Berlinale: Kunst im Dienst der deutschen Politik?

Auf dem Filmfestival Berlinale bekundeten Künstler:innen und Publikum Solidarität mit den Palästinenser:innen. Mitglieder der Bundesregierung reagierten darauf mit unbegründeten Antisemitismusvorwürfen. Das löste weltweit Unverständnis und Empörung aus. Im Konflikt mit der Außenpolitik des deutschen Staates steht die Freiheit der Kunst auf dem Spiel. Von Ramsis Kilani

»Skandal« ohne Grundlage

»Was ist nur mit dieser Kunstszene los?«, poltert der deutsche Filmkritiker Rüdiger Suchsland im SWR und wirft der Berlinale-Preisverleihung »eine eklige Show aus Antisemitismus und Geschichtsvergessenheit« mit »antijüdischen und antiisraelischen Aussagen« vor. Einen ähnlichen Tenor schlägt der Rest der Medienlandschaft Deutschlands an. Das internationale Filmfestival hat die nationale Isolation des deutschen Diskurses schlagartig aufgebrochen und für eine regelrechte Panik in Presse und Politik gesorgt. 

Betrachtet man die auf der Berlinale gefallenen Aussagen, fehlt von tatsächlichem Antisemitismus jede Spur: Zahlreiche Künstler:innen trugen die Keffiye, das sogenannte »Palästinensertuch«. Jury-Mitglieder und Preisträger:innen hatten an ihrer Kleidung Zettel mit der Aufschrift »Waffenstillstand jetzt« festgemacht. Als der Dokumentarfilm »Direct Action« ausgezeichnet wurde, betonte dessen Regisseur Ben Russell mit einer um die Schultern gelegten Keffiye: »Natürlich stehen wir hier auch auf für das Leben. Waffenstillstand jetzt! Natürlich sind wir gegen den Genozid. Wir stehen in Solidarität mit all unseren Genoss:innen.« Das palästinensisch-israelisches Regisseur-Team des Films »No Other Land«, der die Siedlungspolitik in der Westbank behandelt, forderte demokratische Gleichbehandlung statt Apartheid und ein Ende deutscher Waffenlieferungen für Israels Massaker im Gaza-Krieg. Der palästinensische Regisseur Basel Adra begann mit den Worten: »Es ist sehr schwer für mich zu feiern, während Zehntausende durch israelische Angriffe auf Gaza massakriert werden und meine Dorfgemeinschaft in Masafer Yatta von israelischen Bulldozern ausgelöscht wird. Ich fordere Deutschland dazu auf, den Rufen der UN zu folgen und keine Waffen mehr nach Israel zu liefern.« Der israelische Journalist und Co-Regisseur machte auf die Unterscheidung zwischen den beiden aufmerksam: »Basel und ich sind gleich alt. In zwei Tagen kehren wir in ein Land zurück, in dem wir nicht gleichberechtigt sind. Ich lebe unter Zivilrecht, Basel unter Militärrecht. Ich habe Wahlrecht, Basel hat kein Wahlrecht.« Er fordert: »Die Apartheid zwischen uns, diese Ungleichheit, muss enden. Wir wollen Veränderung, ein Ende der Besatzung und eine politische Lösung.«

Politischer Tiefflug

Demgegenüber wirkt der mediale und politische Diskurs in Deutschland wie eine Parallelwelt. Selbst nachdem die relevantesten Menschenrechtsorganisationen der Erde in hundertseitigen Untersuchungen nachwiesen, dass Israel das Verbrechen der Apartheid begeht und der Internationale Gerichtshof (IGH) als wichtigstes Rechtssprechungsorgan der Vereinten Nationen (UN) den Genozid-Vorwurf an Israel als »plausibel« zum Gegenstand weiterer Untersuchungen annahm, stellen deutsche Medien und Politiker:innen entsprechende Aussagen regelmäßig als »antisemitisch« dar. Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) stand sofort unter Feuer der Bild-Zeitung, weil sie für die Dankesreden zum Film »No Other Land«, in denen der palästinensische Regisseur Basel Adra und dessen israelischer Co-Regisseur Yuval Abraham die Unterdrückung der Palästinenser:innen kritisierten, geklatscht habe. Ihr Ministerium behauptete daraufhin, ihr Applaus habe nur dem jüdisch-israelischen Regisseur gegolten, nicht dem Palästinenser, obwohl sie auch dem Apartheid-Vorwurf des Ersteren nicht zustimme. In einem Interview fügte sie hinzu: »Es gibt bei Linksradikalen diesen ekelhaften offenen Antisemitismus«. Der Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU) sprach von »antiisraelischer Propaganda« auf der Berlinale-Bühne. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) forderte »strafrechtliche Konsequenzen«. Auch Anne Helm (DIE LINKE), Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus von Berlin, sah »eine Grenze überschritten«. Für den Berliner Bürgermeister Kai Wegner (CDU) waren die Aussagen auf der Berlinale inakzeptabel, weil es keinen Antisemitismus in der Kunstszene geben dürfe. Wenige Tage zuvor verteidigte Selbiger noch die Gleichbehandlung und Einladung von AfD-Politiker:innen zur Berlinale, die durch Gegenprotest verhindert werden konnte.

»Fenster der freien Welt«

Die deutsche Kulturszene isoliert sich international. Schon Anfang des Jahres 2024 unterzeichneten 1600 Kunstschaffende, darunter über 400 aus Berlin, den Aufruf »Strike Germany«, der zum Boykott deutscher Kulturinstitutionen auffordert. Die deutsche Medienkampagne gegen die Berlinale-Preisgala schlug erneute Wellen. Die Familie des israelischen Regisseurs Yuval Abraham wurde von israelischen Faschisten in Reaktion mit dem Tode bedroht und musste fliehen. Internationale Medien wie der britische Guardian oder die israelische Tageszeitung Ha’aretz zitierten die Entgegnung Abrahams: »Als Sohn von Holocaust-Überlebenden auf deutschem Boden zu stehen und zu einem Waffenstillstand aufzurufen – und dann als antisemitisch abgestempelt zu werden, ist nicht nur empörend, sondern bringt auch jüdisches Leben buchstäblich in Gefahr«, sagte der israelische Regisseur dem Guardian. Und weiter: »Wenn dies Deutschlands Art ist, mit dessen Schuld am Holocaust umzugehen, dann rauben sie dem jede Bedeutung.«

Die Berlinale ist bei weitem nicht der erste Fall, in dem die deutsche Medien- und Politiklandschaft in Konflikt mit der internationalen Kulturwelt gerät. Weitere bekannte Beispiele der letzten Jahre waren die documenta in Kassel und der Eklat um die Ruhrtriennale 2018. Das Ausmaß deutscher Zensur und Ausladungen unter der Haube der deutschen Kulturszene wird umso gewaltiger sein. Nicht umsonst prangerten beträchtliche Teile des Kulturbetriebs mit der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit den Schaden an der deutschen Kunst- und Kulturszene durch die Bundestagsresolution gegen die BDS-Kampagne an. In Reaktion auf die Medienkampagne gegen die Berlinale warnte deren Leiter Carlo Chatrian: Deutsche Kulturinstitutionen seien »in großer Gefahr«. Er solidarisierte sich mit den Diffamierten und warf dem medialen und politischen Diskurs in Deutschland vor, den Antisemitismus-Begriff für politische Zwecke zu instrumentalisieren, um die Meinungsfreiheit einzuschränken. Ihm bleibe nur die Hoffnung, dass die Berlinale weiter ein »Fenster der freien Welt« bleiben könne, zu dem internationale Gäste erscheinen könnten. 

Staatsräson gegen die Welt

Deutsche Institutionen stehen vor dem Dilemma, dass der Kunst- und Kulturbetrieb sich als weltoffen und kosmopolitisch vermarkten will, die deutsche Staatsräson mitsamt der Gleichsetzung selbst der leisesten Kritik an Israel mit Antisemitismus aber damit in Dauerkonflikt gerät. Während die kritische Beschäftigung mit der israelischen Besatzung und die Solidarität mit Palästina in den USA und anderen Ländern der Welt in den letzten Jahren merklich bis in die Kunstwelt zugenommen hat, lässt die herrschende Klasse in Deutschland wenig unversucht, um die für ihre Interessen zentrale deutsche Staatsräson zur Verteidigung Israels mit Zensur und Kriminalisierung aufrechtzuerhalten. Das führt dazu, dass der öffentliche Diskurs in Deutschland mittlerweile ein nationales Eigenleben zu führen scheint, das immer wieder zu Angriffen auf in anderen Ländern übliche Positionen, insbesondere progressiver Künstler:innen, führt. Der Versuch, Deutschland in dieser Frage als isolierten Elfenbeinturm zu schützen, gerät vor allem in der global vernetzten Kunstwelt immer wieder an seine Grenzen. 

Die deutsche Kulturbranche steht unter massivem Druck: Sie muss zwischen dem Verlust internationaler Künstler:innen, staatlicher Zensur, politischer Instrumentalisierung und Medienhetze balancieren. Es ist davon auszugehen, dass die nächsten Skandale und Eklats im Stil der Berlinale und der documenta nicht lange auf sich warten lassen. Die Konflikte bieten Chancen, breiteren Schichten in Deutschland die zunehmende Isolation der national herrschenden Haltung zur Palästinasolidarität vor Augen zu führen und Teile von ihnen zu überzeugen, sich den inhaltlichen Argumenten zu öffnen und der internationalen Entwicklung nicht länger hinterherzuhinken.

Eine Befreiung aller auf dem historischen Gebiet Palästinas lebenden Menschen kann nicht das Ergebnis von Vermittlungen durch die Vertreter:innen und im Namen verschiedener Völker sein. Eine solche Vorstellung bedeutet in der Praxis nur die Fortsetzung des zionistischen Status quo. Der Aufstand gegen den Zionismus muss von den palästinensischen Massen geführt werden, zusammen mit einem Aufstand in der gesamten Region, in dem Sozialist:innen als Teil einer Organisation mitkämpfen und gleichzeitig ihre Eigenständigkeit bewahren. Ganz nach Marx, muss die Befreiung der Unterdrückten das Werk der Unterdrückten selbst sein. Unsere Aufgabe ist es, den Imperialismus der eigenen herrschenden Klasse in diesem Kampf zu schwächen.


Titelbild: Martin Kraft