der Regel dargestellt. Russland geht es weder um Entnazifizierung noch um den Schutz der russischsprachigen Bevölkerung. Der Nato geht es nicht um Demokratie, statt Autokratie, nicht um Freiheit, statt Unterdrückung, was das Ziel der ukrainischen Bevölkerung ist, weshalb sie solidarisch mit den ukrainischen Soldaten ist und das unendliche Leid des Krieges auf sich nimmt. Es ist wichtig einzuordnen, dass der Kampf zwischen Russland und der Nato um den Einfluss in den Staaten des ehemaligen Ostblocks seit 1990/91 andauert.

Schon längst, spätestens seit dem Abzug der russischen Truppen Anfang April aus der Umgebung von Kiew, werden die Ziele dieses Krieges nicht mehr von der ukrainischen Bevölkerung, sondern von Russland und der Nato definiert. [5] Präsident Selenskyj, der die Interessen der kapitalistischen ukrainischen Oligarchie vertritt, macht beständig massiven Druck, um die Nato in ihrer militärischen Unterstützung anzutreiben.

Da sich die wirtschaftliche Krise des Weltkapitalismus vertieft, ist es ein vitales Interesse der EU und USA wie auch Russlands, dieses flächenmäßig flächenmässig riesige Land Ukraine, reich an Bodenschätzen, reich an fruchtbarem Boden, reich an ausgebildeten Arbeitskräften und seinem potenziellen Absatzmarkt, militärisch gesichert zu dominieren. Was die eine kapitalistische Macht gewinnt, kann die andere nicht haben. Insofern ist der Krieg seinem Wesen nach ein Stellvertreterkrieg zwischen den beiden imperialistischen Lagern, in dem gegenwärtig die Ukraine für die Nato die Bodentruppen stellt.

Deswegen ist es irreführend, über den Angriffskrieg Russlands und den Verteidigungskrieg der Ukraine zu sprechen. Diese Bezeichnung dient dazu, allein die russische Führung für den Konflikt verantwortlich zu machen und die Mitverantwortung der Nato aus dem Blickfeld geraten zu lassen.

Schon 1911 schrieb Rosa Luxemburg in einer Kritik an Vorschlägen von Jean Jaures (in »L’Armee novelle«) »Hier haben wir als Basis der ganzen politischen Orientierung jene famose Unterscheidung zwischen Verteidigungskriegen und Angriffskriegen, die früher eine große Rolle spielte […], die aber nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ruhig ad acta gelegt werden dürfte. Was ist in der Tat ein Verteidigungskrieg? Wer wird es übernehmen mit Sicherheit von irgendeinem Krieg zu behaupten, er gehöre zu dieser oder jener Kategorie.« [6]

Richtig ist, dass die Nato den militärischen Krieg nicht begonnen hat. Sie hat nicht den ersten Schuss abgefeuert. Russland hat 2014 mit der Hilfe russischer Soldaten die Krim annektiert und Separatisten in der Ostukraine militärisch unterstützt, und hat 2022 mit der Invasion den Krieg begonnen.

Die russische Führung stellt die Invasion als Präventivkrieg dar. Vom Standpunkt der Interessen der Herrschenden in Russland ist nachvollziehbar, dass sie einer weiteren Integration der Ukraine in die Nato und in die EU zuvorkommen wollte. Nato und EU haben die ehemaligen Ostblockstaaten, die das militärisch abgesicherte Einflussgebiet der wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen der UdSSR waren, durch die Osterweiterung wirtschaftlich und militärisch dem russischen Einfluss entzogen.

Vom Standpunkt der wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen der Herrschenden in den EU und den Nato-Staaten ist die Position der militärischen Unterstützung der Ukraine durch Waffenlieferungen nachvollziehbar. Wenn die Ukraine in ihr Einflussgebiet, militärisch gesichert, integriert werden könnte, würde die Macht der westlichen Nato-Staaten, allen voran die des USImperialismus, in der Weltpolitik gestärkt. Ihre wirtschaftlichen Interessen wären weltweit leichter durchzusetzen. Andere Ex-UdSSR-Staaten, wie Georgien oder Serbien, oder auch Kasachstan und die anderen ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken, würden näher an die Nato heranrücken wollen. Außerdem würde die politische und wirtschaftliche Schwächung des Konkurrenten Russland fortgesetzt.

Dieser Logik imperialistischer Kräfteverschiebungen zwischen Großmächten muss sich die Linke und die Friedensbewegung entgegenstellen. Es ist eine Logik, mit der die jeweiligen herrschenden Klassen ihre Herrschaft sichern wollen, nicht die Sicherheit und den Frieden ihrer jeweiligen Bevölkerung.

Die durch den Ukraine-Krieg zu Tage getretene Verunsicherung und Hilflosigkeit in der Friedensbewegung zeigt, wie wichtig es ist, eine antikapitalistische, internationalistische Tradition, die Kämpfe von unten als Schlüssel zur Veränderung ansieht, in der Friedensbewegung stark zu machen.

Traditionen der Friedensbewegung in Deutschland

In der heutigen Friedensbewegung hat bisher die Einschätzung, dass der Ukraine-Krieg wesentlich ein interimperialistischer Krieg ist, ein Krieg zwischen zwei imperialistischen Lagern, nur geringe Unterstützung. Eine antimilitaristische, antikapitalistische und internationalistische Tradition ist kaum vertreten. Die oben beschriebenen vorherrschenden Haltungen – Pazifismus und Unterstützung aller Gegner der USA – behindern eine Mobilisierung gegen den Ukraine-Krieg.

Die wichtigen Organisierungen in der heutigen Friedensbewegung sind der Bundesausschuss Friedensratschlag, das Netzwerk Friedenskooperative und die Kooperation für den Frieden. Friedensratschlag und Friedenskooperative sind Anfang der 1980er aus dem Kampf gegen die Nato-Nachrüstung entstanden. Die Kooperation entstand in den 2000er Jahren.

Ideologisch dominierten zum einen die DKP und andere stalinistische, sich an der UdSSR orientierenden Kräfte, zum anderen die zu dem Zeitpunkt pazifistischen Grünen.

Rüstungswettlauf und Nato-Nachrüstung

In den 1970er und 1980er Jahren trat der Rüstungswettlauf zwischen den beiden Supermächten, den USA und der UdSSR, in ein weiteres Stadium ein. Zunächst ging es um das Arsenal der strategischen Atomwaffen; das sind Atomwaffen, die auf dem jeweiligen Territorium der USA, bzw. der UdSSR gestartet werden und das Territorium der anderen Supermacht erreichen können. Bei einem »Gleichgewicht des Schreckens« könne ein globaler atomarer Krieg verhindert werden. Doch als dieses »Gleichgewicht« längst mit Overkill bestand, verlagerte sich der Rüstungswettlauf auf andere Gebiete – zunächst hin zu atomaren Gefechtsfeldwaffen, dann zu den sogenannten atomaren eurostrategischen Waffen, die entwickelt worden waren, um sie in konventionellen Kriegen einzusetzen.

Die USA wollten 1979 in Europa, auch in Deutschland, mit den eurostrategischen Waffen Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern »nachrüsten«. Pershing II konnte das Gebiet zwischen dem heutigen Petersburg und dem Schwarzen Meer mit sehr zielgenauen Atomsprengköpfen erreichen. Die Marschflugkörper, ebenfalls atomar bestückbar, flogen so niedrig und so unkalkulierbar, dass sie praktisch nicht vom Radar geortet werden konnten. Sie konnten fast doppelt so weit wie die Pershing II fliegen. Damit wollten die USA ein Gegengewicht zum großen militärischen Gewicht schaffen, das die UdSSR in Europa aufgrund ihrer konventionellen Truppen hatte. Die Nachrüstungswaffen unterstanden unmittelbar dem Kommando der USA.

Diese Aufrüstung bedrohte nicht nur die UdSSR, sondern auch die Staaten in Mitteleuropa, die zum Schlachtfeld in einem begrenzten Krieg zwischen den USA und der UdSSR geworden wären. Die SPD/FDP-Regierung unter Helmut Schmidt stimmte der Nato–Nachrüstung zu, allerdings unter der Bedingung von Verhandlungen über die Abrüstung der taktischen Atomwaffen; das war der sogenannte Doppelbeschluss zur Nato-Nachrüstung, der nicht umgesetzt wurde. [7]

Zwischen 1980 und 1983 mobilisierten sich Abermillionen gegen diese Nachrüstung. Sie sammelten sich um den »Krefelder Appell« [8], einen Appell an die Bundesregierung, »die Zustimmung zur Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen«. Das war die zentrale Forderung des Appells. Außerdem hieß es darin: »Alle Mitbürgerinnen und Mitbürger werden deshalb aufgerufen, diesen Appell zu unterstützen, um durch unablässigen und wachsenden Druck der öffentlichen Meinung eine Sicherheitspolitik zu erzwingen, die eine Aufrüstung Mitteleuropas zur nuklearen Waffenplattform der USA nicht zulässt; die Abrüstung für wichtiger hält als Abschreckung; die die Entwicklung der Bundeswehr an dieser Zielsetzung orientiert.«

Unzählige Initiativen in ganz Westdeutschland waren dafür aktiv. 1981, 1982 und 1983 kam es zu Massendemonstrationen mit wachsenden Teilnehmerzahlen (1983: 1,4 Millionen). Hinzu kamen Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen die Nachrüstung, wie die Blockade des US-Stützpunktes Mutlangen. Das Ziel dieser ungeheuren Mobilisierung war, die Nachrüstung politisch undurchführbar zu machen. Es wurde nicht erreicht. 1983 wurde die Nachrüstung vom Bundestag beschlossen.

Die Bewegung verbreitete sich auch in die DDR, wo sich unter dem Motto »Schwerter zu Pflugscharen« zahlreiche Friedensgruppen in kirchlichen Schutzräumen bildeten.

Der »Krefelder Appell« war initiiert worden einerseits von Organisationen und Personen, die in der UdSSR eine friedliche sozialistische Macht sahen, die sich weltweit gegen den kriegerischen westlichen Imperialismus stelle, und andererseits von Persönlichkeiten wie Petra Kelly und Ex-General Bastian, Mitglieder der Grünen, die sich 1979 in Abgrenzung zur SPD gegründet hatten und sich als pazifistische Partei verstanden.

Friedensmacht Vereinigte Sozialistische Sowjetrepubliken?

Die an der UdSSR orientierten Gruppen sahen in der Stationierung der sowjetischen SS 20, einer ebenfalls atomar bestückbaren Mittelstreckenrakete, keine Bedrohung des Friedens, sondern ein Mittel zur Sicherung des Friedens. Sie sahen keinen Widerspruch darin, dass ein in ihren Augen sozialistischer Staat, der behauptete, die Interessen der Arbeiterklasse und der unterdrückten Völker dieser Welt zu vertreten, sich mit Massenvernichtungswaffen schützt. Die Stationierung der SS20 kritisieren diese Gruppen nicht. Sie sahen darin eine Stärkung der UdSSR gegen die USA und daher einen Beitrag zur Friedenspolitik.

Entspannungspolitik

In der an sich konsequent antikommunistischen SPD sah der an Moskau orientierte Teil der Friedensbewegung einen wichtigen Bündnispartner, nachdem die sozialliberale Regierung unter Willy Brandt die neue Ostpolitik durchgesetzt hatte. Die Beziehungen zwischen Westdeutschland und Russland waren verbessert worden, die DDR und die Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze anerkannt. Die Entspannungspolitik traf auf große Zustimmung in der Gewerkschaftsbewegung und in der Bevölkerung allgemein.

Diese Politik der Anerkennung des Status quo hatte zwei Voraussetzungen. Zum einen war für die USA die Politik des »Containments«, also der militärisch-politischen Eindämmung der UdSSR in Europa, in den 1960er Jahren obsolet geworden. Zum anderen dominierte aufgrund des beständigen Aufschwungs der Weltwirtschaft die Vorstellung, dass friedliche Beziehungen nicht nur nützlich für die Verfolgung der wirtschaftlichen Interessen beider Seiten seien, sondern auch, dass ein »Wandel durch Annäherung« ein wichtiges Element für eine dauerhaft friedliche Weltordnung sei. Diese Entspannungspolitik wurde auch von großen Teilen der westdeutschen Wirtschaft unterstützt.

Gewaltfreiheit

Die Grünen verstanden die Forderung gegen die Nachrüstung als Forderung nach einseitiger Abrüstung. Das entsprach ihrem pazifistischen Ansatz, der davon ausging, dass staatliche Gewaltmittel Gewalt zwischen Staaten schaffen und deshalb die Abschaffung dieser Gewaltmittel (Rüstung, Armee) die Regierungen dazu zwingen kann, zu einer friedlichen Konfliktregelung zu kommen. So sollte eine Welt des Friedens entstehen.

1980 hatten die Grünen Gewaltfreiheit als einen von vier Grundsätzen in ihr Programm geschrieben. [9] Wichtige Sprecher:innen für diese Politik waren Petra Kelly und der ehemalige General Bastian.

Neben den Grünen hatte der Pazifismus eine Basis in kirchlichen Gruppierungen. Mit der mehrtägigen Blockade des US-Stützpunktes von Mutlangen 1983, der Stationierungsstandort für die Pershing II werden sollte, machten die pazifistisch orientierten Gruppen in der Friedensbewegung durch Blockaden die Methoden des gewaltfreien Widerstands und des zivilen Ungehorsams bekannt. Mit diesen Methoden sollte die Nachrüstung ins moralische Abseits gestellt werden.

Für die am Pazifismus orientierten Kriegsgegner:innen gab es nur dann die Möglichkeit eines dauerhaften Friedens, wenn Demokratie und soziale Gerechtigkeit herrschten. Deshalb kritisierten sie die Unterdrückung der Bürgerrechte in den Ostblockstaaten und der UdSSR. Sie stellten sich demonstrativ an die Seite von ostdeutschen Friedensinitiativen und traten für eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa ein, erkämpft von einer blockübergreifenden Friedensbewegung.

Gemeinsam war diesen Positionen, dass sie den Konflikt des Kalten Krieges zwischen USA und UdSSR nicht als zwischenimperialistischen, also in der globalen kapitalistischen Wirtschaftsweise gründenden Konflikt sahen, sondern als Ergebnis von Politik und Ideologie der politischen Eliten.

Die im Kampf gegen den Vietnamkrieg entstandene, sich als antiimperialistisch verstehenden Organisationen, die wesentlich maoistisch orientiert waren (sich also an China unter Mao Zedong anlehnten), hatten aufgrund des Zerfalls der maoistischen Bewegung Ende der 1970er und der Integration in die Grünen keine den Kampf gegen die Nachrüstung bestimmende Position.
Auch die Position »Weder Washington noch Moskau, für Arbeiterdemokratie und internationalen Sozialismus«, vertreten von International Socialist Tendency und ihrer Unterstützerorganisation Sozialistische Arbeitergruppe, war in Deutschland als Organisierung nicht breiter verankert. Ausgehend von der marxistischen Position, dass Imperialismus ein bestimmtes Stadium in der
Entwicklung des Kapitalismus und der Ostblock staatskapitalistisch ist, trat sie dafür ein, dass das eigene kapitalistische Lager, die USA und die BRD, einseitig abrüstet. Wenn die Antikriegsbewegung im Westen gegen die Herrschenden im eigenen Lager kämpft, könne das die Antikriegsbewegung im Osten (DDR) und die Arbeiterbewegung (z.B. in Polen) und deren Kampf gegen die eigene staatskapitalistische Klasse stärken. [10]

Auswirkungen dieser Traditionen

Friedensbewegung in den 1990er und 2000er Jahren

1. Für den an Moskau orientierten Teil der Linken und der Friedensbewegung zerschellte mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die friedliebende Gegenmacht zum US-Imperialismus. Peter Strutinsky, ein zentraler Vertreter des Bundesausschusses Friedensratschlag, formulierte zum Beispiel im September 1999: »Das Vorhandensein eines Systemkorrektivs zum westlichen Kapitalismus in Form des ›sozialistischen Lagers‹ und seiner Militärallianzen hat eine entscheidende positive Rückwirkung auf das Kriegsgeschehen gehabt. Es stellte eine Garantie dar, dass solche Konflikte territorial begrenzt blieben«. [11]

Die Wirkung der UdSSR als Korrektiv bestand aber nicht darin, dass sie ein sozialistisches Gegengewicht war, in ihr eine gesellschaftliche Alternative zum kapitalistischen Imperialismus bestanden hätte. Die UdSSR war selbst ein imperialistischer [12] Staat, wenn auch ein sehr viel schwächerer als die USA. Ihre Gegenmacht bestand in ihrer Fähigkeit, die USA atomar zu vernichten; die ökonomisch multipolare Welt wurde durch das militärische »Gleichgewicht des Schreckens« in der politischen Bipolarität gefesselt.

Was nach dem Ende des Kalten Krieges, dem Sieg der Marktwirtschaft, der durch politische Revolutionen von unten erzwungenen Beendigung der sowjetischen Vorherrschaft in den osteuropäischen Staaten und schließlich dem Auseinanderfallen der UdSSR in verschiedene Nationalstaaten blieb, waren in den Augen des Bundesausschusses Friedensratschlag allein die USA, die als einzige imperialistische Weltmacht jetzt die Weltherrschaft an sich reißen wollten. Russland war im Unterschied zu den Nato-Staaten nicht den Interessen der USA untergeordnet und wurde daher als nicht-imperialistischer Nationalstaat gesehen, der – wie auch andere, zum Beispiel die BRIC-Staaten – in der Weltpolitik seine eigenen Interessen im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen (UN) und in jedem Fall legitimerweise verfolgte. Imperialistisch agieren in diesem Weltbild allein die USA (mit ihren Verbündeten), während die Außenpolitik sämtlicher anderer Staaten entweder als Widerstand gegen die USA oder als Nebensache verstanden wird.

Die Politik der USA wurde unter diesem Blickwinkel analysiert. Wesentliches Ziel war es, auch ohne den Rückhalt einer »sozialistischen« Großmacht den Widerstand gegen den US-Imperialismus aufzubauen.

Dabei wurden viele Aspekte der imperialistischen Politik der USA, der Nato, der EU und der BRD richtig gesehen und in den Mittelpunkt der Aufklärung und Agitation der Friedensbewegung gestellt. Die USA waren im Kalten Krieg zur größten Militärmacht der Welt aufgestiegen. Sie waren aber auch ökonomisch deutlich schwächer als in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die USA setzten nun ihre militärische Übermacht ein in der Hoffnung, ihre ökonomische Macht wieder zu stärken. Wichtige Ziele des »Kriegs gegen Terror« waren deshalb in Afghanistan, in Zentralasien gegenüber dem aufsteigenden Rivalen China eine sichere Basis zu gewinnen, im Irak die Kontrolle über den »Saft der Weltwirtschaft«, das Öl, zu erringen. Außerdem integrierte der westliche Imperialismus die ehemals von der UdSSR kontrollierten Staaten in sein Einflussgebiet durch die schrittweise Osterweiterung von Nato und EU. [13]

2. Der pazifistische Teil der Friedensbewegung konnte in diesen Kämpfen gegen die Kriege und Kriegsvorbereitungen des westlichen Imperialismus seine grundlegenden Positionen überzeugend einbringen: Bomben schaffen keinen Frieden; jede Waffe findet ihr Ziel; Demokratie kann nicht mit fremden Truppen und Waffengewalt gebracht werden; Unterstützung des gewaltfreien Widerstands der Zivilbevölkerung.

Der Kampf gegen die westlichen militärischen Interventionen und Interventionskriege in der Ölregion um den Persischen Golf, Zentralasien und Afrika und der Kampf gegen die Nato waren der große gemeinsame Nenner der Friedensbewegung in den 2000er und 2010er Jahren. Die Kampagne »Bundeswehr raus aus Afghanistan« war sehr erfolgreich und gewann breite Unterstützung in der Bevölkerung. Gegen den Angriff auf den Irak demonstrierten 2003 weltweit 15 Millionen, eine halbe Million davon in Deutschland.

Das waren Kämpfe der Friedensbewegung mit konkreten Forderungen gegen konkrete Kriegsgefahren und Kriege. Diese Argumente haben große Teile der Bevölkerung in Deutschland sehr wohl angenommen.

Friedensbewegung in den 2010er Jahren

In den 2010er Jahren wurde die Friedensbewegung deutlich schwächer, obwohl seit Langem wieder Massenbewegungen von unten für demokratische Freiheiten und soziale Gerechtigkeit kämpften.
Der gewaltige Kampf von Abermillionen einfachen Menschen in den arabischen Staaten für Demokratie und soziale Gerechtigkeit, der Arabische Frühling, kam für die herrschenden Klassen dieser Welt völlig überraschend. [14] Dieses Eingreifen von Massen in den Gang der Geschichte ließ aber auch tiefe Differenzen in der Linken und in der Friedensbewegung im Verhältnis zu diesen Volksbewegungen aufbrechen. Die Differenzen bestanden wesentlich in der Frage, wer wie gesellschaftlichen Wandel voranbringen kann und soll. In der Positionierung zu den Aufständen in der arabischen Welt war gemeinsames Handeln innerhalb der Friedensbewegung nur noch beschränkt möglich. [15]

Zum Beispiel solidarisierte sich die friedenspolitische Sprecherin der LINKEN, Christine Buchholz, auch Anfang 2012 mit dem Volksaufstand in Syrien und stellte sich gegen die brutale Gewalt, mit der Assads Regime ihn zerschlagen wollte. [16] Bei dem Autor der Zeitung »junge Welt«, Werner Pirker, stieß sie auf völliges Unverständnis. Er schrieb, »sie unterstützt den ›Volksaufstand in Syrien‹. Gleichzeitig will sie aber auch gegen ›westliche Interventionen‹ sein.« [17] Die Parteinahme für den Volksaufstand gegen das Folterregime von Assad war in den Augen der »jungen Welt« gleichbedeutend mit der Schwächung eines verbündeten Russlands und spiele damit der Einflussnahme westlicher Staaten in Syrien in die Hände. Buchholz forderte in ihrer Antwort »Solidarität mit den Unterdrückten, nicht mit den Unterdrückern«, stellte die Unterdrückung der Revolution durch Assads Regime dar und wie deutsche Regierungen und Unternehmen jahrelang dieses Regime unterstützt haben, bis das mit Ausbruch des Volksaufstandes von 2011 nicht mehr opportun erschien.

Hinter dem Unverständnis der »jungen Welt« steht die Auffassung, dass jeder Staat, der sich gegen die USA stellt, antiimperialistisch sei. Das gilt auch für Syrien unter Assad, das US-Präsident George W. Bush im »Krieg gegen den Terror« der »Achse des Bösen« zuordnete. Deshalb wurde die Regierung Assad auch von Russland militärisch unterstützt.

Einer nicht von oben geführten Massenbewegung will diese sich als antiimperialistisch bezeichnende Tradition dagegen keine selbstständige politische Rolle zugestehen. Diese Sichtweise bringt Linke immer wieder in haarsträubende Konflikte mit Bewegungen, die sich aus richtigen und legitimen Gründen gegen Diktatoren erheben.

DIE LINKE und pazifistisch orientierte Teile der Friedensbewegung, die mit dem Volksaufstand gegen die Herrschaft Assads solidarisch waren und sich zum Beispiel gegen die Stationierung von Patriot-Einheiten der Bundeswehr in der Türkei gestellt hatten, wurden sprachlos, als in verschiedenen syrischen Städten bewaffnete Volksverteidigungsorganisationen entstanden, um die Zivilist:innen zu schützen.

Die Position, sich sowohl mit dem kurdischen Befreiungskampf zu solidarisieren, als auch westliche Intervention abzulehnen, war eine Minderheitenposition, die sich im Nachhinein als richtig herausstellte. [18] Weder die Arbeiterklasse in Syrien und Irak noch die kurdische Minderheit hat von den westlichen Staaten und ihren Bündnispartnern mehr zu erwarten als von den eigenen Herrschern.

Ähnliche Schwierigkeiten für gemeinsame Aktionen der Friedensbewegung zeigten sich angesichts der Massenbewegung von unten in der Ukraine 2013/14, der Bewegung des Maidan, dem Sturz der prorussischen Regierung Janukowitsch, der militärischen Unterstützung der Separatist:innen im Donbass und der Annexion der Krim durch Russland.

Auch hier führten Differenzen in der Einschätzung dieser Ereignisse zu Lähmung und Unfähigkeit, gemeinsam zu handeln. Zunächst bestand Einigkeit, dass das EU-Assoziierungsabkommen überhaupt kein Garant für mehr Demokratie, geschweige denn für soziale Gerechtigkeit, sei (Griechenland wurde gerade von der Troika aus EZB, Europäischer Kommission und Internationalem Währungsfonds geknebelt).

Nur für eine kurze Zeit solidarisierte sich DIE LINKE mit dem Kampf der ukrainischen Massenbewegung. Dann nahmen die politischen Differenzen überhand. Auch hier lag der wesentliche Unterschied in der Einschätzung Russlands und der Maidan-Bewegung. Diejenigen, die in Russland keine imperialistische, sondern eine gegen die USA und ihre Verbündeten gerichtete, und daher antiimperialistische Macht sahen, propagierten die Auffassung, der Maidan sei eine von Anfang an vom westlichen Imperialismus und mithilfe ukrainischer Faschist:innen entfachte und gesteuerte Bewegung gewesen. Sie sei nie eine unabhängige Bewegung von unten gewesen.

Hier schütteten Vertreter:innen der vermeintlich antiimperialistischen Tradition das Kind mit dem Bade aus: Die Maidan-Bewegung hatte den berechtigten Protest einfacher Menschen gegen Korruption, Armut und massive Repression zum Ausgangspunkt, ließ sich aber im Verlauf der Zeit für die Interessen prowestlicher Oligarchen und des Westens instrumentalisieren. Ähnlich verliefen auch 1989 die Revolutionen in Osteuropa. Deshalb sind aber ihre Anfänge rückblickend nicht als konterrevolutionär, reaktionär oder faschistisch zu interpretieren, nur weil sie letztlich das Imperium Sowjetunion stürzten und Russlands Stellung schwächten. [19]

2022: Weder Nato noch Moskau

SPD und Grüne sind mit ihrer Unterstützung von Nato und EU, sowie der Durchsetzung der deutschen Beteiligung am Kosovound Afghanistan-Krieg ins Kriegs-Lager gewechselt. Die beiden Tabu-Brüche – Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und eine hemmungslose Aufrüstung wie mithilfe des Sondervermögens von 100 Milliarden Euro – belegen, dass diese Entwicklung auf absehbare Zeit unumkehrbar ist.

Die beiden wichtigen Traditionen in der LINKEN und in der Friedensbewegung haben keine Antwort auf den Ukraine-Krieg. Diejenigen, die in einer pazifistischen Tradition stehen, sind nicht in der Lage, der von RotGrün-Gelb einheitlich vorangebrachten Einschwörung auf Nato, Waffenlieferungen und scharfe wirtschaftliche Sanktionen eine antimilitaristische Alternative von unten entgegenzusetzen. Sie überlassen in der LINKEN denen das Feld, denen eine prinzipielle Haltung gegen Krieg schon seit langem ein Dorn im Auge ist, und lähmen so den Widerstand gegen diesen Krieg. Diejenigen, die aufgrund eines falsch verstanden Antiimperialismus eine unkritische Haltung gegenüber Russlands Regierung eingenommen haben, sind nicht in der Lage, Protest gegen den russischen Einfall in der Ukraine zu formulieren.

Beide verstehen nicht, dass dieser Krieg ein Krieg zwischen zwei imperialistischen Lagern ist, ausgetragen in der Ukraine, in dem beide Seiten mit militärischer Gewalt die Entscheidung herbeiführen wollen, wer in Zukunft die Ukraine als sein Interessensgebiet beanspruchen und wer seinen Einfluss in der Region stärken kann.

Gemeinsam ist beiden Traditionen aber, dass sie der Auffassung sind, es sei grundsätzlich möglich, dauerhaften Frieden zwischen kapitalistischen Klassenstaaten durch eine Politik der »friedlichen Koexistenz« beziehungsweise der Entspannung herzustellen. Große Einigkeit besteht deshalb in der moralischen Forderung, dass Krieg nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sein dürfe und dass der Konflikt nicht mit dem Mittel der Waffen entschieden, sondern mit Verhandlungen, Diplomatie und friedlicher Konfliktbearbeitung beendet werden könne. [20]

Doch der Appell an die Regierungen, den Krieg durch Verhandlungen zu stoppen, bleibt hilflos. Weder die westlichen Regierungen noch die ukrainische Regierung noch die russische Regierung sind gegen Verhandlungen. Da beide Seiten aber bestimmte Kriegsziele haben, werden Verhandlungen nur in einer Position der militärischen Stärke beziehungsweise Schwäche aufgenommen, die nicht mehr grundlegend zu ändern ist. Gegenwärtig (Mitte September 2022) lehnt zum Beispiel die Regierung der Ukraine Verhandlungen ab, weil ihre Truppen militärische Erfolge erringen.

Wenn der Krieg begonnen hat, wird die Position der Stärke/Schwäche durch den Erfolg/Misserfolg auf dem Schlachtfeld entschieden. Die sogenannte »Friedenslogik« ist ad acta gelegt.

Wie ist der zwischenimperialistische Krieg zu beenden? Durch wirtschaftliche Sanktionen?

Immer wieder wird die moralische Forderung erhoben: »Krieg darf nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sein«. Krieg ist im Kapitalismus aber die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, nämlich die wirtschaftliche Konkurrenz um Marktanteile, Rohstoffe, Arbeitskräfte auch mithilfe militärischer Mittel durchzusetzen – von der Waffenlieferung bis zum Krieg.

Die Friedensbewegung und DIE LINKE haben Waffenlieferungen an die Ukraine abgelehnt. Allerdings treten angesichts des Ukraine-Kriegs unter denjenigen, die sich selbst als Pazifist:innen verstehen, deutliche Differenzen auf. Da gibt es diejenigen, die für Waffenlieferungen, wenn auch mit ungutem Gefühl, eintreten, aus Solidarität mit der angegriffenen Ukraine, die nicht unter die russische Knute kommen soll.

Andere halten daran fest, dass Waffen keinen Frieden schaffen, und lehnen alle weiteren Waffenlieferungen mit guten Argumenten ab. Auch wenn sie den Krieg nicht als Krieg zwischen zwei kapitalistischen Klassenstaaten sehen, ihn also nicht nach seinem sozialen Charakter beurteilen, verteidigen sie ihre Prinzipien.

Wieder andere, wie zum Beispiel Jan van Aken, bis 2017 Bundestagsabgeordneter der LINKEN, und Thomas Schwoerer, Sprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DfG-VK) glauben, dass der Einsatz der militärischen Machtmittel ersetzt werden kann durch gewaltfreie Machtmittel, das heißt für sie: eine Verschärfung der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland.

Auch in der LINKEN gibt es eine heftige Diskussion über den Sinn und Unsinn von Wirtschaftssanktionen. So sprach sich Wulf Gallert, LINKE Sachsen-Anhalt, in einer Diskussion mit Christine Buchholz (Mitglied des Parteivorstandes) noch vor dem Parteitag im Juni für »wirksame Sanktionen« bei Energieimporten aus. »Nicht wir müssen uns der durch Putin angedrohten Drosselung der Exporte Russlands beugen, wir müssen den Hebel selbst in die Hand nehmen und unsere Importe so schnell wie möglich reduzieren«, betonte Gallert, auch wenn dies »nicht unproblematisch« sei. Es werde »auch zu sozialen Problemen führen, wenn die Mehrkosten für die Bevölkerung nicht durch Umverteilung von oben nach unten ausgeglichen werden, was aber unsere zentrale Forderung sein muss«. [21] Gallert stimmt also beim Einsatz der Sanktionswaffe der herrschende Klasse zu und verlangt dafür aber eine Kompensation, die dieser Staat aber keinesfalls leisten will. Im Gegenteil werden derzeit das Lohnniveau und der Lebensstandard der arbeitenden Klasse drastisch gesenkt – geradezu ein Glücksfall für das Kapital. Wirtschaftliche Sanktionen sind für sich genommen keine militärischen Gewaltmittel, sie sind aber seit langem Mittel der Kriegsführung zwischen Staaten (zum Beispiel die Kontinentalsperre Napoleons gegen Großbritannien, die Seeblockade Englands gegen den Kontinent im Ersten Weltkrieg bis zur russischen Blockade der ukrainischen Häfen im Schwarzen Meer). Die Sanktionen gegen Russland, die die USA, die EU und Deutschland direkt nach dem 24. Februar 2022 beschlossen und dann mehrfach verschärft haben, sind Sanktionen, die tief in die russische Wirtschaft eingreifen sollen und eingreifen. Der Ausschluss Russlands aus dem weltwirtschaftlichen Zahlungssystem SWIFT und der Ausschluss aus technologisch fortgeschrittenen Produktionszusammenhängen (dazu gehört auch der Rückzug vieler Großunternehmen aus Russland) schalten Russland aus der entwickelten Arbeitsteilung der Weltwirtschaft, insbesondere der internationalisierten Produktion, aus. (Die USA nutzten schon Mitte der 1980er Jahre mit der Veränderung der Cocom-Exportrichtlinien diesen Ansatz, um die Wirtschaft der UdSSR zu schwächen.) Schon einen Monat nach Kriegsbeginn wurden dann das Importverbot für russisches Öl angekündigt.

Das Versprechen, mithilfe von massiven Sanktionen den Krieg schnell zu beenden, wurde bisher nicht eingelöst. Es ist zu befürchten, dass der Krieg noch sehr lange dauert. Die Drohung, mit den scharfen Sanktionen Russland zu ruinieren (Außenministerin Baerbock) und Russland wirtschaftlich dauerhaft zu schwächen (Biden, Austin, Blinken), scheint jedoch einen gewissen Erfolg zu haben. Es gibt Untersuchungen über die Wirkung der Sanktionen [22], und Anfang September verkündete Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, stolz:

Russlands Finanzabteilung liegt im Sterben. Wir haben drei Viertel der russischen Bankenabteilung vom Zugang zu internationalen Märkten abgeschnitten. Fast 1.000 internationale Unternehmen haben das Land verlassen. Die Automobilproduktion ist im Vergleich zum Vorjahr um 75 Prozent zurückgegangen. […] Das russische Militär nimmt Chips aus Geschirrspülern und Kühlschränken, um militärische Ausrüstung zu reparieren, weil sie keine Halbleiterelemente mehr haben. Russlands Industrie wurde zerstört. […] Sanktionen werden dauerhaft sein. Dies ist eine Zeit der Ergebnisse für uns, nicht der Beschwichtigung. Das sollte sehr klar sein. [23]

Was von der Leyen und die anderen Regierungen nicht sagen, ist, dass der wirtschaftlich stärkere westliche Imperialismus mit der ökonomisch schweren Waffe Sanktionen einen scharfen Wirtschaftskrieg eröffnet hat. Die russische Führung reagierte mit der Drosselung und Abschaltung russischer Gaslieferungen nach Europa. Auch auf diesem Schlachtfeld des Krieges sind es die Arbeitenden und Armen, die die Kosten des Krieges zahlen.

Außerdem zeigen die Erfahrungen mit den Sanktionen gegen den Irak in den 1990er Jahren, gegen Iran, Kuba oder Nordkorea bis heute, dass sie die Regierungen der betroffenen Länder innenpolitisch oft eher stärken, als sie zum Einlenken zu zwingen. Diese Erfolglosigkeit von Sanktionen öffnet eine weitere Stufe zum Krieg – oder wie jetzt in der Ukraine – eine weitere Stufe in der Eskalation des Krieges. [24]

An der Realität vorbei: Entspannungspolitik und ein neues System kollektiver Sicherheit

Andere Forderungen, die in großen Teilen der Friedensbewegung und der LINKEN geteilt werden, sind keine Forderungen, die zur Beendigung des Ukraine-Krieges führen sollen. Sie sind für eine Zeit irgendwann nach diesem oder nach zukünftigen Kriegen gedacht, nämlich durch Verhandlungen ein neues »System kollektiver Sicherheit« zu realisieren.

Dahinter steht als Grundgedanke: Mit dem Ende des Kalten Krieges ist eine politisch multipolare Welt entstanden. Wenn die Regierungen dieser Staaten wirklich den Frieden politisch wollen und die Gemeinsamkeiten in ihren ökonomischen Interessen erkennen, wozu auch gehört, dass ihre Wirtschaft nicht durch Krieg zerstört wird, dann sind dauerhafte Vereinbarungen möglich, die den Frieden aufrechterhalten.

Diese Hoffnung, oder besser Illusion, vertrat schon Karl Kautsky, ein wichtiger Theoretiker der SPD, vor mehr als 100 Jahren. Kautsky ging zwar auch davon aus, dass im Kapitalismus die Expansion der Wirtschaft notwendig ist. Doch das war für ihn kein Element des Imperialismus. Der Imperialismus sei nur eine bestimmte Gewaltmethode der Expansion, die nicht von der ganzen kapitalistischen Klasse, sondern nur von kleinen kapitalistischen Gruppen (z.B. dem militärisch-industriellen Komplex) betrieben würde. Deshalb könne man erwarten, dass die Mehrheit der kapitalistischen Klasse zu überzeugen ist, sich in Zukunft gegen die imperialistische Gewaltpolitik zu stellen und auf der Grundlage gemeinsamer Interessen fähig ist, einen friedlichen
»Ultraimperialismus« zu schaffen. Kurz gefasst verstand Kaustky Ultraimperialismus als Möglichkeit einer Überwindung von imperialistischen Kriegen auf der Grundlage des modernen Kapitalismus. [25]

Schon der Ausbruch des Ersten Weltkriegs widerlegte Kautsky. Der Völkerbund, der nach dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde und das Ziel der friedlichen Konfliktbeilegung hatte, zerbrach sechs Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Der Zweite Weltkrieg endete mit im Zuge des Krieges entstandenen völlig veränderten wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnissen auf dieser Welt.

Die USA und die UdSSR waren zu Großmächten geworden, Großbritannien und Frankreich hatten ihre Großmachtstellung weitgehend verloren, Deutschland stand unter Kontrolle der Alliierten, konnte zwar wieder nach und nach seine Wirtschaftsmacht aufbauen, nicht aber eine entsprechende Militärmacht. Dieser Prozess begann erst nach der Wiedervereinigung.

Die UN, die 1945 gegründet wurde, konnte nie, wie geplant, eine eigene, den anderen Staaten übergeordnete Streitmacht bilden. Das war gegen die nationalen Interessen der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die die Vetomächte im UN-Sicherheitsrat stellten. Bis etwa 2010 war der UN-Sicherheitsrat, der in der UN-Sicherheitsarchitektur allein über den Einsatz militärischer Machtmittel entscheiden kann, zum Teil immerhin eine Art Clearingstelle zwischen den konkurrierenden kapitalistischen Nationalstaaten. Nach 2011 entwickelte er sich immer mehr zu einem sich gegenseitig blockierenden Gremium. Der einmal geschlossene zwischenstaatliche Vertrag von 1945 funktioniert nicht mehr.

Letztlich entscheidet die ökonomische und militärische Macht darüber, was geschieht: Blockaden im Sicherheitsrat werden umgangen, Entscheidungen von internationaler Tragweite werden auf Gipfeltreffen, in verschiedenen Staatenbünden oder durch Koalitionen der Willigen getroffen. Auch die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, übergegangen in die OSZE) funktioniert nicht mehr. Sie ist nicht wie die UN aus einem heißen Krieg, durch den die Machtverhältnisse zwischen den Nationalstaaten entschieden wurden, hervorgegangen. Aber sie ist ein Produkt einer bestimmten Zeit des Kalten Krieges, in dem sich das militärische Gleichgewicht zwischen den Supermächten geändert hatte, was eine Voraussetzung für die »Entspannungspolitik« war. Die KSZE wurde 1975 (in Helsinki) gegründet.

1957 hatte die UdSSR mit dem Abschuss des Sputniks gezeigt, dass sie Raketen entwickeln kann, die auch das Territorium der USA erreichen können. Unter diesem veränderten militärischen Gleichgewicht der Kräfte wurde die Kubakrise 1962 gelöst. Die UdSSR verzichtete auf die Stationierung von atomaren Mittelstrecken auf Kuba. Die USA bauten die von ihnen in der Türkei stationierten Raketen ab. Diese veränderte Machtverteilung führte nicht nur zu den SALT-Verträgen zur Rüstungsbeschränkung zwischen den USA und der UdSSR, sie machte es auch möglich, dass sich die BRD aus den sehr engen wirtschaftlichen Beziehungen zu den USA ein Stück weit lösen konnte. Die SPD begann ihre Politik des »Wandels durch Annäherung« mit den Erfolgen der »Ostpolitik« Anfang der 1970er Jahre (deutsch-sowjetisches Röhrengeschäft, Ostverträge, Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR).

Die Wende zu den 1970er Jahren war auch die Zeit, in der sich immer deutlicher abzeichnete, dass die Profite der privatkapitalistischen großen Industrienationen schrumpften. Das beschleunigte die Internationalisierung der Produktionsprozesse und weckte das Interesse an der damals möglichen »friedlichen« wirtschaftlichen Expansion in die osteuropäischen Staaten und die UdSSR. »Die Schlussakte von Helsinki […] bietet ein riesiges Panorama von Kooperations-Themen und Feldern«, stellte Wilfried von Bredow fest. [26]

Diese Kooperation, Bredow nennt sie antagonistisch, half den Staaten in Osteuropa und auch der UdSSR nicht, aus der krisenhaften Stagnation herauszukommen. Mit dem Sieg des westlichen Kapitalismus 1989/90 über die staatskapitalistische UdSSR begann der Zerfall der Weltordnung der Nachkriegszeit. Eine neue Weltordnung ist erst im Entstehen.

Wir erleben, wie wieder mittels »friedlicher« wirtschaftlicher Expansion und Kriegen ein neues Gleichgewicht der Kräfte gesucht wird. Nach dem Kalten Krieg ist wieder ein politisch multipolares Weltsystem kapitalistischer Nationalstaaten entstanden. Doch die wirtschaftliche Machtverteilung zwischen diesen Nationalstaaten ist sehr unterschiedlich. Sie ist hierarchisch. Die wirtschaftlich mächtigen imperialistischen Staaten wollen die Welt entsprechend ihren Interessen untereinander neu verteilen, wie in der Zeit der ersten Globalisierung vor und während des Ersten Weltkriegs.
Wir müssen davon ausgehen, dass es innerhalb dieses kapitalistischen Weltsystems auch heute keine Möglichkeit gibt, den Wunsch der Friedensbewegung, »die weltpolitische Weichenstellung« durch Diplomatie und Verhandlungen so zu beeinflussen, dass es zu einer Entscheidung zwischen »Konfrontation und Krieg oder Kooperation und Abrüstung« [27] durch die Propagierung der »Friedenslogik« kommt. Auch wenn es Zeiten der Kooperation zwischen kapitalistischen Staaten gibt, so ist damit Konfrontation und Krieg nie gebannt. Kapitalistische Staaten sind feindliche Brüder. Das ist die Realität.

Eine Neuorientierung der Friedensbewegung ist notwendig

In der Geschichte des Kapitalismus hat sich gezeigt, dass Friedenssehnsucht und Appelle an die herrschende kapitalistische Klasse keinen dauerhaften Frieden bringen, Kriege nicht verhindern oder beenden konnten. Die einzige Kraft, die in den letzten 105 Jahren Kriege beenden konnte, war die Arbeiterklasse, die es heute in jedem Land der Welt gibt.

Beim Umgang der Friedensbewegung mit dem Ukraine-Krieg zeigt sich besonders deutlich, dass mit einer nationalen, also durch die kapitalistischen Rahmenbedingungen bestimmten Orientierung keine überzeugende Antwort für den Kampf gegen diesen Krieg gegeben werden kann.

Ohne die russische Revolution und die Revolutionen in Deutschland und Ungarn hätte der Erste Weltkrieg noch länger gedauert, noch mehr Leben gekostet, noch mehr Verwüstungen gebracht. In diesen Revolutionen haben die Soldaten sich nicht nur geweigert, weiterzukämpfen; sie haben ihre Waffen auch auf diejenigen gerichtet, die die Befehle gaben, weiterzukämpfen.

Dieser »Krieg gegen den Krieg« entstand aber nicht nur aus den Elendserfahrungen auf den Schlachtfeldern. In Deutschland begann dieser Kampf mit lokalen Lebensmittelkrawallen von Frauen gegen die Brotrationierung Anfang 1915. Am 1. Mai 1916 hielt Karl Liebknecht eine Rede gegen den Krieg und wurde wegen Hochverrats verhaftet und zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Juni 1916 kam es zum ersten politischen Massenstreik in Berlin. Nach Hungeraufständen im Winter 1916/17 kam es im April 1917 zu Massenstreiks gegen die unzureichende Lebensmittelversorgung. An beiden Bewegungen waren sehr viele Frauen beteiligt, die in der Kriegsindustrie die Männer ersetzen mussten. Ende Januar 1918 kam es zu einem weiteren Massenstreik – allein in Berlin waren 150.000 Arbeiter:innen daran beteiligt. Die Forderungen lauteten: Frieden und Demokratie. Die Novemberrevolution 1918 beendete dann endlich den Krieg. Österreich-Ungarn erlebte ähnliche Entwicklungen. [28]

Auch der Vietnam-Krieg wurde nicht militärisch entschieden. Der Widerstand des Vietcong, in Form eines ausdauernden Guerilla-Kriegs, war wie die riesige Antikriegsbewegung in den USA und anderen westlichen Ländern für das Ende des Krieges 1973 wesentlich. Entscheidend war auch, dass massenhaft US-amerikanische Soldaten meuterten. [29]

Der Abzug der russischen Truppen Ende März 2022 aus dem Gebiet von Kiew ist sicherlich auch dem Widerstand belarussischer Eisenbahnarbeiter:innen zu verdanken, denn der Nachschub für die russische Armee ging über den Schienenweg in Belarus. Es kam zu verschiedenen Sabotageakten. Es wird geschätzt, dass es in den ersten zwei Monaten nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine mehr als 80 Sabotageaktionen gegeben hat. Eine wichtige Voraussetzung dafür war sicherlich die Erfahrung, die die belarussische Bevölkerung in den langen Kämpfen gegen Diktator Lukaschenko gesammelt hatte. [30]

In Deutschland müssen wir deutlich machen, dass wir die jetzige maßlose Teuerung dem Wirtschaftskrieg zwischen den westlichen Mächten und Russland zu verdanken haben. Auf die wirtschaftlichen Angriffe und militärischen Eskalationen von USA, GB, EU reagiert Russland mit dem Einsatz seines wirtschaftlichen Machtmittels: dem Energieboykott. Die Linke und die Friedensbewegung müssten dazu beitragen, dass sich die Ausgebeuteten und Unterdrückten aller Länder aus einer Position des Klassenkampfes von unten gegen Ausbeutung und Krieg wehren.

Die Antikriegsbewegung muss die Forderung »Russische Truppen – raus aus der Ukraine!« unterstützen. Durchgesetzt werden kann die Forderung nur durch eine russische Antikriegsbewegung in Zusammenarbeit mit einer noch aufzubauenden antikolonialen und antiimperialistischen ukrainischen nationalen Befreiungsbewegung. Als Linke dürfen wir nicht an der Seite unserer herrschenden Klasse stehen und den Abzug der russischen Truppen durch eine Eskalation der wirtschaftlichen und militärischen Gewalt erzwingen wollen. Eine deutsche Antikriegs-Bewegung kann zu einer Beendigung des interimperialistischen Ukraine-Krieges und dessen Umwandlung in einen nationalen Befreiungskampf beitragen, indem sie die Bundesregierung zwingt, ihre Waffenlieferung an die Ukraine und ihren Wirtschaftskrieg gegen Russland einzustellen.

Die Antikriegsbewegung, die Linke und Arbeiter:innen in jedem kriegsführenden oder kriegsbeteiligten Land müssen ihre Solidarität mit den Arbeiter:innen und Soldat:innen in der Ukraine und den russischen Arbeiter:innen und Soldat:innen zeigen. Dazu gehört auch, das Verbot der Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine und in Russland anzuprangern; sich gegen die Verschlechterung der Arbeitsgesetze in der Ukraine und das Verbot belarussischer Gewerkschaften zu stellen; oder dafür einzutreten, dass ukrainische und russische Deserteur:innen und Kriegsgegner:innen unbürokratisch in Deutschland aufgenommen werden.

In Deutschland müssen wir entschieden gegen die weitere Militarisierung der Außenpolitik kämpfen, wie sie mit der Aufrüstung und dem Ausbau der Bundeswehr geplant ist. Die Lohnabhängigen und Armen brauchen nicht 100 Milliarden Euro und einen massiv gesteigerten Verteidigungshaushalt, sondern 100 Milliarden Euro und mehr für Soziales und den Kampf für die Klimawende.
Dazu braucht es den Kampf der Gewerkschaften gegen die Teuerung statt einer »konzertierten Aktion« mit der Regierung und dem Kapital. Die Linke und die Antikriegsbewegung muss für diese Kämpfe argumentieren, sie unterstützen und fördern. Gleichzeitig brauchen wir Klarheit über den Charakter dieses Krieges als zwischenimperialistischen Konflikt. Wenn wir uns auf die Seite unserer herrschenden Klasse stellen, schwächen wir damit gleichzeitig die Arbeiterbewegung.

Der Hauptfeind steht im eigenen Lager

Der Ukraine-Krieg ist für uns in Europa der aktuellste und heißeste Schauplatz des Kräftemessens kleiner und großer imperialistischer Mächte. Er könnte zum Ausgangspunkt eines fürchterlich eskalierenden Konflikts werden. In den heutigen Auseinandersetzungen geht es nirgendwo um das Wohlergehen der Arbeiter:innen und Armen, weder in der Ukraine noch sonst wo. Es geht nicht um Demokratie, Freiheit oder ein Ende der grassierenden Armut, sondern um Macht und Profite, von denen die Masse der Bevölkerung nichts abbekommt, obwohl sie es erwirtschaftet und unter Einsatz ihres Lebens an der Front kämpft.

Das Interesse der Linken und Friedensbewegung können nicht die »Sicherheitsinteressen« der verschiedenen herrschenden Klassen sein. Das sind nur Wege zu noch mehr Kriegen.
Eine Lehre Rosa Luxemburgs lautete: »Jeder Versuch, in aktuellen außenpolitischen Konflikten eine Teillösung zu finden, führt notwendigerweise zur Parteinahme für einen der imperialistischen Staaten, in der Regel zur Verbrüderung mit der eigenen Bourgeoisie gegen andere Völker, zur Aufgabe des internationalen Standpunkts. Die Folge muss sein das immer tiefere Versinken im Nationalismus und schließlich in die Verstrickung in den imperialistischen Krieg.« [31]

Deswegen bleibt die Losung »Weder Washington, noch Moskau – für Arbeiterdemokratie und internationalen Sozialismus« entscheidend, um die Antikriegs-Bewegung wieder in die Offensive zu bringen und innerhalb der LINKEN für eine Position zu streiten, die sich dem Druck der Anpassung an den Mainstream widersetzt.


Dieser Text ist ein Auszug aus theorie21 Nr. 9/2022 »Imperialismus und der Kampf gegen Aufrüstung und Kriegspropaganda«.

Textsammlung:

Mit Beiträgen von Jürgen Ehlers, Rob Ferguson, Stefanie Haenisch, Sascha Radl, Lukas Sennecker, Horst Haenisch, Rosemarie Nünning

ISBN 978-3-947240-09-8

172 Seiten, 2022


Referenzen

[1] Und weiter heißt es: »Es gibt kein einziges rationales Argument, warum Russland eine Invasion planen könnte. 2. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion agiert Russland defensiv, die Nato dagegen offensiv.« Zeitung gegen den Krieg, 50. Februar 2022 (Büro für Frieden und Soziales). https://zeitung-gegen-den-krieg.de/wp-content/uploads/2022/02/zgk_50-01.pdf Nach dem 24.2. wurde diese Nummer der Zeitung gegen den Krieg zurückgezogen, am 27.2. veröffentlichte der verantwortliche Redakteur Winfried Wolf 15 Thesen zum Krieg des Kremls gegen die Ukraine und korrigierte damit die Fehleinschätzung.

[2] https://www.bmvg.de/de/aktuelles/bevoelkerungsumfrage-2020-so-steht-deutschland-zur-bundeswehr-5029586

[3] Umfragen von Forsa, Forschungsgruppe Wahlen und Infratest-Dimap ergaben am 2. März 2022 eine Zustimmung von 74%.

[4] Eine Umfrage im Auftrag des Stern ergab diese Zahl, ein gutes halbes Jahr später wurde die Tendenz in einer YouGov-Umfrage bestätigt: https://rp-online.de/politik/deutschland/mehrheit-will-schnelleren-abzug-der-bundeswehr_aid-14285069

[5] Auf einem Treffen auf der Luftwaffenbasis Rammstein am 26. April verabredeten die USRegierung mit den Verteidigungsminister:innen der Ukraine und weiterer Staaten, darunter Deutschland, die Waffenlieferungen an die Ukraine zu koordinieren. Die Kontaktgruppe zur Verteidigung der Ukraine tagt monatlich. https://www.tagesschau.de/inland/ukraine-waffenlieferungen-kontaktgruppe-101.html

[6] Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke 2, Berlin 1990, S. 525

[7] Siehe Haftendorn, H.: Sicherheit und Stabilität, München 1986

[8] Haftendorn, S. 233f

[9] Siehe S. 5 ihres Gründungsprogramms: https://cms.gruene.de/uploads/documents/1980_Grundsatzprogramm_Die_Gruenen.pdf

[10] Vgl. Haenisch, H.: »…Politik mit anderen Mitteln«, Hannover 1981

[11] Strutynski, P. in: Die veränderten Internationalen Bedingungen und die neuen Herausforderungen an die Friedensbewegung, http://www.ag-friedensforschung.de/bewegung/friedens-politik.html

[12] Siehe Ferguson, R. in dieser theorie21

[13] Siehe Beitrag »Nato nach 1989« in diesem theorie21

[14] Siehe hier zu dieser informative Broschüre von: Alexander, Anne (2022): Revolution – Krise und Aufstand im Nahen Osten und Nordafrika. Edition Aurora, Berlin

[15] Eine weitere Spaltungslinie, auf die nicht weiter eingegangen werden kann, war die Haltung zu den Muslimbrüdern und dem sogenannten »politischen Islam«. Dies führte dazu, dass Teile der internationalen LINKEN, die noch gegen die Diktatur Hosni Mubaraks in Ägypten standen, sich 2012 auf die Seite von Al Sisi stellten, als er die Repression gegen die Muslimbrüder organisierte

[16] http://christinebuchholz.de/2012/01/18/syrien-solidaritat-mit-der-revolution-nein-zu-westlicher-intervention/

[17] Junge Welt, 21.01.2012

[18] https://www.marx21.de/wp-content/uploads/2014/10/M21-Extra_Kobane_DRUCK.pdf

[19] Eine gute Analyse des Maidan-Aufstands findet sich in: Henning, K. (2017): Krieg im Osten. Die Ukraine zwischen Imperialismus, Nationalismus und Revolution. Edition Aurora, Berlin

[20] Damit ist nicht gemeint, dass es nach einer militärischen Entscheidung im Krieg Verhandlungen gibt, um das Ergebnis festzuhalten. Jeder Krieg wird mit Verhandlungen beendet

[21] https://www.presseportal.de/pm/59019/5255941

[22] https://www.stern.de/politik/westliche-sanktionen-schaden-russland-laut-fachleuten-massiv32660102.html

[23] https://technisch24.com/leben/laut-eu-wird-russlands-industrie-durch-sanktionen-ruiniert/

[24] Vgl. z.B., Eder, J. in: Zeitschrift Luxemburg 2/2021

[25] Siehe auch den Artikel von Radl, S. in dieser theorie21

[26] Bredow, W. von (1972): Der KSZE Prozess. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft

[27] Zeitung gegen den Krieg, Nr. 52

[28] Vgl. Müller, R. (2018): Geschichte der deutschen Revolution. Berlin: Buchmacherei

[29] Neale, J. (2004): Der amerikanische Krieg. Vietnam 1960–1975. Bremen: Atlantik/Neuer ISP

[30] Mehr Informationen bei Labournet: Der antimilitaristische Schienenkrieg in Russland– 
inspiriert von den Antikriegssabotagen aus Belarus, https://www.labournet.de/internationales/russland/politik-russland/der-antimilitaristische-schienenkrieg-in-russland-inspiriert-von-den-antikriegssabotagen-aus-belarus/

[31] Luxemburg, R.: 1911 Friedensutopien


Titelbild: Diego González